Von Horst Peter Serwene - Juni 2009

Aktuelle Ergänzungen zum Thema:

28.05.2015 - Mitte! 150 Jahre Transformation des Berliner Stadtkerns 1865 - 2015 [PDF]

03.03.2015 - Was wird aus der historischen Mitte?

16.12.2009 - Fünf neue Visionen für Berlins historische Mitte

18.12.2009 - Die Pläne der Berlin-Verwässerer - eine erinnerungslose Stadtmitte

18.12.2009 - Stellungsnahme der GHB

07.12.2010 - Stellungsnahme der GHB zu den Ausgrabungen am Roten Rathaus

Durch eine von Staatssekretär André Schmitz ausgelöste und vom Regierenden Bürgermeister unterstützte Debatte, ist das Marienviertel wieder ins „historische Gedächtnis der Stadt" gerückt. Ins Bewusstsein kommt, dass unter einer banalen Freifläche eines der ältesten Viertel Berlins liegt. Nur noch die Marienkirche, die dort wie ein Fremdkörper wirkt, lässt den Verlust der Stadtmitte erahnen. Eine kleine Geschichte des Marien- und Heiligengeistviertels soll dargestellt werden - ein Viertel zwischen Stadtbahn, Grunerstr. und Spree.
Die ersten Ansiedlungen in Berlin und Cölln erfolgten um 1200, die Stadtgründung datiert auf dem Jahr 1237.

 

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Abb. 1 - Memhardt-Plan, 1652

Im 14. Jahrhundert erfolgte eine Aufteilung Alt-Berlins in vier Viertel.

  1. Nikolaiviertel/Molkenmarkt als erste Siedlung (ab 1230)
  2. Klosterviertel (ab1260)
  3. Marienviertel (ab 1270)
  4. Heilige-Geist-Viertel (ab 1270)

Die Spandauer Str. für den Nord-Süd und die Oderberger Str. (Königstr., heute: Rathausstr.) für den Ost-West-Verkehr waren die wichtigsten Handelswege. Das alte Rathaus lag an der Kreuzung Spandauer Str. / Oderberger Str. (heute: Spandauer Str. / Rathausstr.)

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Abb. 2 - Schulz-Plan, 1688

Ab 1658 (bis 1746) wurde Berlin durch Friedrich Wilhelm, dem Großen Kurfürst zur Festungsstadt ausgebaut. Es war die Zeit der städtischen Verdichtung in Alt-Berlin und der Erweiterung nach Westen über die Festungsmauern hinaus (Dorotheenstadt und Friedrichstadt).

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Abb. 3 - Neuer Markt von Johann Georg Rosenberg, 1788

Der Neue Markt, nach dem Alten Markt (Molkenmarkt) der zweitälteste in Berlin, war das politische (Sitz des Hochgerichts), ökonomische und soziale Zentrum des Viertels. Er diente den Menschen mit seinem täglichen Marktverkehr bis 1886, der Eröffnung der nahegelegenen Zentralmarkthallen.

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Abb. 4 - Plan von Sinek, 1856 (Ausschnitt)

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Abb. 5 - Blick über den Neuen Markt, 1868

Die dichte Bebauung und die Kleinparzellenstruktur der Berliner Altstadt sind gut erkennbar. Die Festungsmauer ist abgerissen und entlang des zugeschütteten Festungsgrabens wurde ab 1879 das Stadtbahn-Viadukt angelegt.

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Abb. 6 - Marienkirche, 1895

 

Ab 1880 wurde eine neue Ost-West-Straße, die Kaiser-Wilhelm-Str. geplant. (Durchbruch Lustgarten zur Straße Unter den Linden). Dadurch wurden auch Teile des Neuen Marktes und des Marien-Kirchhofs abgerissen. Das Luther-Denkmal wurde 1895 auf dem freigewordenen Platz eingeweiht.

 

 

 

 

 

 

 

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Abb. 7 - Luftbild, 1920, Quelle: © Berliner Historische Mitte e.V

Einige Großbauten ab 1860 wie die Markthallen, Kaufhäuser (Wertheim), das neue (Rote) Rathaus, die Börse, das Postquartier u.a. hat die Kleinteiligkeit des Viertels (Marien-/Heilige-Geist-Viertel) stark verändert.
Die Stadtstruktur aber blieb weitgehend erhalten.

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Abb. 8 - Marienviertel, 1935

Obige Karte zeigt durch die Farben, wie groß die Veränderungen waren (Rot = 1886 - 1895, Grün = 1896 - 1918).

m09-ost-achse-1941Abb. 9 - Grundriss der Ost-West-Achse (heute Liebknechtstraße)

Die Planung einer Ost-Achse durch den NS-Staat. Durch die Abrisse entlang der Kaiser-Wilhelm-Str. erlitt das Marienviertel einen erheblichen Substanzverlust.

 

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Abb. 10 - Luftbild, 1965

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Abb. 11 - Luftbild, 1973

1949 wurde Berlin-Mitte Teil der Hauptstadt der DDR und lag damit in dessen Planungszuständigkeit. Noch bis 1965 sind Teile von Marien- und Heilige-Geist-Viertel erhalten. Doch ab 1970 kam es zur Planung eines „Zentrumsbandes" zwischen Fernsehturm und Spree und dem systematischen Abriss der erhaltenen Gebäude.

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Abb. 12 - Alt-Berlin Luftbild, 2000

Am 3. Oktober 1990 erfolgte die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Die ersten städtebaulichen Planungen (Hoffmann-Axthelm, Stimmann ...) wollten eine weitgehende Wiederherstellung des historischen Stadtgrundrisses.

