Der Wiederaufbau der Kolonnaden vor dem Schloss hätte größeren Symbolcharakter als jedes Denkmal
Welt vom 16.11.2016 - von Peter Stephan

Der Bundestag hat Geld für zwei Rekonstruktionen zugesagt: Schinkels Bauakademie und die Schloss-Kolonnaden. Die Kolonnaden sind der ideale Ersatz für die gestrichene „Bundeswippe“.

Nach verlorenen Kriegen oder gewonnenen Revolutionen rollen Köpfe. Karl I. von Anjou befahl die Enthauptung Konradins von Staufen, Cromwell schickte König Karl I. von England aufs Schafott, Robespierre ließ Ludwig XVI. und dessen Gemahlin Marie Antoinette guillotinieren. Waren die entthronten oder besiegten Herrscher persönlich nicht greifbar, traf es ihre Denkmäler.

Fast schon legendär ist das Foto, auf dem sechs Jungen den riesigen Kopf Kaiser Wilhelms I. auf einem Leiterwagen durch die Gassen von Koblenz ziehen. Im März 1945 hatte amerikanische Artillerie das Nationaldenkmal am Deutschen Eck unter Beschuss genommen und den Herrscher von seinem hohen Ross geholt.

Wie wenig Respekt die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs gerade den Denkmälern der Hohenzollern entgegenbrachten, bewiesen sie auch in Berlin, wo auf Beschluss des Alliierten Kontrollrats allein im Tiergarten über 34 Marmorskulpturen brandenburgischer Kurfürsten und preußischer Könige abgeräumt wurden.

Das Schloss war eingebettet in eine Logik
Zwei Jahre später setzte die SED im historischen Zentrum Berlins den politischen Bildersturm fort. Sein prominentestes Opfer war das Kaiser-Wilhelm-Denkmal, das der Schöneberger Bildhauer Reinhold Begas und der Stuttgarter Architekt Gustav Halmhuber Ende des 19. Jahrhunderts vor der Westfassade des Stadtschlosses errichtet hatten.

Dieses Monument, das in gewisser Weise das Vorbild für das Koblenzer Nationaldenkmal gewesen war, wurde zusammen mit dem Schloss und weiten Teilen des historischen Stadtkerns zerstört.

Diese Zeitgleichheit besaß nicht nur eine politische, sondern auch eine städtebauliche Logik. Denn Begas und Halmhuber hatten das Denkmal sowohl mit dem Schloss als auch mit dem umgebenden Stadtraum zu einer gedanklichen und formalen Einheit verbunden.

Die neun Meter große Figur des ersten deutschen Kaisers stand auf einem gut 13 Meter hohen Sockel, der an allen vier Seiten mit Reliefs geschmückt war. Die Ecken zierten Viktorien. Auf den vorderen Stufen lagen die Reichsinsignien, auf den Seitentreppen hatten sich die Kolossalfiguren des Krieges und des Friedens niedergelassen. Beschützt wurde das Ensemble von vier Löwen, die auf Eckspornen über erbeuteten Fahnen und Armaturen lagerten.

Wilhelm selbst ritt, von einer Friedensgöttin geleitet, als Imperator auf das Schlossportal zu, das Johann Friedrich Eosander um 1710 nach dem Vorbild des antiken Septimius-Severus-Bogens in Rom entworfen hatte. Durch das Motiv des siegreich heimkehrenden Kaisers wurde die ursprüngliche Bedeutung des barocken Portals als Triumph- und Ehrenpforte reaktiviert.

Das Volk als Bestandteil des Denkmals
Hinterfangen wurde das Figurenensemble von einer mit Quadrigen und Adlern bekrönten Kolonnade, deren hufeisenförmiger Grundriss den kurvierten Verlauf des Portalrisalits aufgriff, um ihn in vergrößertem Maßstab in den Stadtraum zu übertragen. Außerdem hatte Halmhuber die Kolonnade über einer brückenartigen, weit in den Spreekanal hineinragenden Substruktion errichtet.

Der Fluss wurde auf diese Weise in die Gesamtanlage einbezogen. Außerdem ergab sich ein räumlicher Bezug zum gegenüberliegenden Ufer mit dem Schinkelplatz. Vor allem aber bildete die mächtige Kolonnade ein wichtiges Gegengewicht zur Baumasse des Schlosses.

Je weiter die gegenwärtige Rekonstruktion der Schlossfassaden voranschreitet, desto mehr macht sich der Verlust dieser städtebaulichen und gedanklichen Bezüge bemerkbar. Um diesem Mangel abzuhelfen, beschloss der Bundestag 2007, einen Wettbewerb für ein neues Freiheits- und Einheitsdenkmal auszuschreiben.

