Der neue Senat sucht Formate, um die Demokratie in der Stadt zu stärken. Das ist überfällig. Beteiligung muss umfangreicher gedacht werden, als Berlin es bisher tut.
Der Tagesspiegel vom 17.01.2022 von Markus Dröge
Wenn es um die Zukunft der städtischen Demokratie geht, hat sich der neue Berliner Senat viel vorgenommen. Die Stadtentwicklung soll kooperativ gestaltet, Stadtteilkonferenzen und neue Bürger:innenbeiräte zu vielen Themen sollen eingerichtet und die Leitlinien für Bürgerbeteiligung weiterentwickelt werden. Letzteres vor allem zeigt: Da ist ein Suchprozess im Gange. Der ist wichtig und auch dringend nötig.
Doch reicht der Ansatz schon aus, um der allgemeinen Entfremdung zwischen Gremienpolitik und zersplitterter Stadtgesellschaft entgegenzuwirken? Selbst die jetzt geplanten Konzepte gehen doch immer noch von einer sehr traditionellen Beteiligungsidee aus. Der Staat bezieht bei der Entscheidungsumsetzung Bürger:innen ein – direkter zwar als früher üblich. Aber lässt er sich auch von ihnen einbeziehen? Ist er frühzeitig, sogar vorgelagert eigener Entscheidungen offen genug für deren Ideen, deren Impulse? Ist ihm bewusst, dass es nicht nur um Akzeptanz und Durchsetzung gehen sollte, sondern umgekehrt auch um Dazulernen und Veränderungsoffenheit?
Das sind die Fragestellungen, zu denen die bisherigen Beteiligungskonzepte noch nicht überzeugen. Eine moderne Beteiligungs-Politik muss sich Ergebnisoffenheit zutrauen. Und sie sollte den Mut haben, mehr Verbindlichkeit anzubieten als bei traditionellen Anhörungsrechten üblich. Gelebte Mitverantwortung der Stadtgesellschaft, darum geht es im Kern. Was das ist? Vor allem ist es der Versuch, die Kräfte zu sammeln, die in dieser Gesellschaft stecken, ohne sich bisher angesprochen zu fühlen.
Berlin hat viel davon. Menschen mit höchst unterschiedlichen Lebenswegen und Kulturerfahrungen, mit viel Weltkenntnis, kreativem Potenzial, Fähigkeiten zum Zusammenführen. Viel zu wenig davon wird bislang tatsächlich mobilisiert. Berlin hat sich zu sehr daran gewöhnt, dass die Kraft neuer Ideen häufig ins Leere läuft.
Dies zu ändern, sollten wir gemeinsam versuchen. Gemeinsam bedeutet: die Stadtpolitik zusammen mit allen, die sich engagieren wollen – und umgekehrt: alle, die Ideen haben, gemeinsam mit der Stadtpolitik, über Betroffenheitspolitik, Akzeptanzherstellung und die jeweiligen Eigeninteressen hinaus. Das Defizit an kontinuierlicher, konstruktiver Mitarbeit aus der Stadtgesellschaft heraus ist unübersehbar. Das zeigen letztlich auch die eher traditionellen Ansätze für mehr Beteiligung beim neuen Senat.
Wer mehr will als bloße Anhörungsrechte, muss ernsthafte Mitverantwortung zulassen und braucht dazu gemeinsam verabredete Verfahren. Das ist projektbezogen und auf lokaler Ebene vergleichsweise einfach, zu gesamtstädtischen Themen wird es komplizierter und auch anspruchsvoller. So gibt es zum Beispiel innovative Ideen aus der Bürgerschaft für die Grünflächenplanung – ein Pilotprojekt für Friedhöfe als öffentliche Räume, gemeinsam mit einem Friedhofsträger entwickelt, oder ein gut durchdachtes Konzept für die Gestaltung des öffentlichen Raumes der Berliner Mitte. Aber gerade bei solchen für ganz Berlin bedeutsamen Themen fehlt der Impuls- und Resonanzraum der Bürgergesellschaft besonders.
Berlin als Ganzes zu denken und weiterzuentwickeln: Das sollte der Anspruch einer perspektivischen Stadtpolitik sein, und dazu braucht es dringend einen erweiterten, partizipativen Politikansatz.
Er beginnt mit einer Verständigung über zentrale Fragestellungen wie zum Beispiel das Verhältnis der Verkehrsträger zueinander, unterschiedliche Generationenperspektiven oder Kooperationsthemen mit Brandenburg. Er muss in dauerhafter Kooperation zwischen Stadtgesellschaft und Verwaltung münden, bei künftigen Verkehrsprojekten beispielsweise, wie etwa bei der Radverkehrsplanung, unter sehr frühzeitiger Einbeziehung unterschiedlicher Verkehrsteilnehmender in Planungsvorschläge.
