FAZ, 18. November 2010, von Hans Stimmann

Wo, bitte, geht's zur Mitte?
Dort, wo heute Leere ist, war einst Leben: Berlins Zentrum braucht eine neue, kleinteilige Bebauung, die an das Verlorene anknüpft, ohne die Gegenwart zu tilgen.

 

Wer sich in Hamburg und München auf dem Rathausplatz, in Köln auf dem Alten Markt oder in Dresden auf dem Neumarkt verabredet, braucht keinen versierten Stadtführer. In Berlin ist bekanntlich alles anders und mit der Nachkriegsgeschichte der bis 1989 geteilten Stadt verbunden. Viele Kultureinrichtungen wie die Nationalgalerie oder Staatsbibliothek existieren doppelt, so dass man nach der Wiedervereinigung die Unterscheidungskategorie "neu" hinzufügte. Nach den Plätzen in der Altstadt sucht man dagegen völlig vergebens, sie wurden nach 1949 ausgelöscht.

Selbst Berliner brauchen daher historische Stadtpläne, um zum Beispiel den Petri-Platz, Neuen Markt oder Molkenmarkt zu verorten. Wenn es nach dem Willen des Senats geht, soll es bei diesem so erinnerungs- wie platzlosen Zustand bleiben. In einer Mitteilung an das Abgeordnetenhaus vom Juli 2009 heißt es: "Berlin verfügt im Stadtzentrum zwischen Spree und Alexanderplatz über einen großen Freiraum, der zwar räumlich klar definiert wird, der aber keinen gängigen Namen besitzt." Die Passage endet mit dem Verweis, man nenne das Areal fortan Rathausforum. Das überwiegend namenlose Fragment des ehemaligen DDR-Staatsraumes wird aber auch durch diese Umtaufe und die Integration des Marx-Engels-Forums nicht zum zentralen Ort, auch wenn hier ein "Panoramablick auf Zeugnisse aus 750 Jahren Stadtgeschichte möglich" sein soll. Angesichts dessen, dass dort außer der vereinsamten Marienkirche nur der unbeholfene Kommunistenhain der DDR und der hierher versetzte Schlossbrunnen zu sehen sind, wünscht man sich zwanzig Jahre nach dem Mauerfall weniger verquastes Planerdeutsch und klarere politische Aussagen über den Umgang mit einem Kernbereich der Berliner Altstadt.

Deren Areale aber kommen in Bewegung. So hat der Weiterbau der U-Bahn Linie 55 zum Alex mit den neuen Stationen Humboldtforum und Rathaus begonnen, das Gebiet zwischen Spree und Fernsehturm sowie das geplante Stadthausquartier nördlich vom Molkenmarkt werden in den kommenden zehn Jahren Großbaustelle sein, um die Grunerstraße zurückzubauen und den Stadtgrundriss rund um den Großen Jüdenhof zu rekonstruieren. Nimmt man die Straßen- und Platzneubauten zwischen Gertraudenbrücke und Stadthaus hinzu, werden in den kleinen Raum der ehemaligen Berliner Altstädte 1,5 Milliarden Euro öffentliche Mittel investiert, zuzüglich die schwer einschätzbaren privaten Investitionen für Wohn- und Geschäftsbauten.

Berlins historisches Zentrum steht also vor einem Bauvorhaben, wie es die Stadt zuletzt auf dem Potsdamer Platz erlebt hat. Allein die Ansprüche der Baulogistik werden es buchstäblich umpflügen - einen Vorgeschmack lieferte vor einiger Zeit die Versetzung des Marx-Engels-Denkmals an die Liebknechtstraße. Niemand vermag die geistige und politische Befindlichkeit Berlins nach Beendigung der Baumaßnahmen vorauszusagen. Aber eine bloße Wiederherstellung des DDR-Staatsforums, ergänzt um eine U-Bahnstation am Rathaus, scheint weder wahrscheinlich, noch ist sie wünschenswert. Soll das einst vom Berliner Magistrat auf dem Neuen Markt errichtete Denkmal Martin Luthers wirklich auf dem Nordteil des Marienkirchhofes bleiben oder nicht doch, wie die Gemeinde wünscht, auf seinen angestammten Platz vor der Marienkirche zurückkehren? Was aber würde dann aus dem Neptun-Brunnen? Böte das Nebeneinander von ihm, Luther-Denkmal und dem Marx-Engels-Duo einen geschichtsträchtigen "Panoramablick" oder nicht eher einen in die Gruselkammer jüngster Stadtplanung?

