Debatte um historische Rekonstruktion in Berlin - Soll die Brache am Fernsehturm nach historischem Vorbild bebaut werden? Über eine weitere Umgestaltung wird diskutiert. Eine Initiative hat genaue Vorstellungen.
Der Tagesspiegel vom 19.01.2016 - von Ralf Schönball

Was sind sie nicht alles geschimpft worden: Gefolgsleute von Senatsbaudirektorin Regula Lüscher, Ostberliner Alt-Linke, geschichtsvergessene Modernisten. Dabei sind sie einfach nur: Bürger – aber solche, die für ihre Stadt brennen. Und deshalb treten sie, berufliche Verpflichtungen hin oder her, sogar an einem Arbeitstag in Mannschaftsstärke an, um ihre Vorstellungen zur Gestaltung der hart umkämpften historischen Mitte vorzustellen. Aber wer verbirgt sich hinter der „Initiative Offene Mitte Berlin“?

Ex-Sozialsenatorin Carola Bluhm (Linke), Juristin Verena Sich, Reiseleiter Peter Born, Architektenkammer-Vizechefin Theresa Keilhacker, Stadtplaner Steffen Pfrogner, Journalist Matthias Grünzig zum Beispiel. Und alle schön auf Linkskurs eingeschworen? „Parteilose und Mitglieder von vier Parteien“, pariert Bluhm die Attacke. Und um gleich das nächste Klischee abzuklopfen, wonach nur Ossis die Brache am Fuße des Fernsehturms als einladenden Ort wahrzunehmen vermögen, sagt Pfrogner aus Potsdam, dass sie keineswegs alle aus dem Ostteil der Stadt kämen, sondern „aus dem Metropolenraum“. Da müssen am runden Tisch auch Wessis wie Theresa Keilhacker lachen.

Der Ort muss sich verändern
Gefunden und verbunden haben sie sich während des öffentlichen Forums von Senatsbaudirektorin Regula Lüscher zur „Alten Mitte“. Ihr gemeinsamer Nenner: der offene, öffentliche Raum bietet heute schon Platz für verschiedene gesellschaftliche Gruppen. Im Sommer badeten Kleinkinder in den Wasserbecken, Senioren dösten auf den Bänken im Schatten der Bäume am Marx-Engels-Forum, Touristen und Skater drehten ihre Runde, Volleyball-Spieler grätschten den Ball, ein Prediger bringe Jugendlichen Gott näher. „Deshalb macht es uns wütend, wenn dieser Ort erst nicht gepflegt und anschließend denunziert wird“, sagt Bluhm.

Alles gut, das ist es also nicht: „Natürlich muss sich dieser Ort verändern“, sagt Verena Sich: vielfältiger soll er werden und schöner – aber keinesfalls durch einen großen Wurf wie das Wasserbecken, das Architekten vor dem roten Rathaus im Auftrag der Senatsbaudirektorin gezeichnet hatten. Nicht ein einheitlicher Ort müsse entstehen, sondern mehrere Orte, die unterschiedlich genutzt werden.

Vor dem Roten Rathaus könnte zum Beispiel Platz für Versammlungen und politische Debatten geschaffen werden. Der Pavillon unter dem Fernsehturm könnte wieder ein Ort der Kunst werden. Und warum nicht den Vorschlag der Stiftung Zukunft um Ex-Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer prüfen, wonach das Marx-Engels-Forum zu einem „Philosophen-Hain“ erweitert wird?

Neubauten sind keine Lösung
Da hat sich wohl das Gebot der Senatsbaudirektorin ausgewirkt, den Ort aus der Sicht der Nutzer und Nutzungen zu beschreiben und weiterzuentwickeln, um ihn sich so durch die Bürgerschaft anzueignen – begleitet von einem „Bilderverbot“, also dem Verzicht auf nostalgische historische Aufnahmen in der stadtweiten Debatte. Dass „systematisch runtergerockte“ städtische Räume durchaus mithilfe kleinerer landschaftsgärtnerischer oder städtebaulicher Eingriffe gerettet werden können, weiß Keilhacker von der Architektenkammer.

Am Leopoldplatz im Arbeiterkiez Wedding sei das gelungen: Drogenszene, Punks, Alkis und ganz viele Familien – jeder habe nun einen Platz an diesem Ort. „Dazu muss man viel reden, mit allen Gruppen, aber das Verfahren zeigt Wirkung und könnte hier auch angewandt werden“, sagt Keilhacker. Alle sollen teilhaben, niemand verdrängt werden.

Neubauten sind dagegen keine Lösung, davon ist das Team „Offene Mitte“ überzeugt. Dass zurzeit die Brache zwischen Bahnhof Alexanderplatz und Marx-Engels-Forum vor allem durch Gewaltexzesse und Trinkgelage berüchtigt ist, führt Steffen Pfrogner auf mangelnde Pflege zurück: „Wer sich nur ein Mal im Jahr wäscht, hat auch so seine Probleme“ – unter mangelnder Pflege leide eben auch das Rathausforum. Aber jetzt, wo Berlin wirtschaftlich erstarkt und den Haushalten von Land und Bezirken Überschüsse beschert, seien die Mittel da, um den Ort aufzupolieren.

Viele kleine Eingriffe schlagen sie vor
Die Eigentumsverhältnisse könnten außerdem dazu beitragen. Denn die Hochhauszeilen am Rande des Platzes gehören landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften. Und was kaum jemand weiß: Die Wohnscheiben am Rathausforum haben weitläufige Terrassen auf dem Dach der unteren Gewerbeetagen. Diese könnten für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, sodass die Bürger auf einer Empore mit Blick auf das Treiben am Stadtplatz entlangflanieren könnten.

Viele kleine Eingriffe schlagen sie also vor, um eine Vielfalt von Plätzen und Orten für alle zu schaffen. Sie sind überzeugt, eine Mehrheit von Berlinern hinter sich zu haben gegen Neubauten, ähnlich wie am Tempelhofer Feld. Was zu beweisen wäre, aber immerhin haben sie bei Lüschers öffentlichem Forum zur Alten Mitte die Abstimmung klar für sich entschieden: Nur 14 Prozent hätten dort für eine Rekonstruktion des historischen Stadtgrundrisses und Neubauten gestimmt, wie sie etwa die Gesellschaft historisches Berlin oder die Planungsgruppe Stadtkern Berlin befürworten.

In der SPD gehen Meinungen auseinander
Repräsentativ ist das natürlich nicht. Aber es ist auch nicht das, was der Senat immer schon haben wollte – erklären sie jedenfalls. In der SPD gehen die Meinungen auseinander. Während Parteichef Jan Stöß sich für eine Bebauung starkgemacht hatte, will Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) einen städtebaulichen Architekturwettbewerb ausloben. Bei der CDU hatte der städtebauliche Sprecher Stefan Evers Sympathien für eine historische Rekonstruktion des Stadtgrundrisses geäußert.

So oder so, jetzt werden erst mal die Empfehlungen aus Lüschers öffentlichem Forum unter Beteiligung von 12000 Berlinern dem Abgeordnetenhaus zur Abstimmung vorgelegt werden. Sollten diese tatsächlich den Rahmen für den Wettbewerb in diesem Jahr geben, haben die Verfechter einer „Offenen Mitte“ allen Anlass zur Zuversicht: Neubauten und die Rekonstruktion der historischen Mitte gelten darin als „Minderheitenvotum“.

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