Von Prof. Dr. phil. habil. Peter Stephan

Eine neue Option für die Berliner Schlossfreiheit
Vor kurzem entschied der Bundestag, dass vor der barocken Westfassade des Humboldt-Forums, auf dem Sockel des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmals, ein neues Einheitsdenkmal in Gestalt einer riesigen Schale errichtet werden soll (Abb. 1). Verworfen wurde die Option, das historische Vorgängermonument in mehr oder weniger vereinfachter Form wieder zu errichten. Zu schwer wog offenbar der Vorwurf, die alten „Kaiserkolonnaden“ mit dem Reiterstandbild Wilhelms I. seien ein Zeugnis von preußischem Militarismus und wilhelminischer Großmannssucht gewesen – Eigenschaften, die man bis vor einigen Jahren auch noch dem Berliner Schloss unterstellt hatte und die 1950 der DDR-Regierung den Vorwand geliefert hatten, Denkmal und Schloss abzureißen.

Für die vormals kurbrandenburgische Residenz, die Andreas Schlüter und Johann Friedrich Eosander zu Beginn des 18. Jahrhunderts zum preußischen Königsschloss umgebaut hatten, sind diese Vorwürfe längst widerlegt. Als Gesamtkunstwerk von europäischem Rang sollte der Neubau vom Anbruch eines Goldenen Zeitalters zeugen, in dem Wissenschaften und Künste zu einer bis dahin nie gekannten Blüte gelangten. Doch wie verhielt es mit dem Nationaldenkmal? Welche Aussage lag ihm zugrunde?

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Beginnen wir mit der Entstehung. 1894 war die alte Bebauung der Schlossfreiheit niedergelegt worden: damit Eosanders Schaufront mit dem prächtigen Portal III besser zur Geltung käme und mit dem im Bau befindlichen Dom korrespondieren könne, aber auch, damit die Innenräume, besonders der als Thronsaal genutzte Weiße Saal, besser vor Attentaten geschützt würden. Um die Freifläche zu füllen, gab Wilhelm II. ein Denkmal in Auftrag, das an die unter seinem Großvater Wilhelm I. vollzogene nationale Einigung erinnern sollte. Den Wettbewerb gewannen der aus Schlesien gebürtige Bildhauer Reinhold Begas und der Stuttgarter Architekt Gustav Halmhuber. Während Begas in Berlin bereits mit zahlreichen Bildhauerarbeiten, darunter dem Neptunbrunnen, populär geworden war, hatte Halmhuber sich mit dem Mannheimer Wasserturm, der bis heute das Wahrzeichen der Stadt ist, einen Namen gemacht.

1895 begannen die Arbeiten mit dem überwölbten Unterbau, der weit in den Kupfergraben hineinragte. Wie beim Bau des Bode-Museums wurde die Fläche der Spreeinsel künstlich erweitert. An die Außenkante des Unterbaus setzte Halmhuber eine dreiflügelige, aus 60 Säulen und vier Bogendurchgängen bestehende Portikus, welche die zentrale Figurengruppe an drei Seiten umfasste (Abb. 2 u. 3a). Das neun Meter hohe Reiterstandbild des ersten deutschen Kaisers stand auf einem gut 13 Meter hohen Sockel, der seinerseits in eine Treppenanlage eingebunden war (Abb. 4 u. 5). Die Ecken des Sockels zierten vier weibliche Genien; die nach Norden und Süden weisenden Längsseiten waren mit großen Reliefs geschmückt. Auf den Stufen davor hatten sich die Kolossalfiguren des Krieges und des Friedens niedergelassen. Auf den vier diagonal angeordneten Eckspornen lagerten Löwen über erbeuteten Fahnen und Armaturen. Wilhelm selbst ritt, von einer Siegesgöttin geleitet, als Imperator auf das Schlossportal zu.

Bekanntlich setzten die Reichsgründung von 1871 und die triumphale Heimkehr Wilhelms I. den Sieg in jenem Krieg voraus, den Frankreich 1870 Preußen und seinen Verbündeten erklärt hatte, teils als Reaktion auf die sog. Emser Depesche, vor allem aber auch in der Absicht, eine deutsche Einigung zu verhindern (die hochkomplizierte Vorgeschichte des Krieges zu erörtern, würde den Rahmen dieses architekturgeschichtlichen Beitrags sprengen). Insofern wies das Nationaldenkmal auch militärische Bezüge auf – wie auch das andere Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal, das etwa zeitgleich auf dem Deutschen Eck in Koblenz entstand (Abb. 6). Stellt man die beiden Reiterfiguren nebeneinander, fällt auf, wie zurückhaltend Begas und seine Mitarbeiter den Kaiser dargestellt hatten (Abb. 7 u. 8). Statt Paradeuniform, wallendem Hermelinmantel mit aufgestelltem Kragen und Prunkhelm mit wehendem Federschmuck trug Wilhelm eine gewöhnliche Uniform. Statt auf einer weit herabfallenden Decke saß er auf einem gewöhnlichen Sattel. Auch das Pferd wirkte einfacher. Mähne und Schweif besaßen nicht die barocke Fülle wie in Koblenz. Selbst das Gewand der Viktoria war schlichter. Vor allem aber führte die Göttin das Pferd am Zügel, anstatt die Reichsinsignien auf einem Präsentierkissen neben dem Kaiser herzutragen. Diese lagen in Berlin am Fuß des Denkmalsockels.

