Wie lange müssen wir uns noch hässliche Betonfassaden anschauen? Lübeck und Frankfurt setzen einen neuen Trend: Langsam begreifen Architekten wieder, wie wichtig die Schauseite eines Gebäudes ist.
Die Welt vom 14.05.2016 - von Rainer Haubrich

Wenn Architekten ihre eigenen Entwürfe beschreiben, so lehrt die Erfahrung, ist Vorsicht angebracht. Ein Baumeister sagt beispielsweise über die Fassade seines Gebäudes, sie nehme den Charakter der Straße "auf zeitgenössische Weise" auf, in ihrer "Materialität" bilde sie einen "spannungsreichen Kontrast" zu den angrenzenden Häusern, sie zeige zudem ein "feines Relief", und der Rhythmus der "Wandöffnungen" spiegele "konsequent" die Anordnung der Räume dahinter. Trotz dieser wohlklingenden Architektenprosa kann es passieren, dass wir nach der Fertigstellung des "Projektes" vor einer kahlen Sichtbetonfassade mit schmalen Fensterschlitzen stehen. Der interessierte Laie mag sich dann ernüchtert abwenden – das Bauwerk hätte dennoch alle Chancen, in der Fachpresse hoch gelobt und mit einem der inzwischen unzähligen Architekturpreise ausgezeichnet zu werden.

Kopfschütteln über Friese und Erker
Wenn aber ein Architekt der jüngeren Garde an Berlins Kurfürstendamm ein Geschäftshaus in klassischem Architekturvokabular baut, mit einer massiven Fassade aus hellem Jurastein, mit Erkern und Balkonen, Gesimsbändern und Satteldach, gar einem Fries von Akanthusblättern über dem hohen Eingangsportal – dann kann er sicher sein, von der großen Mehrheit seiner Zunft befremdetes Kopfschütteln zu ernten, von irgendeiner Auszeichnung ganz zu schweigen. Fast alle Passanten dürften dagegen einen dankbaren Blick zum Himmel schicken: Endlich eine Neubaufassade, auf der das Auge mit Wohlgefallen ruht, wo es Details zu entdecken gibt. Sie wird auch in fünfzig Jahren noch höchst ansehnlich sein, wenn der Enkel des Bauherrn das Haus in der Hauptstadt erbt. Die Entwurfswelten vieler Architekten sind auch fast 100 Jahre nach der Gründung des Bauhaus immer noch ziemlich weit entfernt von den Lebenswelten eines Großteils der Bürger. Allein schon über "Fassaden" zu reden, bereitet manchen Baumeistern Unwohlsein. Da ist das Wort vom "Fassadismus" nicht weit oder der Vorwurf der "Kulissenarchitektur", der es doch nur um den schönen Schein gehe, während modernes Bauen vor allem eine Funktion zu erfüllen habe, sozial sein müsse und auch technologisch innovativ.

Dortmund als Thinktank
Aber die Fassade eines Gebäudes ist das Gesicht, mit dem es sich dem öffentlichen Raum präsentiert, und dieses wirkt auf viel mehr Menschen als nur auf jene, die ein Haus betreten oder selbst nutzen. Ob Architektur den Betrachter überzeugt oder eher abstößt, das entscheidet sich auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch vornehmlich an der Fassade. "Gesichtslos" ist nicht umsonst eines der meistgebrauchten Worte, wenn es um Kritik an Neubauten geht. Man kann deshalb das Dortmunder Institut für Stadtbaukunst gar nicht genug preisen, dass es seine jährliche "Konferenz zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt" einmal ausschließlich dem Thema der Fassade widmete. Seit Jahren geht der von Christoph Mäckler und Wolfgang Sonne geführte Thinktank mit Zähigkeit der Frage nach, auf welche Weise Architektur und Städtebau heute neben allen funktionalen Anforderungen auch wieder eine Schönheit hervorbringen können, wie sie allen Epochen der Baukunst bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gelungen ist (und in deren vormodernen Quartieren die meisten Architekten am liebsten wohnen – auch wenn sie auf diesen Widerspruch nicht gern hingewiesen werden).

Neue Fassadenkunst
Wann hat man zuletzt so komprimiert über so viele konkrete Beispiele von Fassadenkunst in Deutschland gesprochen wie bei dieser jüngsten Tagung in Düsseldorf? Und wann hat man neben dem aktuellen Mainstream von Stahl und Glas, von Stäbchenmuster und Fensterbändern so viele Beispiele einer neuen traditionsorientierten, handwerklichen Fassadenkunst gesehen? Eine der erstaunlichsten Baustellen in dieser Hinsicht ist derzeit das Gründungsviertel in Lübeck. Während die meisten historischen Quartiere der Hansestadt glimpflich durch den Zweiten Weltkrieg kamen, wurden die Strassenzüge westlich der Marienkirche schwer getroffen. Beim Wiederaufbau stellte man hier die Riegel einer Schule quer über die einstigen Parzellen. Jüngst entschied sich die Stadt, diese Gebäude abzureißen, um an ihrer Stelle die historischen Strassenzüge wieder herzustellen mit einer Bebauungsstruktur, die sich am charakteristischen Muster des Unesco-Weltkulturerbes Lübecker Altstadt orientiert: mit schmalen Giebelhäusern unterschiedlicher Breite und einem rückwärtigen Innenhof. Private Bauherren sollen jeweils nur eines der Grundstücke mit Häusern bebauen, die einem gemeinsamen Kanon folgen, wie er in einem 60-seitigen Gestaltungsleitfaden formuliert wurde.