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Abb. 13 - Planwerk Innenstadt (Ausschnitt), 1998

Das Planwerk Innenstadt von 1998 sah noch eine Bebauung von Marien- und Heilige-Geist-Viertel vor.

m15-mitteAbb. 14 - Planwerk Innenstadt, 1999

Aber Planwerk Innenstadt von 1999 (noch gültig) erhält die DDR-Planung (Zentrumsband) vom Fernsehturm bis zur Spree. An der Umgestaltung des Klosterviertels wird festgehalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Wie könnte die Wiederherstellung des historischen Viertels aussehen?
Drei Vorschläge kamen an die Öffentlichkeit.

Abb. 15 - aus Tagesspiegel vom 2.12.2008

1. Der Architekt Stephan Braunfels schlägt einen Boulevard mit zwei Baumreihen vor, der von der Spree bis zum Fernsehturm führt. Flankiert werden die „neuen Linden" von Wohn- und Geschäftsbauten. Vor dem Rathaus plant er einen großen Vorplatz, den es in der Stadtgeschichte nicht gab.

 

Abb. 16 - (kleines Bild) aus Morgenpost vom 29.4.2009

2. Einen Vorschlag des verstorbenen Architekten Josef P. Kleihues stellte sein Sohn Jan vor, ebenfalls namhafter Architekt. Das Marx-Engels-Forum soll an seinen Straßenkanten massiv umbaut werden, mit einer Öffnung zum Spreeufer. Innen bleibt ein „Hofgarten", die Gebäude sollen Arkadengänge mit Geschäften, Galerien und Gastronomie bekommen. Vorbild sei die Plaza Mayor in Madrid, ein großartiger, in Jahrhunderten entstandener geschlossener Platzraum.

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Abb. 17 - Neue Altstadt, aus der Welt vom 19.5.2009

3. Ein Vorschlag des Architekten Bernd Albers. Er bevorzugt einen sehr dichten, aber vom historischen Stadtgrundriss abgeleiteten Entwurf.

Welche Forderungen für die städtebauliche Rückgewinnung des Marienviertels können wir aufstellen?

  • Die Freifläche um die Marienkirche und das Marx-Engels-Forum müssen nach historischem Vorbild gegliedert werden, d.h. Wiederherstellung von Heilige-Geist-Straße, Bischofstraße und Hoher Steinweg.
  • Der Neue Markt, jahrhundertelang das Zentrum des Viertels, soll in der Anlage vor dem Krieg (siehe Bild 6) wiederhergestellt werden. Nur so kann wieder ein attraktiver Marktplatz gewonnen werden. Der Versuch, auf der Leerfläche vor dem Rathaus einen Markt zu etablieren, ist gescheitert.
  • Auf historischem Grundriss soll eine kleinteilige Bebauung mit hohem Wohnanteil errichtet werden. Hier wäre besonders ein bürgerliches Engagement gefordert.
  • Grünanlagen sollen Städtebaulich gefasst werden.
  • Der Neptun-Brunnen soll wieder an seinen historischen Ursprungsort zurück - dem Schlossplatz.
  • Die Zeit bis 2017, dem möglichen Abschluss der Bauarbeiten auf dem Marx-Engels-Forum, sollten für städtebauliche Wettbewerbe genutzt werden, trotz schwieriger Eigentumsverhältnisse (siehe Mopo vom 3.5.09)
  • Die gültige Gestaltungsverordnung von 2009 sollte auch für das Marien- / Heilige-Geist-Viertel übernommen werden.

Dazu ein Auszug aus dem Interview in der Berliner Morgenpost vom 4. Mai 09 mit Senatorin Junge-Reyer:

Mopo: Nehmen wir an, dass Sie 2012 noch mit der Linken in einer Koalition sind. Wie viel Freiraum haben sie dann noch zum Planen? Der Stadtentwicklungsexperte der Linken, Thomas Flierl, lehnt eine Bebauung der Freiflächen an der Karl-Liebknecht-Straße ab.
Junge-Reyer: Für eine lebendige grüne Stadt, und damit für das Planen und Bauen muss es klare Zielsetzungen geben. Deswegen sage ich: Hier können Solitäre mit einer herausragenden, auch internationalen Nutzung entstehen. Hier kann ich mir vieles vorstellen, zum Beispiel eine Kunsthalle oder man könnte sich zum Beispiel überlegen, ob eine Zentral- und Landesbibliothek dort hinpassen würde, obwohl sie eine große Baumasse benötigt. Solche Vorstellungen einer öffentlichen Nutzung sind notwendig.

Ein Auszug aus einem Aufsatz von Klaus Hartung im Tagesspiegel vom 28.5.2009:

Jetzt aber zeichnet sich ein Projekt ab, dessen Größe und Großartigkeit in Europa seinesgleichen sucht. Es ist ein doppeltes Ziel: Mit dem Engagement des Bundestags ist der Wiederaufbau des Stadtschlosses und mithin die Vollendung des barocken und klassizistischen Spreeathen zur nationalen Aufgabe geworden. Mit der Rekonstruktion des historischen Zentrums wiederum würde Berlin zudem die Wiederkehr der Bürgerstadt mit ihrer mittelalterlichen Identität beisteuern. Und die Grundsteinlegung des Schlosses könnte zeitlich mit dem Baubeginn im Molkenmarktviertel zusammenfallen. Nichts weniger als die Renaissance Berlins in der vollen Strahlkraft des Wortes ist nun möglich.


Literaturempfehlungen:

  1. Benedikt Goebel, Der Umbau Alt-Berlins zum modernen Stadtzentrum. Verlagshaus Braun-Berlin
  2. Hans Stimmannn, Berliner Altstadt. Von der DDR-Staatsmitte zur Stadtmitte. Verlag DOM puplishers