Von Berlin bis Duisburg: In Deutschland wird rekonstruiert wie seit der Nachkriegszeit nicht mehr. Überall kehren historische Bauwerke ins Stadtbild zurück.
Die Welt vom 11.06.2014 - von Reiner Haubrich

Dieser Tage hat man den Eindruck, das Bauen hierzulande werde sich künftig nur noch um Wohnungen für Flüchtlinge drehen. Aber das will nicht einmal die Bundesbauministerin von der SPD: Bloß keine Migrantensiedlungen, sagt Barbara Hendricks zu Gettos und schüre den Neid all jener, die auch eine günstige Wohnung suchen. Insiderdebatten über die Gestaltung von Flüchtlingsheimen sind vermutlich nichts, wofür sich die große Mehrheit der Menschen begeistern kann.

Die einzige Architekturbewegung, für die sich unzählige Bürger engagieren, für die von Kleinsummen bis zu Millionenbeträgen sehr viel Geld gespendet wird – das ist der Wiederaufbau historischer Bauwerke. Das prominenteste Beispiel drängt an diesem Wochenende wieder in die Nachrichten: Beim Berliner Schloss/Humboldt Forum finden die jährlichen "Tage der offenen Baustelle" statt. Im vergangenen Jahr wurden mehr als 50.000 Besucher innerhalb von zwei Tagen gezählt. Drei Jahre nach dem Richtfest liegt das Projekt im Plan, der Rohbau steht, die barocken Fassaden sind zu drei Vierteln fertig, und von den dafür benötigten 80 Millionen Euro an privaten Spenden gingen schon über die Hälfte ein – das ist mehr, als man für die Dresdner Frauenkirche bei vergleichbarem Baufortschritt eingesammelt hatte.

Die wundersam wiedererstandene Altstadt in Dresden und der zurückgekehrte Kubus der Hohenzollernresidenz in der Hauptstadt sind die bekanntesten Beispiele einer großen Zahl von Rekonstruktionen, die in ganz Deutschland entstanden sind und noch entstehen. Zwischen Freiburg und Wismar werden sie von Bürgern mit großem Elan und aus einer tiefen Verbundenheit zu ihrer Stadt vorangetrieben. Und die Liste der Projekte wird jedes Jahr länger.

Engagierte Bürger treiben Projekte voran
Braunschweig rekonstruierte sein Schloss genauso wie Hannover das klassizistische Sommerpalais in den Herrenhäuser Gärten. Potsdam den Wiederaufbau des Stadtschlosses von Friedrich dem Großen vollendet und wird die Randbebauung des angrenzenden Alten Marktes wiederherstellen, auch die barocke Garnisonkirche soll zurückkehren. München schloss eine jahrzehntelange Nachkriegslücke in der Maximilianstraße mit einer Rekonstruktion. Selbst Frankfurt am Main, das stolz ist auf seine moderne Skyline, rekonstruierte das barocke Palais Thurn und Taxis sowie die klassizistische Stadtbibliothek, und es baut die Altstadt zwischen Dom und Römerberg wieder auf. Jüngstes Beispiel ist der geplante Wiederaufbau des Mercator-Hauses in Duisburg. Bei Bauarbeiten für einen modernen Neubaukomplex in der ausradierten Altstadt fand man Kellergewölbe des Hauses, in dem der weltberühmte Kartograf Gerhard Mercator gewohnt hatte. Engagierte Bürger warben für eine Rekonstruktion, entwickelten ein Nutzungs- und Finanzierungskonzept und überzeugten eine Mehrheit im Stadtrat. Nun werden die Pläne so Harte Zeiten für Anhänger moderner Architektur geändert, dass bald ein kleines Gebäudeensemble an den großen Sohn Duisburgs erinnert.

Das Muster ist überall gleich
In der Altstadt von Lübeck, die zum Unesco-Weltkulturerbe zählt, soll das Gründerviertel westlich der Marienkirche wiederaufgebaut werden. Auf dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Areal hatte man in den 50er-Jahren die Riegelbauten einer Schule quer über die einstigen Parzellen gestellt. Sie wurden jüngst abgerissen, um an ihrer Stelle die historischen Strassenzüge mit neuen Giebelhäusern wiederherzustellen. Strenge Gestaltungsvorschriften sollen dafür sorgen, dass die Neubauten dem Charakter der Hansestadt entsprechen und bei aller Vielfalt im Detail eine Einheit bilden.

Das Muster ist fast überall gleich: Es gründet sich eine Bürgerinitiative, Denkmalpfleger und Architekten sprechen sich gegen das Projekt aus, dann erreicht es die Politik – und am Ende setzen sich in den meisten Fällen die Bürger mit Überzeugungskraft gegen anfangs übermächtig erscheinende Widerstände durch. So war es auch in Nürnberg beim berühmten Pellerhaus. Inzwischen sind die Altstadtfreunde bei der privat finanzierten Rekonstruktion des Innenhofes weit fortgeschritten. Jetzt wollen sie auch die Fassade des Renaissancebauwerks rekonstruieren. Der historische Sockel ist noch erhalten, aber darüber erhebt sich eine sachliche Fassade aus der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg, die abgerissen werden müsste – obwohl sie als typisches Beispiel der 50er-Jahre unter Denkmalschutz steht. Ein exemplarischer Konflikt.

