Die Gestaltung des Molkenmarkts wird zur ersten Bewährungsprobe für die neue Berliner Senatsbaudirektorin.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.12.2021 von Matthias Alexander
Das Urteil ist gefällt und verkündet, bevor die Neue ihr Amt angetreten hat. Kaum hatte Mitte Dezember die Berliner SPD bekanntgegeben, die Architektin Petra Kahlfeldt zur Senatsbaudirektorin zu ernennen, da war von einigen eifrigen Meinungsmachern aus der Planerszene der Hauptstadt zu hören, bei der Personalie handele es sich um einen Affront. In einer Mitteilung wurde kritisiert, dass Kahlfeldt bisher vor allem Villen und Luxuswohnanlagen im gehobenen Preissegment gebaut habe. Mit ihr drohten daher ein konservativer Rückfall in die "ideologischen Grabenkämpfe" der neunziger Jahre und "die vordergründige Ästhetisierung baukultureller Fragen".
Noch länger war die Liste der Dinge, für die Kahlfeldt angeblich nicht steht: "nachhaltige, klimagerechte Stadtentwicklung; die Gestaltung der Mobilitätswende; ökologisches Bauen; bezahlbaren und gemeinwohlorientierten Wohnungsbau; partizipative Planungsprozesse; Offenheit für die Diversität einer Metropole". Der Landesverband des Bunds Deutscher Architekten sekundierte mit etwas gespielt wirkender Empörung, dass das mächtige Amt offenbar nach parteipolitischen Kriterien und nicht mit dem Rückhalt der Fachöffentlichkeit besetzt worden sei.
Wohlgemerkt: Bisher hat Kahlfeldt, die ihren neuen Posten erst im Januar antritt und bis dahin ihr Ausscheiden aus dem gemeinsam mit ihrem Mann Paul Kahlfeldt geführten Büro organisiert, noch keine Silbe zu ihrem Programm als Senatsbaudirektorin geäußert - wie sich das eben gehört. Ein wenig Geduld stünde auch den Kritikern, die offenbar eine weibliche Neuverkörperung ihres Gottseibeiuns Hans Stimmann befürchten, gut an. Wäre ja möglich, dass sich die Hochschullehrerin Kahlfeldt jenseits des Profils ihres Büros mit den drängenden Fragen der Gegenwart beschäftigt, die Antworten nicht nur im neunzehnten Jahrhundert sucht und in ihrer neuen Rolle auch in Geschmacksfragen abweichende Standpunkte akzeptiert.
Als ziemlich wahrscheinlich darf gelten, dass sich die neue Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey von der ressentimentgeladenen Kritik aus jenen Teilen der "Fachöffentlichkeit", die sich gern für das Ganze halten, in ihrer Entscheidung für Kahlfeldt bestätigt fühlt. Schon als Spitzenkandidatin der SPD hatte sie erkennen lassen, dass sie mit der Wohnungs- und Planungspolitik der Linkspartei unzufrieden ist. Das betrifft deren Forderung nach Enteignung von großen Wohnungsgesellschaften genauso wie Fragen der Baukultur . Auch wenn sie sich am Ende doch ins Joch einer rot-grün-roten Koalition spannen ließ, scheint Giffey entschlossen zu sein, in der Baupolitik einen neuen Kurs einzuschlagen und die Misere zu beenden, für die Kahlfeldts Vorgängerin Regula Lüscher und deren langjährige Chefin standen, die Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher von der Linkspartei: Streben nach ökologisch-sozialen Vorbildprojekten, mit denen es nur schleppend vorangeht, während gleichzeitig immer mehr gesichtslose Investorenästhetik das Stadtbild bestimmt. Immerhin übernimmt der bisherige Innensenator Andreas Geisel, ein Schwergewicht der SPD, den Posten des Senators für Stadtentwicklung . Auch das wird Kahlfeldts Entscheidung für den riskanten Wechsel in die Politik beeinflusst haben.