Zur künftigen Attraktivität sollen laut Senat "archäologische Fenster" mit Blick auf die Fundamente bedeutender Bürgerhäuser beitragen. Aber es geht hier nicht primär um Archäologie, sondern um die städtebauliche Auseinandersetzung mit Zerstörungen.

Was kann das historische Zentrum für die wiedervereinigte Stadt leisten? Eine Lösung bestünde darin, das Ensemble, so wie es ist, zu bewahren. Das schlug der Architekturtheoretiker Kurt W. Forster schon 1992 vor: "Wie die Bilder de Chiricos versetzt auch diese städtische Bühne alle ihre Objekte in eine Art historischen Stillstand. Dabei verwandeln sich Inkongruenz und Fremdheit dieser Gegenstände in eine gebannte Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen." Eine solche Szenerie mag für ein Gemälde oder ein Foto spannend sein, doch für Berlins Realität müssen das Rathaus und die Marien-Kirche mehr darstellen als "magische Requisiten". Eines kann Forsters Vorschlag beanspruchen: die Bewahrung des Status quo wäre konsequent, erfüllte die politischen Anforderungen an einen "grün geprägten Stadtraum" - und wäre verkehrsgerecht.

Ebenfalls 1992 lieferte Friedrich Dieckmann die Begründung der Schutzwürdigkeit des DDR-Staatsraums: "Man gehe von der Spandauer Straße an dem als eine Art Alibi dorthin gesetzten Neptunbrunnen vorbei auf den Turm zu, sehe ihn hinter Fontänenbecken und einer Freitreppe ins Übersichtige aufsteigen, und man bekommt einen sinnfälligen Begriff von allem dem, was der existierende Pseudosozialismus synthetisierte: das Imitatorisch-Feudale, die modernistische Triumphgebärde, kleinbürgerliche Überspanntheit und die schrankenlose Herrschaft eines verdrängten Unbewussten."

Momentan herrscht Ratlosigkeit. Problematischer als das aber sind die vorläufigen Konkretisierungen des Senatskonzepts für das "Rathausforum": Ob als streng gerahmter Platz vom Fernsehturm bis zur Spree, als Berliner Binnenalster oder als Park mit den freigelegten Mauern der mittelalterlichen Stadt - die Vorschläge der Architekten Chipperfield, Grafts und Kiefer sollen, so die Senatsbaudirektorin, "den Kopf freimachen". Doch sie erinnern fatal an den Entwurf, den 1999 die von der CDU geführte Bauverwaltung von Jürgen Sawade als Reaktion auf das "Planwerk Innenstadt" anfertigen ließ - und den der SPD-dominierte Senat stoppte.

"Den Kopf freimachen" bedeutet heute nur Vergessen der Erfahrungen, die Berlin Ost und West gemacht hat - von den Utopien der fünfziger über die metabolistischen Konzepte der sechziger Jahre bis hin zur Megalomanie für den Potsdamer Platz unmittelbar nach der Wende. Schienen seither die Bürger, Politiker, Architekten und Planer daraus gelernt zu haben, scheinen letztere nun wieder versucht, das Herz der Stadt in einem Maßstab zu gestalten, wie er nur in einem autoritären Regime denkbar scheint.

Die drei genannten Architekten agieren, als sei das historische Zentrum ein Gelände wie die Flughäfen Tegel oder Tempelhof, deren Leere zu ähnlichen Utopien animiert hat. Derart ortsunabhängige Beliebigkeit ist in einer Zeit der ernsthaften Suche nach Baukultur, Rücksicht auf den Ort, Nachhaltigkeit, Individualität und innerstädtischem Wohnen verantwortungslos. Wenn man dem Stadtkern wieder etwas von seiner Würde, Gliederung und Vielfalt zurückgeben will, bedarf es einer "Kritischen Rekonstruktion" und Reurbanisierung. Wohn- und Geschäftshäuser auf privaten Grundstücken gäben dem Rathaus, der Marienkirche und dem neuen Humboldtforum den gebührenden Maßstab zurück.  

Hans Stimmann ist Architekt. Er war von 1991bis 1996 und von 1999 bis 2006 Senatsbaudirektor der Stadt Berlin.