Leserbrief zu "Neubewertung des ostdeutschen Städtebaus - Alte Platte, neue Liebe"
Artikel im Tagespiegel vom 04.10.2020

Sehr geehrte Redaktion, 
 
leider läuft der Beitrag "Alte Platte, neue Liebe" von Nicola Kuhn Gefahr eine sicher sehr komplexe Debatte auf ein eher schlichtes Lob der "DDR-Moderne" (auch ein oft inflationär gebrauchter - aber unterkomplexer - Begriff!) zu reduzieren. Wer die von Radio Bremen produzierte Dokumentation "Unsere Städte nach´45 Abriss und Protest" gesehen hat kann über diese "Wiederentdeckung" nur den Kopf schütteln. 
Viele moderne Nachkriegsplaner u.a. Rudolf Hillebrecht stammen direkt aus dem Wiederaufbaustab von NS-Minister Albert Speer, und wichtige Ahnherren der Moderne (Le Corbusier) haben intensiv mit dem Faschismus kollaboriert.
Die Demolierungswut - großflächige Abrisse historischer Bauten und ganzer Stadtteile - der 60er und 70er Jahre in West- und Ostdeutschland sind Tatsachen. Mitscherlichs Kritik an der Unwirtlichkeit der autogerechten Trabantenstädte beförderte den Bürgerprotest (West) gegen Größenwahn, ästhetische Zumutungen und Korruption ("Neue Heimat").

Wer hier über das "Ahornblatt" oder den "Palast der Republik" spricht und Alfred Messel, Schinkel oder die bis heute verlorene Berliner Stadtmitte (u.a. Moses Mendelssohn und Heinriette Herz) ignoriert ist m.E. wenig glaubwürdig.
Warum wohl engagieren sich heute die Bürger*innen von Critical Mass für eine Abkehr von der autogerechten Stadt und eine Wiedergewinnung von Kleinteiligkeit und Nutzungsmischung?
Ist die Wiedergewinnung des Gestaltungsmusters der europäischen Stadt ein Utopie? Eine Stadt für Leute die weder eine neue Star Wars Architektur noch eine Ansammlung von (maßstabsprengenden) ikonischen Betonbauten der 60er und 70er Jahre haben wollen. Sondern einfach nur ein kleinteiliges Stadtviertel für den Lebensalltag.
 
 
Mit freundlichem Gruß
Markus Erich-Delattre
Hamburg-Altona, den 05.10.2020