Man sehe und staune
Dieser verlangt unter anderem eine Dreiteilung der Fassaden in eine 4,50 Meter hohe Erdgeschosszone, eine Mittel- und eine Dachzone, fordert eine plastische Durchbildung, die Verwendung von Ziegeln oder Putz (im Erdgeschoss auch Naturstein oder Sichtbeton) und eine limitierte Palette von Farben. Wer jetzt "Monotonie" und "Retro" ruft, der möge sich einmal die Ergebnisse des europaweit ausgeschriebenen Architektenwettbewerbs anschauen. Was für eine Vielfalt in der Einheit, welche Nuancen im Detail sind hier zu bestaunen! Zahlreiche Varianten bieten allein schon die Ziegelmauern: Der Farbton der Steine darf von Rosérot über Dunkelrot bis Rotbraun reichen, sie können als wilder Verband versetzt werden oder als Läuferverband, bündig verfugt sein oder zurückgesetzt, die Farbe des Mörtels soll sich zwischen Weiß und Dunkelgrau bewegen – oder das Mauerwerk wird "geschlämmt", wie das in Lübeck verbreitet ist. Solche fest gefügten Fassaden betrachtet man nicht nur gern, sie laden dazu ein, berührt und ertastet zu werden.

Modell Frankfurt am Main
Schon Jahre vor der Hansestadt wählte man in Frankfurt am Main einen ganz ähnlichen Weg bei der Wiedergewinnung eines Teils der historischen Altstadt – ebenfalls gegen den massiven Widerstand von Architekten und Kritikern. Auch im Herzen der Bankenmetropole stand am Beginn der Abriss: Das grobschlächtige Technische Rathaus aus Betonfertigteilen verschwand (über das Fiasko dieses Nachkriegsungetüms wird bei den Modernisten vornehm geschwiegen), um an dessen Stelle eine kleinteilige Neubebauung entlang der einstigen Straßen und Gassen zu errichten. In einem vielstufigen Prozess wurde der Plan für ein Ensemble entwickelt, das teils aus Rekonstruktionen besteht, teils aus Neubauten in traditionellem Vokabular, teils aus modernen Interpretationen des historischen Frankfurter Altstadthauses. Manche namhaften Architekturbüros haben sich innerhalb dieses beispielhaften Projekts von Stadtreparatur erstmals überhaupt mit den Elementen traditioneller Fassaden im kleinen Maßstab beschäftigt. Und auch hier erweist sich eindrucksvoll, dass ein Reichtum an Formen und Farben möglich ist und dennoch das Ganze zu einer großen Geschlossenheit findet. Die genannten Neubauten in Lübeck, in Frankfurt am Main oder am Kurfürstendamm in Berlin besitzen fast alle eine Typologie, einen Charakter, eine Temperatur, die erkennen lassen, ob sie an einem Großstadtboulevard stehen oder in einer schmalen Straße, ob sie eher nach Norddeutschland gehören oder ins Rhein-Main-Gebiet. Sie bringen eine Verbundenheit, ja, eine Liebe der Erbauer und Nutzer zu ihrem Ort, ihrer Stadt, ihrer Region zum Ausdruck. Und über sie lässt sich nicht sagen, was so häufig an Neubauten kritisiert wird, nämlich dass sie austauschbar seien und ebenso in Stuttgart, in London oder in Los Angeles stehen könnten.

Ein Albtraum für Modernisten
Für gläubige Modernisten ist das alles ein einziger Albtraum. Wie auch bei der Konferenz in Düsseldorf zu beobachten war, führen sie einen erbitterten Abwehrkampf gegen die "Ketzer", gegen den in ihren Augen "restaurativen" Trend in der Architektur unserer Zeit. Sie können nicht anders, als ihn politisch zu lesen. Dabei geht es vor allem um die Restauration von handwerklicher Qualität, von sprechenden Details, von Alterungsfähigkeit, es geht um die Anbindung heutiger Architektur an eine jahrhundertealte Bautradition, die von der Moderne entsorgt worden war. Die neue klassische Fassadenkunst hierzulande ist eine Antwort auf das Elend aktuell

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