FAZ 26. Juli 2010 - Von Dieter Bartztzko

Kleiner Schritt, große Wirkung: Ein Umbau in Frankfurts Zentrum setzt wegweisende Zeichen für den architektonisch sinnvollen Umgang mit der Stadtgeschichte.

Frankfurts Innenstadt ist ein brodelndes Labyrinth, in dem die Bauten fast im Jahrestakt steigen und fallen. Umso dankbarer ist man für Ruhepole. Zum Beispiel den Großen Hirschgraben, an dem Goethes Geburtshaus steht. Mit Ruhe im Sinne von Stille hat der belebte Straßenzug nichts zu tun. Viel aber mit der beruhigenden Kontinuität, die historische Bauten ausströmen. Dafür steht nicht nur das wiederaufgebaute Goethehaus selbst, sondern auch eine angrenzende Häusergruppe, dort, wo der Große auf den Kleinen Hirschgraben und die Weißadlergasse trifft. So wunderlich wie die aus alten Zeiten herübergeretteten Namen wirkt das Beieinander der Gebäude, das geschichtliche Episoden enthält, wie ein Zyniker sie nicht bizarrer hätte ausdenken können.

Eine betrifft die Bombennächte des März 1944, in denen Frankfurts Altstadt zerfetzt wurde. Während ringsum alles in Trümmer fiel, hielten die Häuser am Kleinen Hirschgraben stand - sie waren Werke der Nationalsozialisten, errichtet zwischen 1936 und 1940, wegen Baustahlmangels infolge der Aufrüstung solide gemauert und deshalb leidlich brandsicher.

"Altstadtgesundung" hatte der NS-Magistrat genannt, was eine brachiale Flächensanierung gewesen war, der viele kostbare Bürgerhäuser geopfert worden waren. Besonders radikal hatte die Spitzhacke rund ums Goethehaus gewütet. Dort war ein ganzes Quartier des sechzehnten Jahrhunderts niedergelegt worden. Ernst Beutler, der Direktor des Goethemuseums, hatte unter Hinweis auf den außergewöhnlich guten Erhalt des Viertels Einspruch gewagt. Vergeblich, denn der Grund für den vorzüglichen Bauzustand war derselbe, der das Areal zum Dorn im Auge der NS-Obrigkeit machte: Kneipenwirte und Bordellbesitzer hatten in die Pflege ihrer Häuser investiert und damit indirekt dafür gesorgt, dass das anrüchige Viertel nach 1933 auch Zuflucht für Gegner des Regimes wurde.

Auf dem planierten Gelände entstand die "Eckermannstraße", gesäumt von Mietszeilen. Sie waren ungewöhnlich sorgfältig gestaltet: Markige Konsolen, kantige Portallaibungen und weitere festungsartige Motive vertraten zwar das "heldische Bauen" der NS-Diktatur, doch frankfurttypischer roter Sandstein, Erdgeschossarkaden, Schieferdächer und Gauben verbanden die Neubauten geschickt mit den alten Bürgerhäusern ringsum.

Als im Sommer 1945 der zur Stadtlegende gewordene GI seine Kreidezeile "This was the house of Goethe" auf einen Sandsteinpfeiler der zerstörten Dichterstätte kritzelte, ragten hinter ihm die Häuser der Eckermannstraße fast unversehrt auf. Fünf Jahre später lief hier Frankfurts zweite Zerstörung ab: Erhaltene Erdgeschosse verschwanden, der geschwungene Verlauf des Hirschgrabens wurde rabiat begradigt und mit nichtssagenden Zeilen bebaut, die untere Hälfte der Straße kappte man für eine neue Ost-West-Achse. Seither lungert an dieser Bruchstelle ein plumper Betonklotz, der immerhin den Blick auf den gähnenden Rachen eines Straßentunnels verstellt, der die Umgebung in den Abgrund zu saugen scheint - ein Paradebeispiel vom Wirtschaftswunderglauben verblendeter Verheerung.

Wie hier regierten "Zufall und Willkür", die schon Goethe in seinen Jugenderinnerungen zum Grundmotiv der Architektur in Frankfurt erklärt hat, auch am oberen Ende des Hirschgrabens: 1947 vollendete man dort nach den Plänen der dreißiger Jahre ein Eckhaus mit Steilgiebel und halbrunden Erdgeschossarkaden. Ihm gegenüber stand ein ausgebrannter palaisartiger Gasthof der Barockzeit, der 1960 einem Parkhaus weichen musste. Vor dem neuen Koloss wirkte das Eckhaus plötzlich wie ein zerbrechliches Relikt. Dass man damit der Nazipropaganda, die das Regime zum Hüter der Tradition verklärt hatte, einen nachträglichen Sieg schenkte, kam den fanatischen Modernisten nicht in den Sinn.