Beide Details enthielten eine brisante politische Aussage. In der klassischen Herrscherikonographie, etwa beim Reiterstandbild des Großen Kurfürsten von Andreas Schlüter symbolisiert das Reiten des Pferdes die Staatenlenkung (Abb. 9); wie das Pferd dem guten Reiter, so gehorcht das Volk dem fähigen Herrscher. In Begas’ Reiterstandbild lenkte der Herrscher das Pferd jedoch nicht selbst, sondern wurde mit demselben von fremder Hand geführt. Die absolute Herrschergewalt des Kaisers war dadurch relativiert – was Wilhelm II. seinem Lieblingsbildhauer durchaus verübelte (tatsächlich verlor Begas wenig später die Gunst des Kaisers). Ebenso wenig dürfte es Seiner Majestät gefallen haben, dass die Reichsinsignien nicht als persönliche Attribute des Kaisers in Erscheinung traten, sondern als Objekte dem Zugriff des Volkes unmittelbar ausgesetzt waren (Abb. 3b).

Die Relativierung der traditionellen Herrscherikonographie fand ihre Entsprechung in der Art und Weise, wie Begas das Pathos der allegorischen Figuren brach. Indem er die Personifikationen des Krieges und des Friedens auf den Stufen des Denkmals setzte, machte er sie zu einem Teil der Berliner Alltagswelt. Gerade der Kriegsgott Mars büßte dadurch seine Erhabenheit ein (Abb. 10) – was aber keinesfalls auf eine Verharmlosung des Krieges hinauslief, im Gegenteil! Das nördliche Sockelrelief, das wie das Fatto storico einer klassischen Allegorie die Eigenschaften der jeweiligen Personifikation erläuterte (Abb. 11), enthielt keine heroischen Schlachtenszenen, geschweige denn die Verherrlichung eines Sieges, wie wir sie beispielsweise vom Arc de Triomphe in Paris her kennen (Abb. 12). Stattdessen schilderte es die Schrecken des Krieges in aller Eindringlichkeit.
Wie ein Gewitter, dessen Blitze rechts oben in einen Baum und ein Gräberfeld einschlugen, brach das Unheil über die Menschheit herein. Auf einem Ross mit feuriger Mähne ritt eine schlangenhaarige Furie, in der einen Hand eine Geißel, in der anderen eine Brandfackel schwingend. Begleitet wurde sie von zwei wilden Männern. Der eine, gleichfalls mit einer Geißel ausgestattet, führte das Ross über Leichen, deren Verwesungsgeruch bereits zwei Geier angezogen hatte. Der andere mähte mit seinem Schwert ein Getreidefeld nieder, was sowohl auf den Schnitter Tod als auch auf die Vernichtung der Ernte (und damit auf Hungersnöte) anspielte. Rechts unten kauerte eine Mutter, in zerschlissene Lumpen gehüllt, mit ihrem ausgemergelten Kind. Mit leerem Blick starrte sie aus tiefen, schwarzen Augenhöhlen in ein trostloses Nichts. Daneben mühte sich eine zweite Mutter verzweifelt, ihren kleinen Sohn durch eine bergende Umarmung vor den Heimsuchungen zu schützen – ein Motiv, das Begas nicht von ungefähr der Ikonographie des Bethlehemitischen Kindermords entlehnt hatte (vgl. z. B. das Ölgemälde von Valerio Castello, um 1650; (Abb. 13). Ein weiteres Zitat war die Furie des Krieges. Mit ihrem Medusenhaupt entsprach sie nicht nur der klassischen Allegorie des Krieges (Medici-Zyklus von Peter Paul Rubens im Louvre; (Abb. 14), sondern auch der Ikonographie der Zwietracht und des Neides (Abb. 15). Außerdem glich sie einem der apokalyptischen Reiter, die nach dem Buch der Offenbarung (Offb 6,1-8) Tod, Teuerung, Krieg und Pest über die Menschheit bringen (etwa bei Peter von Cornelius; (Abb. 16).

Den völligen Kontrast zu den Schrecken des Krieges bildete die Allegorie des Friedens. Nicht zufällig war ihr die sonnige Südseite des Denkmals vorbehalten (Abb. 17). Ein Jüngling, der in seiner idealen Nacktheit ebenso schön wie sanftmütig wirkte, trug auf dem Haupt eine phrygische Mütze, die seit der französischen Revolution das Attribut des befreiten Sklaven war. Die rechte Hand hielt einen Ast mit zahlreichen Früchten, der linke Arm stützte sich auf das Modell einer Skulptur. Der Frieden, so die Botschaft, beschert der Welt nicht nur Wohlstand und Freiheit, sondern lässt auch die Künste erblühen. In diesem Sinne durfte auch das Nationaldenkmal mit seinen aus Kanonen gegossenen Bronzefiguren als ein Monument friedvoller Prosperität gegolten haben.

Diese friedvolle Prosperität schilderte das zweite Sockelrelief (Abb. 18). Inmitten einer von Bauern und Hirten bevölkerten ländlichen Idylle erschien eine idealisierte Frauengestalt, um die Palmzweige und Rosen, die zwei Knaben mit sich führten, auf die Felder zu streuen (Abb. 19). In den solchermaßen gesegneten und fruchtbar gemachten Boden pflanzten eine Mutter und ihr kleiner Sohn einen Eichensprössling – ein Symbol der Wiedergeburt, das nach dem Zweiten Weltkrieg auf den 50-Pfennig-Münzen wiederkehren sollte (Abb. 20). Vervollständigt wurde die Szenerie durch ein altes Bauernpaar, das vor der Friedensbringerin dankbar niederkniete.