Zur ersten wichtigen Nagelprobe für Kahlfeldts Gestaltungswillen und -macht wird es voraussichtlich am Molkenmarkt kommen. Nirgends sonst in Deutschland steht derzeit eine stadthistorisch vergleichbar bedeutende Fläche zur Neubebauung an. Hier, am ältesten Platz von Berlin , befand sich im Mittelalter die Keimzelle der Stadt. Heute präsentiert sich der Molkenmarkt als große Verkehrsfläche: Wo sich zwischen dem Roten Rathaus im Norden und dem nicht weniger gewaltigen Alten Stadthaus im Süden über Jahrhunderte ein bebautes Viertel befand, verläuft nun die sechsspurige Bundesstraße 1, die in diesem Abschnitt Grunerstraße heißt. Das städtebauliche Zerstörungswerk haben nicht allein alliierte Bomben und die Planer der DDR vollbracht; vielmehr ließen schon die Nationalsozialisten um das Jahr 1936 die alte Bebauung beseitigen, um Platz für ihr Gauforum zu schaffen, das nicht über den Projektstatus hinauskam.
Kahlfeldt fängt am Molkenmarkt nicht bei null an. In den nächsten Jahren wird die Grunerstraße nach Norden zum Roten Rathaus hin verschwenkt. Die Bauarbeiten haben schon begonnen, derzeit graben Archäologen im Untergrund nach Relikten des alten und jüngeren Berlins . Südlich der neuen, dann immer noch sehr breiten Grunerstraße wird zwischen Alter Münze und der Ruine des Grauen Klosters Raum sein für vier Bebauungsblöcke , deren Grenzen so weit wie möglich der Situation vor 1936 entsprechen. Dort soll auf etwa acht Hektar ein gemischtes Quartier mit einem hohen Anteil an Wohnungen entstehen.
Auf dieser Basis wurde ein städtebaulicher Wettbewerb ausgelobt, der vor einigen Wochen entschieden wurde. Die zehn eingereichten Arbeiten decken so ziemlich das gesamte Spektrum an städtebaulichen Ansätzen ab, die man im Architekturstudium kennenlernt: eine konsequent kleinteilige Altstadttypologie (Jordi & Keller), wahlweise auch überformt mit gründerzeitlichen Elementen (Christoph Mäckler Architekten), eine Anlehnung an den Reformblock des frühen zwanzigsten Jahrhunderts durchsetzt mit Townhouses (Bernd Albers), Großvolumen im Diktaturenstil und eine Mischung von gebrochenem Block und hineingewürfelten Solitären (Octagon sowie OS Arkitekter mit Czyborra Klingbeil).
Kahlfeldt hat dem Preisgericht des Wettbewerbs angehört. Ihr dürfte während der Sitzungen klar geworden sein, woran das Verfahren krankte und - schlimmer noch - was das über den Zustand der Verwaltung aussagt, die sie in Teilen bald führen soll. Die Vorgaben der Ausschreibung machten deutlich, dass die Verkehrs- und die Umweltverwaltung andere Ziele verfolgen als die Stadtplanung. Die Linke hatte zudem im Senat durchgesetzt, dass der städtische Anteil am Areal, der etwa achtzig Prozent der Fläche ausmacht, an zwei städtische Wohnungsbaugesellschaften geht, um dort Wohnungen zu errichten, die zur Hälfte für gerade einmal 6,50 Euro pro Quadratmeter vermietet werden sollen - eine Vorgabe, die für anspruchsvolle und kleinteilige Gestaltungslösungen wenig finanziellen Spielraum ließe. Die Grünen hatten erreicht, dass die Neubauten größerenteils in Holzbauweise errichtet werden sollen. Einzelne Vertreter der SPD, unter ihnen Giffey, hatten wiederum deutlich gemacht, dass sie sich eine Anknüpfung an die Bautradition des Ortes wünschen.
Die sich teilweise ausschließenden Erwartungen, die in mancher Hinsicht dem Bebauungsplan widersprachen, wurden einfach an die Architekturbüros weitergereicht, wohl in der Hoffnung auf ein Wunder. Erschwerend kam hinzu, dass das Preisgeld des Wettbewerbs niedrig, die Bearbeitungszeit für die Teilnehmer kurz und ein großer Teil der Mitglieder des Preisgerichts in dieser Funktion unerfahren war.