"Zeitgenössische Interpretation"
In Dortmund wurde der Adlerturm der alten Stadtbefestigung wiederaufgebaut, in Rosenheim erstanden die Gründerzeitfassaden des Gillitzer-Blocks wieder, in Wesel die Fassade des prächtigen spätgotischen Rathauses. In Freiburg war die Rekonstruktion des berühmten Andlauschen Hauses hinter dem Münster von der katholischen Kirche bereits beschlossen, bevor man durch den Bauskandal in Limburg ähnliche Kritik an den Kosten fürchtete und das Projekt auf Eis legte. Nicht immer setzen sich die Anhänger von Rekonstruktionen durch, es gibt Städte, die dem Trend nicht folgen – auch wenn sie inzwischen die Ausnahme sind. Die Initiative für den Wiederaufbau der Ulrichskirche in Magdeburg unterlag in einem Bürgerentscheid, bei dem 76 Prozent dagegen votierten.

In Leipzig hätten viele gern die gotische Paulinerkirche rekonstruiert, stattdessen entschied man sich für eine "zeitgenössische" Interpretation des Bauwerks. Der bizarre, bläulich-silbern schimmernde Neubau ist allerdings eher eine Werbung für originalgetreue Reproduktionen. Deshalb wünschen sich in Rostock viele Bürger für die anstehende Bebauung der Nordseite des Neuen Marktes eine traditionsorientierte Architektur, eine Initiative wirbt außerdem für den Wiederbau des Petritores. In Wismar wurde die Fassade des historischen Reuterhauses wiederhergestellt, in Pirna das Kernsche Haus. In Weimar hat man die Häuserzeile auf der Nordseite des Marktes originalgetreu wiederaufgebaut, in Erfurt rekonstruierte man auf den historischen Fundamenten das zerstörte gotische Collegium Maius, das Hauptgebäude der Alten Universität, an der auch Martin Luther studiert hatte.

Anhänger moderner Architektur können es nicht fassen
Für Anhänger der modernen Architektur sind dies harte Zeiten. Sie können nicht fassen, dass 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und fast 100 Jahre nach der Gründung des Bauhaus' die Ästhetik von Großmeistern wie Le Corbusier, Mies van der Rohe oder Gropius in der Bevölkerung immer noch nicht mehrheitsfähig ist – jedenfalls nicht für das ganz alltägliche Bauen und erst recht nicht für zentrale Orte des Stadtgedächtnisses. Aber auch Architekten wohnen ja am liebsten in Stadtvierteln, die vor dem Beginn der Moderne gebaut wurden. Die Anziehungskraft dieser Quartiere ist ungebrochen, während die Fehler der Nachkriegsarchitektur bis heute schmerzlich empfunden werden. Wie sich zeigt, fühlen sich viele Menschen in deren schmuckloser Sachlichkeit ebenso wenig behaust wie in den Schöpfungen einer sensationsgierigen Gegenwartsarchitektur, bei der eine Mode auf die andere folgt und lokale Bautraditionen keine Rolle spielen.

"Seelenwelt der Nachkommen ihrer Substanz beraubt"
Niemand hat diese Entwicklung so hellsichtig vorausgesagt wie der Schriftsteller Hermann Hesse. Der Literatur-Nobelpreisträger wurde 1947 zusammen mit anderen Intellektuellen um eine Statement gebeten, was er von einem Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Goethehauses in Frankfurt am Main halte. Hesse schrieb: "Soll man rekonstruieren? Ich muss die Frage rückhaltlos bejahen. Vielleicht ist die Zahl der Menschen in Deutschland wie außerhalb heute noch nicht so sehr groß, welche vorauszusehen vermögen, als welch vitaler Verlust, als welch trauriger Krankheitsherd sich die Zerstörung der historischen Stätten erweisen wird. Es ist damit nicht nur eine Menge hoher Werte an Tradition, an Schönheit, an Objekten der Liebe und Pietät zerstört: Es ist auch die Seelenwelt dieser Nachkommen einer Substanz beraubt, ohne welche der Mensch zwar zur Not leben, aber nur ein hundertfach beschnittenes, verkümmertes Leben führen kann." 1964 lieferte Wolf Jobst Siedler mit seinem Bestseller "Die gemordete Stadt" eine ähnlich treffende Analyse: Es sei mit den Mitteln der Nachkriegsmoderne kaum irgendwo gelungen, etwas ähnlich Lebendiges und Lebenswertes und Schönes zu schaffen wie die traditionelle europäische Stadt. Die Urteile von Hesse und Siedler sind noch immer gültig. Sie verweisen auf die tieferen Ursachen der jüngsten Rekonstruktionswelle. Und Vorsicht mit der These, die Pflege der alten Baukunst sei ein Hobby von Rentnern, die vor einer unübersichtlichen Gegenwart in eine vermeintlich heile Vergangenheit flüchten. Umfragen zum wiederaufgebauten Schloss in Berlin und zur neuen Altstadt in Frankfurt am Main ergaben: Die größte Zustimmung gibt es in der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen.

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