Das zentrale Motiv der ausgestreuten Rosen, das schon in den Friedensallegorien der Renaissance und des Barock Verwendung auftaucht, fand sich bei den Eckfiguren des Sockels wieder. An der Südseite schien die linke Eckfigur in einer bildübergreifenden Interaktion ihre Rosen sogar in das Friedenserlief hineinzureichen (Abb. 21 u. 5) – ein weiterer Hinweis darauf, dass die Gesamtaussage des Denkmals nicht auf die Verherrlichung, sondern auf die Überwindung des Krieges zielte. Dasselbe galt für die vier Löwen (Abb. 22). Anders als ihre Vorbilder auf dem Londoner Trafalgar Square (Abb. 23) wachten sie über die erbeuteten Gewehre und Kanonen des letzten Krieges und verhinderten so, dass die Waffen nochmals zum Einsatz kämen.

Ergänzt wurde die Ikonographie durch den Figurenschmuck der Kolonnaden und das Fußbodenmosaik. Die beiden Quadrigen, welche die Stirnseiten der Seitenflügel krönten, waren klassische Allegorien der Einheit. Wie der kluge Wagenlenker die Kräfte der Pferde bündelt, so eint der weise Staatenlenker die Völker und Nationen. In diesem Sinne standen die beiden Gefährte für den norddeutschen Bund und die süddeutschen Fürstentümer, die bei der Reichsgründung zu einer Nation zusammengefunden hatten. Wie auch die mosaizierten Landeswappen (Abb. 24) zeigten die Quadrigen an, dass die innerdeutschen Bruderkriege, die seit dem Hochmittelalter immer wieder aufgeflackert waren und noch 1866 zu einem schrecklichen Blutvergießen geführt hatten, endgültig überwunden waren (Abb. 25). Zugleich standen die Länder unter dem Schutz zweier Reichsadler (Abb. 26), die vom Kranzgebälk aus ihre Schwingen über den Wappen ausbreiteten, gemäß dem Psalmwort „sub umbra alarum tuarum protege me (unter dem Schatten deiner Flügel beschütze mich!; vgl. Ps 17[16], 8)“. Ende des 19. Jahrhunderts galt die Nation noch als ein Garant des Friedens. Wohin der Nationalismus die Völker Europas im 20. Jahrhunderts führen wurde, ahnten damals die wenigsten.

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Nicht weniger aussagekräftig als Begas’ Bildprogramm war Halmhubers Architektur, die mehrere Typologien in sich vereinte. Wie ein Blick auf das fast zeitgleich entstandene Monumento Nazionale a Vittorio Emanuele II in Rom zeigt (Abb. 27 u. 28), entsprach es dem damaligen Schema eines Nationaldenkmals, einen reitenden Herrscher samt seinem Gefolge aus Genien, Quadrigen, Länderpersonifikationen und Adlern vor einer Kolonnade mit Treppenanlage auftreten zu lassen.

Vor allem aber besaß die Kolonnade seit der Antike die Funktion eines Peribolos, der einen Hof, einen heiligen Bezirk, ein Forum oder ein Atrium umgrenzte. Ein besonders prominentes Beispiel sind die Kolonnaden des Petersplatzes, die Bernini anstelle des konstantinischen Atriums errichtet hatte (Abb. 29). Über die Funktion eines Atriums hinaus verlieh Bernini seinen Kolonnaden den Charakter eines Forums. Zudem vermischte sich auf dem Petersplatz der in den Balustradenskulpturen vergegenwärtigte Heiligenhimmel wie in einem Theater mit der Alltagswelt der Menschen (Abb. 30). Die Stadt, die sich sonst im Schauspielhaus versammelte, wurde selbst zur Bühne. Auch der Platz des Berliner Nationaldenkmals vereinte in sich die Eigenschaften eines Atriums mit denen eines Forums und eines Theaters (Abb. 31). Das Ereignis, das hier inszeniert wurde, war die Heimkehr Wilhelms I. nach der Kaiserproklamation in Versailles und der Beginn eines neuen Friedenszeitalters. Im Unterschied zum Petersplatz gab es in Gestalt der Treppen sogar eine Art Zuschauerrund, das von den Kolonnaden ähnlich umrahmt war wie das Auditorium in Palladios Teatro Olimpico (Abb. 32).

Indes stand Palladio auch noch mit einer anderen Idee Pate: Brücken mit Kolonnaden zu überbauen, die entweder als Loggien schöne Ausblicke eröffneten (Villa Valmarana; Abb. 33) oder als überdachte Fußgängerpassagen dienten (Entwurf in den ‚Quattro libri dell’Architettura III, 13; Abb. 34). In diesem Sinne ließen sich auch Halmhubers Kolonnaden als eine palladianische Brückenloggia lesen, von der aus man über den Spreekanal auf den Friedrichwerder mit Schinkels berühmter Bauakademie blicken konnte (Abb. 35). Der in Bandrustika ausgeführte Bogen des Unterbaus (Abb. 36), die ionische Säulenordnung und die von Halbsäulen flankierten Rundbögen an den Stirn- und Rückseiten der Seitenflügel (Abb. 37) zitierten sogar fast wörtlich jene Brücken, die in Anlehnung an Palladios Entwurf ausgeführt worden waren (etwa die sogenannte Palladian Bridge in Prior Park bei Bath; Abb. 38).

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Wie sich zeigen ließ, hatten Begas und Halmhuber im Nationaldenkmal zahlreiche ikonographische und typologische Motive auf eine sehr stimmige Weise miteinander verschmolzen. Noch entscheidender war aber, dass diese Motive allesamt auch auf das Berliner Schloss und die Berliner Stadtarchitektur Bezug nahmen. Somit war das Nationaldenkmal nicht nur eine Art Musterarchitektur, sondern auch eine wichtige Klammer zwischen dem Schloss und seinem urbanen Umfeld.