Der Siegerentwurf des Büros Milla & Partner und der Choreografin Sasha Waltz trug den Titel „Volk in Bewegung“. Er sah eine konkave Plattform mit der Aufschrift „Wir sind das Volk. Wir sind das Volk“ vor.

Die Schale sollte betretbar sein und sich je nach Belastung in die eine oder die andere Richtung neigen. Das Volk, so der Gedanke, bespielt das Denkmal nicht nur, sondern es wird auch zu einem Bestandteil desselben. Im Gegenzug wird das Denkmal durch das Volk verlebendigt.

Die Kolonnade als Vakuum
Überraschend wurde das Projekt im April 2016 aufgegeben – offiziell wegen der hohen Kosten. Ausschlaggebend war möglicherweise aber auch die Banalität des Konzepts. In der Öffentlichkeit war sowohl von einer „Bundeswippe“ als auch von einer Bananenschale die Rede.

Inzwischen ist die Debatte über mögliche Alternativen neu entfacht. Viele Stimmen fordern eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem einstigen Bestand. Der Förderverein Berliner Schloss schlägt vor, die Kolonnade – unter Einbeziehung der noch erhaltenen Substruktion – in vereinfachter Form wiederaufzubauen.

Für diesen Vorschlag sprechen ästhetische und gedankliche Gründe. Was die Ästhetik betrifft, so verbände die Kolonnade, ganz gleich, wie sie im Detail aussähe, das Schloss wieder mit dem Stadtraum. Ebenso gäbe sie dem Platz seine architektonische Fassung zurück.

Außerdem würde sie mit der Pfeilerhalle der James-Simon-Galerie, die David Chipperfield derzeit vor dem Neuen Museum errichtet, korrespondieren. Beide Bauten lägen in Sichtweite zueinander am selben Flussufer.

Was die gedankliche Aussage betrifft, so würde der Aspekt der nationalen Einheit, der schon das alte Denkmal geprägt hat, neu interpretiert. Entscheidend wäre dabei allerdings nicht mehr die Präsenz der Figuren, sondern deren Abwesenheit. Anstelle des triumphierenden Kaisers und seines allegorischen Gefolges bliebe ein Vakuum.

Dieses Vakuum hätte jenen mahnenden Charakter, den Bundespräsident Theodor Heuss seinerzeit auch dem leeren Denkmalsockel auf dem Deutschen Eck zuschrieb. Und die Freifläche des Einheitsdenkmals würde die Menschen auffordern, sie in Besitz zu nehmen.

Die symbolische Aussage wäre kraftvoller als bei einer beweglichen Schale: Das Volk verlebendigt nicht nur ein Objekt, sondern es tritt in seiner Eigenschaft als Souverän an die Stelle der Könige und Kaiser.

Die Demokratie hat jede Form von Alleinherrschaft abgelöst – ob sie nun von einem Monarchen, einem Diktator oder einer Partei ausgeübt wird. Der gestalterische Leerraum wird zum gesellschaftspolitischen Freiraum.

Schloss und Einheitsdenkmal würde zur Freilichtbühne
Diese neue Bedeutung schlösse eine inhaltliche Einbeziehung der Schlossarchitektur keineswegs aus, denn diese erführe nun gleichfalls eine Neudeutung. Hinter der Fassade, im Innern des Humboldt Forums, hat der Architekt Franco Stella ein großes, von Galerien gesäumtes Foyer geschaffen.

Innerhalb dieses Foyers wirkt die Rückseite von Eosanders Portal wie die prächtige Schaufront eines antiken Theaters, während die Galerien an Zuschauerlogen erinnern. Dieser Schaufront-Charakter würde über das Außenportal in den Straßenraum gespiegelt, wo die Besucher des Einheitsdenkmals sich auf den Stufen unterhalb der Kolonnaden wie auf Sitzreihen niederlassen könnten.

Lasergeräte, die sich auf dem Dach der Kolonnade dezent anbringen ließen, könnten die Fassade zu einer großen Leinwand machen. Schloss und Einheitsdenkmal würde zur Freilichtbühne. Und die Assoziation mit Palladios berühmtem Teatro Olimpico in Vicenza, die Stella für das Foyer anstrebt, wäre noch evidenter.

Das Innere des Humboldt-Forums wird also gleichsam nach außen gestülpt. Dies ermöglicht es, am Tag der Deutschen Einheit oder an ähnlichen Anlässen simultane Veranstaltungen abzuhalten: Das Volk feiert im Freien, seine Vertreter im Innern. Und doch ist es eine gemeinsame Veranstaltung, weil das Schlossportal zum verbindenden Element wird. Solch eine verbindende Symbolik stiftet Einheit.

Der Autor lehrt Architekturtheorie an der Fachhochschule Potsdam. Er hat mehrere Publikationen über das Berliner Schloss veröffentlicht.

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