Es kann nicht überraschen, dass die Beteiligung an dem offenen Wettbewerb, für den unter normalen Umständen eine dreistellige Zahl von Teilnehmern zu erwarten gewesen wäre, äußerst gering ausfiel. Stellvertretend für die Architekturbüros, die sich abgeschreckt gefühlt haben, steht Stephan Braunfels: Er nahm zwar am Wettbewerb teil, gab jedoch dem Vernehmen nach lediglich vier Blätter mit Fragen ab. Dieser satirische Beitrag wurde von der Jury humorlos ausgeschlossen.
Kahlfeldt wird nun am Molkenmarkt nachträglich für klare Vorgaben sorgen müssen. Zunächst einmal ist das Wettbewerbsverfahren abzuschließen. Die beiden Träger des ersten Preises - Bernd Albers und OS Arkitekter/Czyborra Klingbeil - werden in den nächsten Monaten in einem Werkstattverfahren im Austausch mit Bürgern ihre Entwürfe überarbeiten, bevor das Preisgericht voraussichtlich im Sommer seine endgültige Entscheidung fällt.
Es steht zu erwarten, dass Kahlfeldt den Ansatz von Albers favorisiert. Er ließe sich recht leicht in Übereinstimmung mit dem neuen rot-grün-roten Koalitionsvertrag bringen, dessen Passus zum Molkenmarkt eindeutig die Handschrift der SPD (und ihres konservativen Architekturexperten Tobias Nöfer) trägt. Dort ist von einer kleinteiligen und vielfältigen Bebauung in "sehr guter Architektur" die Rede. Dazu passt auch, dass den beiden städtischen Wohnungsbaugesellschaften aufgetragen wird, Baugruppen und Genossenschaften einzubeziehen. Diese Formulierung könnte sich zugleich als Schlüssel für Kahlfeldt erweisen, um eine Bebauung sicherzustellen, deren Qualität der Geschichte des Ortes gerecht wird, gleichzeitig aber im Blick behält, dass die entstehenden Wohnungen bezahlbar bleiben. Noch hat das Land Berlin die Grundstücke nicht an seine Wohnungsgesellschaften übertragen. In der entscheidenden Frage von Eigentum und Bauherrenschaft ist das letzte Wort also nicht gesprochen. Gut möglich, dass die neue Senatsbaudirektorin nicht nur für eine buntere Mischung der Akteure sorgt, sondern auch dafür, dass die Stadt in Gestaltungsfragen gewisse Vorgaben macht und das Feld nicht allein den Bauherren überlässt.
Auf eine solche Intervention hofft auch der Verein Bürgerforum Berlin. Im September ist er mit einer Petition hervorgetreten, in der er sich für eine kleinteilige Bebauung auf den alten Parzellen mit vielfältiger Nutzungsmischung ausspricht, die von einer Vielzahl von Bauherren realisiert werden soll. Kein Wunder, dass sich die Initiatoren vor allem für den Entwurf von Jordi & Keller erwärmen können.
Um sein Anliegen zu befördern, hat der Verein, dessen Petition etliche Sozialdemokraten wie Walter Momper, Wolfgang Thierse, Ephraim Gothe und Iris Spranger unterzeichnet haben, nun sogar Renderings ausarbeiten lassen. Sie zeigen ein Erscheinungsbild, das sich sehr eng am Zustand von 1928 orientiert. Auf Nachfrage hat Benedikt Goebel, Stadtforscher und zweiter Vorsitzender des Vereins, zwar versichert, dass man auch zeitgenössische Architektur befürworte, solange sie auf den alten Parzellen entstehe. Das Bild einer weitgehenden Rekonstruktion ist aber in der Welt, es wird Begeisterung unter den einen und erbitterte Gegnerschaft bei den anderen hervorrufen. Unwahrscheinlich, dass Petra Kahlfeldt es sich zu eigen macht. Ihr erster wichtiger Fall ist ohnedies schon knifflig genug.