Beginnen wir mit den Bezügen zum Schloss. Zunächst wiederholte die Kurvatur der Kolonnaden den Duktus des Eosanderportals, um ihn in den Stadtraum zu projizieren (Abb. 39). Sodann paraphrasierten die Kolonnaden die Säulenreihen und -korridore des Schlüterhofs und der Portaldurchfahrten (Abb. 40 u. 41).

Die Löwen wiederum (Abb. 22) erinnerten in ihrer Eigenschaften als Garanten des Friedens an das Relief, das Schlüter für den linken Fenstergiebel von Portal V geschaffen hatte (Abb. 42). Dort lagerte die Personifikation der Fortitudo (= Stärke), um von ihren Kämpfen auszuruhen. Während sie sich von einem Putto die Keule abnehmen ließ, stützte sie sich auf einen Löwen, den sie auf diese Weise zähmte. Die Stärke verkörperte also auch den Frieden. In diesem Sinne bildete sie – in Anspielung auf Psalm 85 – ein Paar mit der Personifikation der Pax, die Schlüter als ihr Pendant im rechten Fensterrelief dargestellt hatte (Abb. 43). Der Allegorie der Fortitudo/Pax sehr verwandt war ein zweites Relief, das sich am nördlichen Treppenhausrisalit des Schlüterhofs (also an der Rückseite von Portal V) befand. Es stellte gleichfalls die Stärke dar, die einen Löwen gezähmt hatte. Willig lässt das Tier sich die Mähne kraulen, die Pfote traulich auf das Bein seiner Herrin legend (Abb. 44). Ein drittes Mal erschien der gebändigte Löwe in einem Lünettenbild der Großen Galerie, das die Aufnahme hugenottischer Flüchtlinge durch Friedrich I. zeigte (Abb. 45). Dort trug er auf seinem Rücken geduldig einen Putto mit Olivenzweig. Vermutlich alludierte dieser Zweig auf den Frieden von Oliva, den der Große Kurfürst 1660 mit Polen, Schweden und dem Heiligen Römischen Reich geschlossen hatte. Wie auch das Fensterrelief verherrlichte das Gemälde Friedrich als einen „friedensreichen“ Herrscher.

Einen weiteren Bezug zum Schloss schuf Begas, indem er mit der Reiterfigur des triumphierenden Kaisers die Typologie von Portal III als einem römischen Triumphbogen aufrief (Abb. 46). Wie im Alten Rom zog der Imperator in die Stadt ein (Abb. 47 u. 48). Während der sogenannte Adventus im antiken Rom über das Forum zum Tempel des Jupiter Capitolinus führte, endete er in Berlin im Schlüterhof. Dieser paraphrasierte mit seinen Kolonnadengängen gleichfalls ein römisches Forum. Dagegen evozierte der Große Hofrisalit das Heiligtum der kapitolinischen Trias; die Form der Kapitelle zitierten jenes Bauwerk, das bei Palladio als Jupiter-Tempel überliefert ist (Abb. 49 u. 50). Das Bildprogramm des Treppenhauses schließlich zeigte Jupiter, Juno und Minerva im Kampf gegen die Giganten, wobei Jupiter mit dem preußischen Adler auf König Friedrich I., Juno auf die Königin Sophie Charlotte und Minerva auf die preußischen Staatsräson anspielte (Abb. 51-53). Zu diesem heiligen Bezirk bildete das Nationaldenkmal gleichsam einen Vorhof.

Indes eröffnete Portal III nicht nur den triumphalen Zugang zum Innenbereich des Schlosses; es bildete auch den Unterbau der von 1845 bis 1850 errichteten Kuppel, in die Friedrich August Stüler die Schlosskapelle integriert hatte (Abb. 46 u. 54). Fasst man das Portal als Teil einer Sakralarchitektur auf, so erinnern die Kolonnaden an ein Atrium, das dem Eingangsbereich frühchristlicher Kirchen vorgeschaltet war (etwa in St. Paul vor den Mauern in Rom; Abb. 55).

Außerdem verstärkte die Theater-Architektur des Nationaldenkmals den szenographischen Charakter von Eosanders Fassade. Bereits im Teatro Olimpico bildete eine Palastfassade mit Triumphtor das Proszenium (Abb. 56). Desgleichen verwandelten Halmhuber und Begas Eosanders Palastfassade in ein Proszenium (Abb. 2). Zugleich setzten sie damit fort, was Schlüter im Schlosshof begonnen hatte. Da der Große Hof- und Treppenhausrisalit ursprünglich – wie viele Treppenhausarchitekturen des 17. und 18. Jahrhunderts – nicht verglast war, konnte man Schlüters Götterfiguren im Treppenhaus wie in einem ‚Guckkasten’ erblicken (Abb. 57). Gleich dem Deus ex machina im barocken Welttheater senkte sich die gewaltige Stuckfigur Jupiters aus dem Himmel auf die Erde herab (Abb. 51 u. 58). Ergänzt wurde die Inszenierung durch die Stuckvorhänge, mit denen Schlüter die Treppenwangen dort kaschiert hatte, wo sie die Fenster des ersten Obergeschosses hinterschnitten (bei verglasten Fenstern hätte diese Dekoration keinen Sinn ergeben; (Abb. 59a u. 59b). Auch hier wurde die Palastfassade zum Proszenium. Und wie im barocken Theater (etwa dem Teatro Farnese in Parma) die Zuschauerlogen die Loggien eines Innenhofs nachahmten, so glichen die Loggien des Schlüterhofs den Logen eines Theaters – was wiederum einen Bezug zu den Loggien des Nationaldenkmals schuf (Abb. 40 u. 60). Zusammen mit dem Nationaldenkmal übertrug Eosanders Fassade die Bühnenarchitektur des Schlüterhofs in den Stadtraum.

