Der Tagesspiegel 28.11.2010, von Ralf Schönball

Mit der U-Bahn in die Vergangenheit

Noch ist unklar, wie es nach der Entdeckung der Reste von Alt-Berlin am Roten Rathaus weitergeht. Sollten die Ausgrabungen erhalten bleiben oder dem geplanten Halt der U 5 weichen? Ein Pro & Contra.

Tief hängen die Wolken über Berlin, schwer vom Regen, der den aufgerissenen Boden am Roten Rathaus aufweicht. In einer Grube, auf allen Vieren, ziehen zwei Männer eine Kelle durch den Märkischen Sand. Einer hält inne, greift nach einem kieselsteingroßen Etwas, dreht es zwischen Daumen und Zeigefinger: Ein „Prager Groschen" aus dem 14. Jahrhundert? Eine Nähnadel aus Bronze oder ein Fingerhut? Hunderte von Münzen haben die Schatzsucher schon entdeckt. Eigentlich sind sie Archäologen, deshalb ist ihr größter Schatz die Tuchhalle des Alten Rathauses: gotische Gemäuer, die die Berliner Geschichte um ein paar Seiten, vielleicht sogar ein neues Kapitel erweitern.

Die freigelegten Pfeiler und Mauern, die Tonkrüge aus der frühen Neuzeit und das Porzellan aus dem 19. Jahrhundert beeindrucken auch die Abgeordneten bei ihrem Besuch der Grabungsstätte. Der Matsch klebt an ihren Füßen, und in die schwarze Tasche einer Volksvertreterin regnet es rein. Klagen sind aber nirgends zu vernehmen, sondern Fragen: Was zu tun ist, um die Gemäuer zu erhalten? Wie man sie schützen will vor dem einbrechenden Winter. Und welche wundersame Entdeckungen noch unter dem Pflaster im Märkischen Sand zu erwarten sind.

Festlegen will sich Grabungsleiter Michael Hofmann nicht, ob noch Funde zu erwarten sind und welche. Aber wiederholt erklärt er, wie wichtig es sei, die Suche sechs Monate fortzusetzen. Das Alte Rathaus besteht wie Kirchen aus „Schiffen", aber nur zwei von vieren sind freigelegt. Wenn der Frost kommt, können die Funde nicht von der Erde befreit werden, ohne Schaden zu nehmen. Deshalb soll die Arbeit im Frühjahr fortgesetzt werden. Dabei sollten die Archäologen eigentlich Anfang des Jahres Platz machen für Leitungsbauer der Berliner Verkehrsgesellschaft. Die BVG will hier den Bahnhof „Berliner Rathaus" für die U 5 bauen. Und ein Eingang liegt genau dort, wo die Gemäuer des Alten Rathauses entdeckt wurden.

Geschichte oder Zukunft – um diese Frage geht es, wenn man es nicht dem Zufall überlassen will, was noch gefunden wird. Vier Grabungsstätten gibt es bisher. Gewiss, sie sind nicht zufällig gewählt, sondern sie liegen am Alten Rathaus und an der früheren Königsstraße. Doch es sind eben nur Ausschnitte, auch wenn schon diese „Fenster" einen tiefen Blick in die Geschichte der Stadt erlauben. Die Keller der Patrizierhäuser auf der anderen Seite der Rathausstraße zeigen, wie dicht bebaut die Blöcke waren, und die geschwungenen Bögen aus roten Backsteinen erwecken den Grundriss des historischen Berlin zu neuem Leben.

Wo sich heute ein zugiger Platz befindet, lag vor 100 Jahren das quirlige historische Zentrum. Im mittelalterlichen Berlin waren Königsstraße (heute Rathausstraße) und Altes Rathaus das „Handelszentrum" der Brandenburgischen Mark: Die „Tuchhalle" liegt im Zentrum des Rathauses. Stoffe wurden gehandelt, und beim Bezahlen fiel schon mal ein Groschen auf den Boden, durch die Ritzen zwischen den Holzbalken und ging verloren – zum Glück bis heute. Denn an den Prägungen erkennt man die Handelswege von Berlin bis nach Ostpreußen und Böhmen.

Spuren von Sattlern, Töpfern und Gürtlern findet man auch, und sogar Aufschluss über Essgewohnheiten erhoffen sich die Wissenschaftler. Knochenfunde werden untersucht: Stammen sie von Schweinen, sind sie ein Zeichen von Wohlstand? Denn Fleisch vom Schwein war teurer als vom Rind. Luxus aber war es, Wild auf den Tisch zu bekommen.

Wo gehandelt wurde, wurde auch betrogen. Und wer keinen Rat mehr unter den Stadtvorderen fand, suchte Schutz bei Justitia. Die „Gerichtslaube" stand direkt neben dem Alten Rathaus, mit dem Pranger, an dem Betrüger bloßgestellt wurden. Der historische Backsteinbau steht noch heute – in Potsdam, wo er nicht hingehört. In Farbe und Form zeigt es das Genie von Karl Friedrich Schinkel, der Jahrhunderte später die Elemente der Gotik wiederaufleben ließ, bei der nahen Friedrichswerderschen Kirche. Würde die Rückkehr der Gerichtslaube nicht eine Lücke der Berliner Baugeschichte schließen?

