Weg mit den Scheuklappen: Petra Kahlfeldt steht für gestalterische Offenheit, harmonische Proportionen und lokale Traditionen. Genau das braucht Berlin!
Berliner Zeitung vom 15.01.2022 von Peter Dobrick

Am 13. Dezember erschien in der Architekturpublikation ARCH+ ein offener Brief, in dem Franziska Giffey und Raed Saleh aufgefordert wurden, die Stelle der Senatsbaudirektorin von einer Berufungskommission bestimmen zu lassen, an der „wichtige Akteure aus den Bereichen Architektur und Stadtentwicklung beteiligt werden“. Unterschrieben war der Brief von einer Anzahl am Berliner Baugeschehen − ob praktisch oder vermittelnd − Beteiligter.

Doch gerade die Besetzung der Exekutivebene der Staatssekretäre durch frei gewählte Politiker ist ein wichtiges demokratisches Korrektiv gegen Verfilzungs- und Begünstigungsstrukturen. Die Fachausschüsse der Koalitionsparteien sind bereits die legitimen Berufungskommissionen; ihre Aufgabe ist eine zügige Regierungsbildung und eine zeitnahe Besetzung der Senatsbaudirektion.

Eine Kommission hingegen, deren Zusammensetzung letztlich nur die etablierten Strukturen reproduziert, würde einen echten Kurswechsel wohl eher verhindern wollen, auch wenn dieser aus guten Gründen erforderlich ist. So jedoch entsteht der Eindruck, eine Berufungskommission solle lediglich sicherstellen, dass alles im Berliner Architekturbetrieb so bleibt, wie es ist. Aber entspricht das wirklich dem Bürgerwillen und wäre es das beste Ergebnis für die Zukunft der Stadt?

Der Gedanke drängt sich auf, dass es den Autoren des offenen Briefes in Wirklichkeit darum ging, eine „falsche“ Besetzung der Stelle der Senatsbaudirektorin zu verhindern. Benannt wurde die renommierte Berliner Architektin und Hochschullehrerin Petra Kahlfeldt, die für andere Ideale steht als die Stahl-Glas-Beton-Architektur der konventionellen Moderne. In ihrem Werk zeigt sich Offenheit gegenüber gestalterischen Prinzipien, die früher selbstverständlich waren: harmonische Proportionen, sorgfältig gegliederte Fassaden und eine Materialwahl, die lokale Traditionen berücksichtigt.

Die Besetzung zeigt, dass Franziska Giffey eher bereit ist, die Perspektive der Bürgerinnen und Bürger einzunehmen, die täglich vor Augen geführt bekommen, dass die in Berlin entstehenden Neubauten kaum eigene urbane oder ästhetische Werte hervorbringen. Umfragen ergaben, dass eine glatte, modernistische Architektur keineswegs das ist, was die Bevölkerung für ihre Städte bevorzugt.

Warum Städte veröden
Oft genug muss Architektur, die einst prägende Baustile eines Ortes wiederaufnimmt oder auch nur modern interpretiert, gegen den Widerstand von Entscheidern und Kritikern durchgesetzt werden, meist durch Initiativen aus der Bürgerschaft. Dabei lässt sich vielerorts beobachten, dass Städte, in denen versäumt wurde, an die historisch gewachsene Baukultur anzuknüpfen, bei ihren Bewohnern weniger Wertschätzung genießen, dass sie wenig besucht werden und schleichend veröden.

Die Entwicklung der Baukultur ist ein wichtiges Zukunftsthema für eine Stadt und sollte daher Chefsache sein. Franziska Giffey dürfte erkannt haben, dass Berlin eine Senatsbaudirektorin braucht, die offen genug ist, im altstädtischen Kontext auch traditionelles Bauen zu befürworten, ohne deswegen die Qualitäten der Moderne ungewürdigt zu lassen.

Gerade in Berlin wäre es an der Zeit, dem in Jahrhunderten gewachsenen Stadtbild mehr Respekt und Einfühlung entgegenzubringen. In den letzten Jahren sind im sensiblen Bereich der historischen Mitte westlich der Spree, zwischen Museumsinsel und Pariser Platz, bedauerliche Fehlentscheidungen getroffen und Versäumnisse nicht beachtet worden. Im Denkmalbereich Unter den Linden entstehen mit dem neuen Elisabeth-Selbert-Haus, der benachbarten polnischen Botschaft und dem Neubau Schadowstraße 4 derzeit drei Großbauten, deren glasbetonte Rasterfassaden kaum eintöniger und an ihren Orten unpassender sein könnten. Nahebei droht eine weitere veritable Bausünde , der unruhig-klotzige, gleichwohl in Sichtweite des Pariser Platzes befindliche Erweiterungsbau der Komischen Oper an der Glinkastraße.

Auch die Museumsinsel und ihr Umfeld bieten teils einen unwürdigen, vernachlässigten Anblick. Überdimensionierte Asphaltflächen wie die Bodestraße gälte es zurückzubauen und dem historischen Umfeld entsprechend neu zu gestalten.

Die vom Durchgangsverkehr durchflossene Steinwüste südlich des Humboldtforums genügt weder heutigen Ansprüchen an eine gute Aufenthaltsqualität, noch reicht sie auch nur entfernt an die gründerzeitliche Gestaltung mit Schlossbrunnen, Terrassen und Grünflächen heran.

Auch am Molkenmarkt und im Klosterviertel wären entscheidende Impulse für eine Neubebauung zu geben, die Vergangenheit und Zukunft überzeugend verbindet. Dem bedeutenden Ort der Berliner Stadtgeschichte angemessen wäre ein Leitbautenkonzept nach Potsdamer Vorbild, das die Rekonstruktion verloren gegangener Bauwerke und Platzbilder vorsieht – hier zum Beispiel das Palais Kreutz und der Große Jüdenhof. Ein solches Konzept wurde übrigens bei der von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung selbst durchgeführten Bürgerbeteiligung mehrheitlich befürwortet.

Misere des Wohnsiedlungsbaus
Und dann wäre da noch die offensichtliche Misere des Wohnsiedlungsbaus. Vielerorts in Berlin entstehen monotone, in Polystyrol gehüllte, dicht gepackte Kistenbauten, deren gestalterische Qualität weit hinter dem baukulturell bekannt hochstehenden, durchdachten Siedlungsbau des 20. Jahrhunderts zurückbleibt.

Viele der heute beliebtesten Wohnanlagen verstanden sich zu ihrer Erbauungszeit keineswegs als modische Avantgarde, sondern griffen bewusst auf bewährte Gestaltungsprinzipien und Stilmittel früherer Zeiten zurück. Die Bezugnahme auf bauliche Lösungen älterer Architekturschulen wurde nicht immer als rückwärtsgewandt verdammt, sondern fand bis in die Weimarer Zeit Anerkennung und Würdigung im Mainstream der Architekturkritik.

Es wäre ein Gewinn für die Baukultur in Berlin , das Spektrum dessen, was heutzutage gebaut werden „darf“, ohne ideologische Scheuklappen zu erweitern: eine qualitätvolle, zukunftsweisende Moderne auf der einen Seite. Und dort, wo sie hingehört, eine auf traditionellen Bauweisen basierende Architektur, die aus der bewährten, lokal geprägten Baukultur von Jahrhunderten ihren beständigen Wert bezieht. Petra Kahlfeldt ist zuzutrauen, diese beiden nur scheinbar unvereinbaren Enden miteinander zu verbinden.

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