Eine weitere Referenz zur Schlossarchitektur ergab sich auf der Grundlage der antiken Stadtarchitektur. In Timgad, Palmyra oder dem Diokletianspalast zu Split wurden die von den Stadttoren ausgehenden Hauptstraßen von Säulenreihen gesäumt (Abb. 61-63). Darauf Bezug nehmend hatte Schlüter die Portalrisalite I und V des Schlosses wie Stadttore behandelt und sie in die Kolonnaden seines Hofes eingebettet. Indem Halmhuber seine Kolonnaden in Beziehung zu Portal III setzte, griff er auch diese Typologie auf.

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Vor Halmhuber hatten bereits Karl Friedrich Schinkel, Friedrich Hitzig, Friedrich August Stüler und Johann Heinrich Strack wesentliche Elemente der Schlossarchitektur rezipiert: in den Kolonnaden des Alten Museums und in der Portikus der Börse (Abb. 64 u. 65) sowie der Periboloi, die das Neue Museum mit der Alten Nationalgalerie verbinden. Letztere verleihen der Museumsinsel den Charakter eines römischen Kaiserforums und wirkten wie eine am Fluss gelegene Loggia (Abb. 66 u. 67). In dem Maße, in dem Halmhuber auf das Schloss Bezug nahm, assoziierte er das Nationaldenkmal auch mit der Architektur der Museumsinsel (Abb. 68).

Eine weitere Verankerung innerhalb der Berliner Stadtarchitektur ergab sich daraus, dass Kolonnaden seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert nicht nur Höfe und Foren, sondern auch Bezirks- und Stadtgrenzen bezeichneten. Die Kolonnaden der Alten Nationalgalerie und der Börse wiesen den östlichen Spreearm als Grenze zwischen Cölln und Alt-Berlin aus (Abb. 66 u. 67). Die Gontardschen Königskolonnaden flankierten die östliche Zufahrt Alt-Berlins (Abb. 69), die Langhans-Kolonnaden des Brandenburger Tores den Übergang von der Friedrichstadt zum Tiergarten (Abb. 70). Die spätbarocken Kolonnaden am Spittelmarkt (Abb. 71), an der Jäger- und an der Mohrenstraße (Abb. 72) sowie am Mühlendamm (Abb. 73) standen an Festungsgräben; das Charlottenburger Tor (Abb. 74), die Kolonnaden an der Glienicker Brücke (Abb. 75) und am Potsdamer Stadtschloss (Abb. 76) markierten Stadtgrenzen. Halmhubers Kolonnaden trennten schließlich Cölln vom Friedrichwerder.

Da die Bezirks- und Stadtgrenzen vielfach durch Wasserläufe vorgegeben waren, standen alle diese Kolonnaden neben oder gar auf Brücken; die Spittel- und die Mohrenkolonnaden gingen sogar wie das Nationaldenkmal auf Palladios Brückenentwurf zurück (Abb. 34). Palladio seinerseits hatte sich nach seinen eigenen Worten am antiken Pons Aelius in Rom orientiert (Abb. 77), der wiederum nach dem Umbau zum barocken Ponte Sant’Angelo (Abb. 78) Schinkel als Vorlage für die Schlossbrücke diente (an die Stelle von Berninis Engeln, welche die Leidenswerkzeuge Christi präsentieren, traten die Krieger, die sich in den napoleonischen Befreiungskriegen für das Vaterland geopfert hatten; (Abb. 79). Mit Halmhubers Kolonnaden und Schinkels Schlossbrücke gingen also zwei Bauten in unmittelbarer Nachbarschaft auf ein und dasselbe Vorbild zurück.
Eine weitere Besonderheit der Berliner Topographie bestand darin, dass das Schloss von wichtigen Straßenachsen durchzogen war, wobei die Portale als Wegmarken und nahegelegene Solitärbauten als Blickpunkte dienten (Abb. 80a u. 80b). Von Portal I aus führte eine Achse durch den Schlüterhof und Portal V über die Straße Am Lustgarten zur Alten Nationalgalerie. Eine zweite Achse nahm ihren Ausgang am Cöllner Rathaus, durchzog den Eosanderhof mit den Portalen II und IV und endete in den Innenräumen des Alten Museums. Die Straße Unter den Linden bildete, beim Brandenburger Tor beginnend, eine dritte Achse, die vor Portal V endete. Als einziges Portal war Eosanders Triumphbogen nicht in dieses System einbezogen – bis zum Bau des Nationaldenkmals, das zwar keine neue Straßenachse eröffnete, mit dem triumphalen Einzug Wilhelms I. aber zumindest eine ikonographische Wegstrecke inszenierte (Abb. 81).

Besondere Akzente im System der Berliner Sichtachsen setzten die zahlreichen Denkmäler, besonders die Reiterstandbilder Friedrich Wilhelms IV. vor der Alten Nationalgalerie, Friedrich Wilhelms III. vor dem Alten Museum und Friedrichs II. auf der Straße Unter den Linden (Abb. 82-84). Hinzu kamen Schlüters Denkmal des Großen Kurfürsten, das auf der Langen Brücke den Blick von der Rathausstraße auf das Schloss lenkte, der Neptunbrunnen, an dem sich Rathausstraße und Breite Straße trafen, sowie das Reiterstandbild Friedrichs III. vor dem Bode-Museum (Abb. 85-87). Dieses Ensemble wurde durch das Denkmal Wilhelms I. vervollständigt – besonders in Hinblick auf die beiden letztgenannten Standbilder, die gleichfalls auf Brücken standen.