Er benötigt offenere, dialogorientierte Entscheidungsverfahren mit transparenter, unabhängiger Dialogsteuerung. Ein solcher Politikansatz ist Arbeiten am Ideal der Demokratie. Oder nüchtern gesagt: Institutionen und Bürgergesellschaft werden wieder näher zusammengeführt. Genau deshalb sollte Beteiligung umfassender gedacht werden, als Berlin es bisher tut.
Zivilgesellschaftliche Projekte können für ein derart erneuertes und erweitertes Verständnis von Stadtpolitik vieles einbringen. Sie wollen und dürfen nicht als Konkurrenz zu den etablierten Entscheidungsstrukturen gesehen werden. Es geht ausdrücklich nicht um weitere Repräsentativ-Strukturen neben Parlamenten und Verbänden, sondern um Unterstützung, zum Beispiel bei der Strukturierung der Themen, der Suche nach kreativen Köpfen, die angesprochen und einbezogen werden können. Es geht um die Kraft von Ideen engagierter Leute, die sich aus dem Alltag heraus entwickelt.
Auf dieses Ziel hin arbeitet die Stiftung Zukunft Berlin seit 15 Jahren, mit hunderten engagierten Bürger:innen in rund 30 Initiativen, vernetzt mit vielen Organisationen und Institutionen. Gerade hat sie sich in der Leitungsstruktur neu aufgestellt, thematisch breiter, jünger und diverser als bisher.
Im Dialogformat „ Berlin -Forum“ werden unter Beteiligung der Politik Ideen und Impulse diskutiert, die von den Initiativen entwickelt wurden, unterstützt durch die Projektmanager:innen der Stiftung. Dieses bewährte Format kann als Plattform für eine nachhaltige und dauerhafte bürgerliche Mitverantwortung weiterentwickelt werden.
Berlin soll, so das Ziel des Senats, zum „Hub für die progressive Zivilgesellschaft Europas“ werden, und mit zivilgesellschaftlicher Beteiligung soll eine Strategie für Europa entwickelt werden. Die Stiftung arbeitet genau daran bereits mit mehreren Projekten, die teils mit kulturellem, teils mit kommunalpolitischem Schwerpunkt, aber stets mit für Europa aktivierender Absicht Initiativen, Städte und Bürger:innen on- wie offline vernetzen. So wird derzeit mit der digitalen Aktions- und Kooperationsplattform „Europe Bottom-Up“ ein Instrument für den europäischen Austausch entwickelt, das es engagierten Menschen, Organisationen und Verwaltungen leichter macht, voneinander zu lernen und gemeinsame Projekte zu verabreden und durchzuführen.
Die Politik sieht die Metropolregion Berlin -Brandenburg vor einem gewaltigen Innovations- und Transformationsprozess. Die Zusammenarbeit soll vertieft und neue Entwicklungsachsen mit Korridoren Richtung Lausitz, Prignitz und Stettin sollen ausgebaut werden. Das „Zukunftsforum Berlin -Brandenburg“ ruft Partner:innen aus den genannten Korridoren bereits regelmäßig zusammen und identifiziert die gesamte Region betreffende Entwicklungsthemen.
Die Koalition will einen neuen Aufbruch für die Berliner Verwaltung wagen, eine neue Führungskultur etablieren, die Zuständigkeit von Senat und Bezirken gesetzlich neu regeln. Doch ein einfaches Gesetz ist dazu nicht ausreichend. Es braucht – endlich –einen großen Wurf.
Das geht nur mit einem Verfassungskonvent, der mit Vertreter:innen von Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft besetzt wird. Denn nur mit einer breiten Partizipation und Akzeptanz in der Stadtgesellschaft kann dieses dringend notwendige Jahrhundertvorhaben gelingen.
Wenn es künftig gelingt, an vielen Stellen echte Partizipationsmöglichkeiten – und zwar für alle Bevölkerungsteile – zu schaffen, die Qualität der Entscheidungen dadurch zu erhöhen und Impulse aus der Bürgerschaft aufzunehmen, dann wird Berlin für die Berliner :innen noch mehr zu „ihrer“ Stadt. Die Kraft der Ideen ist da. Nur wirksam müssen sie noch werden.
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Markus Dröge ist Vorstandssprecher der Stiftung Zukunft Berlin . Der evangelische Theologe war von 2009 bis 2019 Bischof der Evangelischen Kirche Berlin -Brandenburg-schlesische Oberlausitz.