Als Senatsbaudirektorin Regula Lüscher Architekten um Vorschläge für die Entwicklung des „Rathaus-Forums" bat, wie das Gebiet zwischen Fernsehturm, Rotem Rathaus und Spree heißt, war der „Archäologische Garten" der Büros Chipperfield, Graft und Kiefer einer davon: die Neuauflage der Parks und Gärten, wie in Motiven der Romantik zu finden, Steine und Grün, Natur und Kultur als innige Einheit. Die Entwürfe sollten die Geister bannen, die Lüschers Vorgänger Hans Stimmann aus dem Ruhestand heraus beschwört: Das Marienviertel will er wieder aufleben lassen - als kritische Rekonstruktion des Stadtgrundrisses.

Ruinen hat er dabei nicht im Sinne, sondern ein dicht bebautes Viertel. Daher würde sein Vorschlag den Bau eines U-Bahnhofes verlangen. Zurzeit ist der geradezu überflüssig: Der Senat hat Dienstwagen, wenige hundert Meter entfernt liegen Alexanderplatz und der künftige U-Bahnhof Stadtschloss. Fest eingeplant ist der U-Bahnhof Berliner Rathaus nach Plänen von Oliver Collignon dennoch. Der Architekt aber signalisiert, dass der südliche Eingang verlegt werden kann, um das Alte Rathaus zu retten. Sollen aber mehr als zwei Schiffe erhalten bleiben, müsste das Bauwerk um fünf Meter verschoben werden.

„Könnte man nicht auf den Bau verzichten?", fragt der SPD-Abgeordnete Daniel Buchholz. Auch die grüne Stadtplanungsexpertin Franziska Eichstädt-Bohlig möchte dies geprüft wissen. Für die Gestaltung eines Archäologischen Gartens, die Wiederherstellung der Blickbeziehungen zwischen Marienkirche und Altem Rathaus sowie die Freilegung größerer Teile der alten Mitte wäre es die günstigste Lösung. Aber „für den Verzicht auf den U–Bahnhof ist kein politischer Wille da", sagt BVG-Chefin Sigrid Evelyn Nikutta, „deshalb prüfen wir das nicht." Noch nicht?

PRO

Wenn Amerikaner einem Deutschen etwas Nettes sagen wollen, dann schwärmen sie gern von Metropolen wie „Heidelbörg" oder „Augsbörg". Was die Amis dort so tief beeindruckt, sind die Spuren vergangener Jahrhunderte, die sie im eigenen Land nicht finden. Jetzt ist Berlin dabei, solche Spuren freizulegen: Das Alte Rathaus sowie ganze Straßenzüge mit Zeugnissen eines großstädtischen, weltgewandten Bürgertums. Und mittendrin Kunstwerke, die die Nazis aus der Welt schaffen wollten. Was hier zutage kam, ist sensationell. Die Funde eröffnen einen ganz neuen Blick auf die Geschichte dieser Stadt, die bisher vor allem durch Zerstörtes und Verschwundenes geprägt war. Es wäre absurd, die jetzt gefundene Altstadt abzubaggern. Genauso absurd wäre es allerdings, sich geschichtsbewusst zu geben und auf historischem Grundriss die üblichen traufhöhengenormten und seelenlosen 08/15-Kisten zu errichten, die schon an anderen Stellen (siehe Friedrichstraße) Beklemmungen auslösen.

Wer auf dem Stadtplan des 18. Jahrhunderts mit öder Architektur die Zukunft plant, verhunzt die Stadt und verhöhnt die Geschichte. Deshalb müssen die Funde vom Roten Rathaus bewahrt und würdig präsentiert werden. Und sollte dabei der an derselben Stelle geplante U-Bahnhof im Weg sein: Er wäre tatsächlich leicht entbehrlich. Im Umkreis von 500 Metern halten bereits drei U-Bahnlinien sowie S-Bahn, Regionalzüge, Bus und Tram. Stefan Jacobs

CONTRA

Wenn man das Areal zwischen Fernsehturm und Spree in einen Geschichtspark verwandelt, es also symbolisch hinter Glas verbannt und wie eine Mumie ausstellt, würde man es ein zweites Mal begraben. Das Gegenteil einer lebendigen, aufregenden, brodelnden Innenstadt, wie sie anderswo selbstverständlich ist. In Berlin hat sich das urbane Leben in Kiezreservate zurückgezogen und tanzt jetzt um die Mitte. Archäologische Parks würden diesen Zustand noch zementieren. Doch die freigelegten Spuren der Vergangenheit taugen nicht als Argument, um vor dem Rathaus einfach alles so zu lassen, wie es ist. Berlin braucht ein schlagendes Herz anstatt der zugigen Ödnis, die man in Mitte am liebsten mit aufgestelltem Mantelkragen durchquert. Denn was derzeit zum Ideal verklärt wird, ist letztlich Ergebnis der Ideen- und Kraftlosigkeit des späten DDR-Städtebaus. Die ausgegrabenen Keller in neue Häuser zu integrieren, wäre die beste Art, sie zu erhalten: ganz einfach, indem man sie benutzt. Den Stadtplan dafür gibt es schon, er ist über Jahrhunderte gewachsen. Und warum sollte er eigentlich weniger zukunftstauglich sein als die jetzige leere Fläche? Ob die Bebauung öde wird oder aufregend, liegt an Planern und Bauherren. Und die geplante U-Bahn würde das neue Stadtviertel bestens erschließen helfen. Und die Reste des Alten Rathauses? Die ließen sich mit etwas Phantasie ohne Probleme in den neuen Bahnhof integrieren. Udo Badelt