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In einer Zwischenbilanz lässt sich festhalten, dass das Nationaldenkmal auf einzigartige Weise Typologien des Berliner Stadtraums in sich vereinte: die Kolonnade, den Peribolos, die Brücke, die Loggia, das Atrium, das Forum, das Theater, das Stadtportal, die Portikus, die Bezirksgrenze und das Reiterstandbild. In dieser Vielfalt, aber auch durch seine guten und harmonischen Proportionen fügte es sich bestens in den Stadtraum ein. Eben darin unterschied es sich wohltuend von einigen Monumenten anderer Hauptstädte, nicht zuletzt dem schon erwähnten Nationaldenkmal in Rom, das in Materialität und Proportionen den gesamten Stadtraum aufsprengt (Abb. 2 u. 28). Während das Berliner Nationaldenkmal die halbe Fassadenhöhe des Schlosses einnahm, überragt sein römisches Pendant den Turm des Senatorenpalastes sowie die meisten Campanili und Kirchenkuppeln; während in Berlin nur eine Häuserzeile abgerissen wurde, musste in Rom ein gesamtes Stadtquartier einschließlich einer Renaissancevilla, einer mittelalterlichen Burg und zweier Klosterkonvente weichen. Während Halmhuber und Begas das Schloss aufwerteten, degradierten die Architekten des ‚Vittoriano’ das angrenzende Kapitol mit der mittelalterlichen Kirche S. Maria in Aracoeli und Michelangelos Platzanlage zum Hinterhof; während Halmhuber mit demselben schlesischen Sandstein baute wie seine Vorgänger, besteht das römische Pendant aus ortsfremdem weißen Kalkstein. Angesichts dieser Gegensätze fällt es schwer, beim Berliner Nationaldenkmal noch von „Wilhelminischem Protz“ zu sprechen.

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Doch wie lautet das Fazit? Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, trifft die Kritik, es habe sich um ein Monument preußischen Militarismus’ und Wilhelminischer Prunksucht gehandelt, auf das Nationaldenkmal ebenso wenig zu wie auf das Berliner Schloss. Im Gegenteil! Das Denkmal feierte die sogenannte Gründerzeit als den Anbruch einer neuen Friedenära, als eine Epoche der Künste und Wissenschaften sowie als eine Ära neuen Wohlstands. In Programmatik und Formensprache verzichtete Begas weitgehend auf jedes Pathos, unterlief in einigen Punkten sogar die gängige Herrscherikonographie. Dementsprechend standen die Reitergruppe und die Sockelreliefs in ihrer Nüchternheit und Expressivität den Werken des französischen Naturalismus weitaus näher als der Stilrichtung des Neobarock oder des Neoklassizismus. Desgleichen orientierte sich Halmhuber in seiner Formensprache zwar an Schlüter und Eosander, folgte in der Typologie seiner Architektur aber dem Geiste Palladios. Auf diese Weise gelang ihm eine Synthese der verschiedenen Stilrichtungen, die auf der Museumsinsel vertreten waren.

Mit dieser Synthese, aber auch im geglückten Zusammenspiel von Skulptur und Architektur, trug das Nationaldenkmal wesentlich dazu bei, das Schloss innerhalb des Berliner Stadtraums strukturell und ikonographisch zu verorten. Es war Teil des Schlosses und der Museumsinsel und darüber hinaus ein unverzichtbares Element der Berliner Stadtarchitektur.

Je weiter der gegenwärtige Wiederaufbau der Schlossfassaden voranschreitet und sich die klaffende Wunde des Stadtkörpers schließt, desto mehr macht sich der Verlust dieser vielen städtebaulichen und gedanklichen Bezüge bemerkbar. Verstärkt wird dieses Desiderat durch das Innere von Franco Stellas Humboldt-Forum. Hinter der Westfassade hat Stella ein großes, von Galerien gesäumtes Foyer geschaffen, das mit seinen Galerien und der rekonstruierte Rückseite wie ein modernes Teatro wirkt (Abb. 88). Dieses Teatro verlangt danach, über über die Außenseite von Portal III gespiegelt zu werden. Mit Halmhubers rekonstruierten Kolonnaden (Abb. 31) würden – unter Einbeziehung des Schlüterhofs als eines dritten Theaters (Abb. 40) – Hofraum, Innenraum und Stadtraum sich zu einer einzigartigen Bühne des öffentlichen Lebens verschränken.

Außerdem hat Stella zwischen den Portalen II und IV eine Passage geschaffen (Abb. 89), die nicht nur die alte Sichtachse zwischen Breiter Straße und Altem Museum wiederherstellt, sondern auch den Gedanken an Stadttore erneuert, die von einer kolonnadengesäumten Magistrale durchzogen werden (Abb. 61 u. 62). Auch dieser Teil des Humboldt-Forums würde mit Halmhubers Schlosskolonnaden korrespondieren. Eine noch weiter reichende Beziehung ergäbe sich zu Chipperfields James-Simon-Galerie (Abb. 90), deren Stützenreihen Stülers Museumskolonnaden bis zum Kupfergraben weiterführen, so dass sich eine unmittelbare Sichtbeziehung zu einem rekonstruierten Nationaldenkmal ergäbe.