Die Häuser von 1938 überstanden auch diese zweite Zerstörung. Mit Läden für Sammler und Sonderlinge samt einem plüschigen Rentner-Café bildeten sie eine skurrile Insel im Betonmeer. Hier war oft die Rede von der Geschichte des Viertels und der seiner Bauten. Wer sie kannte, sah die Bauten mit anderen Augen, schloss sie ins Herz. Jede Stadt hat solche Viertel und solche Geschichten. Was sie bewirken, wird mit der kühlen Formel genius loci zusammengefasst.

Hüter des Frankfurter genius loci und wie aus der Zeit gefallen, wurden die zufällig geretteten Giebelhäuser am oberen Ende des Hirschgrabens zum stimmigen Empfang für die Besucher des Goethehauses. Eine Generation später, Patina hatte die heldische Starre der NS-Zeit längst abgeschliffen, entdeckten die Enkel der Wiederaufbauer auf der Suche nach der Identität der Stadt das Areal; Clubs, Kneipen und biobeflissene Cafés folgten den Stätten der Käuze. Der Vitalitätsschub machte in jüngster Zeit Urbanisten aufmerksam. So erlebt das Quartier derzeit die vierte Umgestaltung. Sie begann mit dem Parkhaus. Zuvor ein beleidigend banaler Rundling des Betonbrutalismus mit blinden Scheiben über Elefantenfüßen, erhielt es 2009 eine changierende, kräftig strukturierte Klinkerverkleidung, Neuverglasung, lichte Arkaden und offene Erdgeschosse samt Straßen-Café und Bar; aus dem Rammbock wurde eine geschmeidige Dominante. Ein feinfühliger Umbau also genügte, um aus einem toten Winkel einen belebten Treffpunkt zu machen.

Mit vergleichbarem Erfolg hat man auch bei der Altbaugruppe am Hirschgraben die stupide Grundregel von Abriss und Neubau als Allheilmittel durchbrochen. Dort ist das ehemalige westliche Eckhaus der Eckermannstraße saniert worden, die 1951 durch Überbauung zu einem Stumpf verstümmelt wurde, der sich später zu einem intimen Platz entwickelt hat. Wie er fiel auch das Eckhaus bisher kaum auf. 1951 notdürftig instand gesetzt, trug es, charakteristisch für die Zeit und ihre Scheu vor den als völkisch verschrieenen Steildächern, ein unscheinbares Walmdach. Seit kurzem ist es durch ein hohes Satteldach mit verglastem Dreiecksgiebel ersetzt worden, der von zwei hohen Fenstern und einer Balkonbrüstung sowie einem mittigen (Fahnen?-)Mast unterteilt wird. Die nördliche Traufseite trägt zwei neue breite Gauben, die man mit einigem Wohlwollen Zitate der einstigen Frankfurter "Zwerchhäuser" nennen kann, das nach historischem Vorbild eingezogene Erdgeschoss und die auskragenden Obergeschosse sind lichtgrau verputzt, unter einem umlaufenden Vordach ist Platz für ein Sommerlokal.

Wer näher hinschaut, wird zunächst mit dem gewohnten Ärger über die Scheuklappen heutiger Architekten feststellen, dass der prägende Rotsandstein verschwunden ist, wird sich - das Nachbarhaus zeigt, wie viel Altstadtanmutung damit erzeugt wird - Sprossen statt der plumpen zweigeteilten Standardfenster wünschen und sich fragen, weshalb das Dach statt ortstypischen schimmernden Schiefers stumpfe "Frankfurter Pfannen" erhalten hat.

So gesehen mehr Musterexemplar für Baumärkte als architektonisches Meisterwerk, lässt das sanierte Haus trotzdem aufatmen. Denn auf einmal scheint der verschwundene Zauber der Altstadt zum Greifen nah: Die neuen Umrisse des Hauses vervollständigen ein Ensemble, das mit Giebeln, Winkeln, Durchgängen und maßvollen Proportionen eine bergende städtebauliche Einheit bildet, intim, ohne zu beengen, einladend, ohne aufdringlich zu sein. So wächst die Hoffnung, dass zwischen Dom und Römer das bundesweit gespannt beobachtete Vorhaben gelingen könnte, in einer subtilen Mischung aus Rekonstruktionen und Neubauten ein Altstadtquartier zurückzugewinnen.

Schon mit einfachsten Mitteln, das zeigt das Ensemble am Hirschgraben exemplarisch, lassen sich die Intimität, Feingliedrigkeit und Vielfalt erreichen, die einmal die europäische Stadt und im konkreten Fall das ausradierte alte Frankfurt ausmachten. Vorausgesetzt, Architekten sind bereit, die Ignoranz und Selbstgefälligkeit hinter sich zu lassen, die seit 1945 das Gros des Berufsstands kennzeichnet.