Schon heute sehen wir, welche Anziehungskraft Stülers Kolonnaden für alle Gruppen der Bevölkerung besitzen (Abb. 91) und wir ahnen, welche Attraktivität demnächst von der James-Simon-Galerie ausgehen wird. Welche Aufenthaltsqualität könnten da wohl erst die wiedererrichteten Kolonnaden entfalten: wenn durch sie Palladios Ideen eines Theaters in der Stadt und einer Loggia am Wasser erneut verwirklicht würde? Hinzu käme die Idealarchitektur einer Brücke mit Loggia und Fußgängerpassage, die der Vicentiner Architekt sich als einen Ort der Begegnung gedacht hatte. Sie sollte die Zentren „der größten und edelsten“ Städte schmücken und bereichern, um „der Größe und Würde einer Stadt“ dort zu dienen, wohin „die Menschen aus allen Teilen der Welt“ kommen, „um ihren Geschäften nachzugehen“. Noch mehr als zu Zeiten des alten Schlosses könnte ein rekonstruiertes Nationaldenkmal im Zusammenspiel mit dem Humboldt-Forum diese Vision Wirklichkeit werden lassen.

Dieses in Europa einzigartige städtebauliche Potential würde durch das Projekt „Bürger in Bewegung“ verschenkt (Abb. 1). Es stellt sich daher die Frage, warum die Politik ihm dennoch den Vorzug gegeben hat. Eine Begründung war zweifellos die politische Symbolik. Das Konzept des Büros Milla & Partner und der Choreographin Sasha Waltz sieht eine Schale vor, die beweglich und frei begehbar sein soll, sich je nach Belastung in die eine oder andere Richtung neigt und damit zu einer sprechenden Metapher für demokratische Willensbildung wird. Mit dieser Aussage soll das künftige Denkmal an die demokratische Revolution von 1989 und die Bürgerproteste vor dem ehemaligen Palast der Republik erinnern.
Doch anders als beim Bundestagsbeschluss, der 2002 zum Wiederaufbau der barocken Schlossfassaden führte, stimmte das Parlament diesmal unter Fraktionszwang ab. Auch lehnt die Mehrheit der Bevölkerung dieses Projekt ab, jedenfalls nach Meinungsumfragen. Vielen erscheint die Schale optisch überdimensioniert, viele empfinden die Symbolik als zu oberflächlich und zu plakativ. Auch verführt das Konzept zu falschen Assoziationen. Begriffe wie „Bundeswippe“ und „Verschaukelung des Volkes“ machen nicht nur in den Medien die Runde. Von dem, wofür das Denkmal eigentlich stehen soll, für freien Willen und bürgerliche Souveränität, kann also keine Rede sein. Dies spiegelt sich auch in der schiefen Metaphorik der Schale wider: Die Bewegungen, mit denen die Menschen die Neigung bewirken, sind zufällig; sie entspringen keiner reflektierten politischen Willensbildung. Wenn überhaupt, dann wäre die Schale eher ein Sinnbild für Anarchie. Nicht zuletzt muss man sich fragen, ob eine derart ‚verspielte’, ja unernste Inszenierung dem Ereignis, an das erinnert werden soll, gerecht wird: der mit hohem menschlichem Einsatz und großem Mut verbundenen Überwindung der DDR-Diktatur.

Dagegen ließe sich mit einer modifizierten Rekonstruktion des Nationaldenkmals eine weitaus sinnhaltigere und anspruchsvollere Programmatik verbinden. Außer der Revolution von 1989 fand im Umfeld des Schlosses ein weiterer Aufstand statt, der historisch nicht minder bedeutend war und es sogar verdienen würde, für die Bundesrepublik Deutschland identitätsstiftend zu wirken: die Märzrevolution im Jahre 1848. Zahlreiche zeitgenössische Illustrationen schildern die Barrikadenkämpfe, bei denen die Bürger ihre schwarz-rot-goldene Fahnen mutig gegen die Südfront des Schlosses und das Mündungsfeuer der preußischen Gewehre schwangen (Abb. 92). Tags darauf bewegte sich die Berliner Bürgerschaft in feierlichem Trauerzug auf das Schloss zu. Der König erschien auf dem mit Trauerflor behangenen Balkon von Portal I und erwies den Gefallenen, die man vor ihm aufgebahrt hatte, die letzte Ehre (Abb. 93 u. 94). Mehr als 1989 stand 1848 die Umgebung des Schlosses im Zentrum des Geschehens. Dennoch wäre es falsch, die beiden Ereignisse gegeneinander auszuspielen. 1989 gelang, was 1848 vergeblich versucht und 1871 nur unzureichend umgesetzt worden war: Einigkeit nicht nur im Recht, sondern auch in Freiheit zu stiften.

Doch wie könnte ein rekonstruiertes Nationaldenkmal diese Errungenschaft veranschaulichen? Die nächstliegende Option wäre ein Wiederaufbau der Kolonnaden ohne das kaiserliche Reiterstandbild (Abb. 95). Dieser Verzicht müsste natürlich sinnfällig werden: durch eine Dokumentation der Geschichte des Ortes, die man hervorragend in den Kolonnaden unterbringen könnte, vielleicht aber auch durch eine entsprechende Gestaltung der Platzmitte. Beispielsweise könnte man den unteren Teil des Denkmalssockels mit den vier Löwen, die sich im Kleistpark erhalten haben (Abb. 96) , in vereinfachter Form rekonstruieren, die Aufbauten aber fortlassen.

Auf diese Weise entstünde ein Vakuum mit eigener Aussagekraft. Wilhelm I., der als Kronprinz eine gewaltsame Niederschlagung der Revolution durch den Einsatz der Artillerie befürwortet und sich damit den Beinamen „Kartätschenprinz“ eingehandelt hatte, war so verhasst, dass er nach London ins Exil gehen musste. Die aufgebrachten Bürger standen sogar kurz davor, seinen Wohnsitz, das Kronprinzenpalais Unter den Linden, zu demolieren, entschieden sich dann aber dafür, es zum „Nationalen Eigentum“ zu erklären.

Bei einem Aufbau der Kolonnaden ohne den Kaiser müsste Wilhelm gleichsam erneut ins Exil. Die gesamte Fläche könnte nun von Passanten, vor allem aber von den zahlreichen Besuchern des Humboldt-Forums, das ja über das Eosanderportal erschlossen werden soll, eingenommen werden. Der Bereich des Nationaldenkmals würde zu einem Vorplatz, die Kolonnaden ergäben ein Entree. Noch besser als die Periboloi und der Vorhof von Neuen Museum und Alter Nationalgalerie böten die zahlreichen Stufen vor Halmbubers Säulen, an der vorderen Platzkante und am Denkmalssockel Sitzgelegenheiten – verbunden mit dem Anblick einer der weltweit grandiosesten Fassaden. Diese ließe sich bei besonderen Anlässen zusätzlich inszenieren, etwa mittels einer Lasertechnik, die auf den Dächern der Kolonnaden problemlos unterzubringen wäre.

Die symbolische Aussage einer solchen Inbesitznahme wäre weitaus kraftvoller als die einer beweglichen Schale: Das Volk verlebendigt nicht nur ein Objekt, sondern es tritt in seiner Eigenschaft als Souverän selbst an die Stelle der Könige und Kaiser. Und es gibt dem Ort sein eigenes Gepräge. Die Demokratie hat jede Form von Alleinherrschaft abgelöst – ob sie nun von einem Monarchen, einem Diktator oder einer (national-)sozialistischen Partei ausgeübt wird. Der gestalterische Leerraum wird zum gesellschaftspolitischen Freiraum. Die Kolonnaden, die schon um 1900 weit mehr waren als bloße „Kaiserkolonnaden“, würden nun definitiv zu einer Bürgerarchitektur. Man könnte an den reduzierten Denkmalsockels sogar die Inschrift „Wir sind das Volk“ setzen. Dieser Ruf der Bürgerbewegung von 1989 könnte auch als Motto für die Revolution von 1848 gelten. Und er wirkte in diesem Kontext glaubhafter als auf dem Boden einer begehbaren Schale.

Wie wirkmächtig und aussagekräftig eine solche Umwidmung sein kann, zeigt ein abschließender Blick auf Rom. Im 2. Jahrhundert wurden zu Ehren der Kaiser Trajan und Mark Aurel zwei riesige Säulen errichtet, deren Siege auf spiralförmigen Reliefs verewigt waren. Bekrönt wurde die Monumente von vergoldeten Statuen, welche die Imperatoren im Zustand ihrer Vergöttlichung verewigten; im buchstäblichen Sinne hatten die Kaiser mit ihren Verdiensten das Fundament für ihre Erhebung in den Himmel gelegt (Abb. 97 u. 98). Nachdem die Figuren im Mittelalter – vermutlich durch ein Erdbeben – von ihrem Platz herabgestürzt und dann eingeschmolzen worden waren, ließ Papst Sixtus V. sie Ende des 16. Jahrhunderts durch Bronzestatuen der Apostel Petrus und Paulus ersetzen (Abb. 99). Dass der Papst die heidnischen Monumente auf diese Weise der Nachwelt erhielt, zeugte von Souveränität, aber auch von Klugheit. Die Umwidmung ermöglichte es ihm, die römische Geschichte neu zu deuten: Im Rahmen des göttlichen Heilsplans hatte das römische Reich der Missionstätigkeit der Apostel und damit der Ausbreitung des Christentums den Weg geebnet. Zugleich hatte sich, wie eine von Sixtus geprägte Medaille verkündet, an Kaisern und Aposteln die Verheißung des Magnifikat erfüllt, wonach Gott die Mächtigen von ihrem Platz herabstößt und die Demütigen erhöht: „et exaltavit humiles“ (Lk 1,52; Abb. 100).

Eine solche Umwidmung könnte in Berlin – wo sie seit der Erstürmung des Kronprinzenpalais eine gewisse Tradition hat – dadurch zum Ausdruck kommen, dass der neu geschaffene Platz des Volkes nach Rudolf Virchow (1821-1902) benannt würde (Abb. 101). Bekanntlich war Virchow nicht nur ein herausragender Arzt, sondern auch ein bedeutender Anthropologe, ein liberaler Freigeist, ein verantwortlicher Sozialpolitiker, ein Fürsprecher von Minderheiten und der Verfechter eines geeinten Europa. Frieden und Einheit symbolisierende Freiheitskolonnaden auf einem Virchowplatz – damit würde die alte Ortsbezeichnung ‚Schlossfreiheit’ eine neue Bedeutung erlangen. Vor allem aber würde die Revolution von 1989 aufgewertet: sie erschiene nicht länger als ein singuläres Ereignis, sondern als die Vollendung dessen, was bereits Ende des Mittelalters mit der Entstehung bürgerlicher Stadtkultur und dann im frühen 16. Jahrhundert mit den Bauernkriegen begonnen hatte. Der Blick auf die deutsche Geschichte würde die positiven Entwicklungen, auf die wir zu Recht stolz sein können, berücksichtigen und so in einer immer heterogener werdenden Gesellschaft ein stärkeres Identifikationsangebot schaffen.

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