Die Politik will serielles Bauen vorantreiben – das ist in Ordnung, aber nur, wenn man die Fehler der Vergangenheit vermeidet.
Der Tagesspiegel vom 30.01.2022 von Rita Wolffsohn und Michael Wolffsohn

Deutschlands Wohnungsnot ist in fast allen Großstädten politisch hausgemacht. Besonders in Berlin. Anfang des Jahrtausends wurde der Soziale Wohnungsbau faktisch beendet. Katastrophe Nummer eins. Die zweite folgte sogleich: Stark vernachlässigte städtische Wohnungen wurden massenweise billig verkauft. Anders als die verantwortlichen Stadtpolitiker sahen die Käufer den Berlin -Boom voraus. Ihn mittelfristig zu erwarten, war realistisch, denn Berlin war damals „arm, aber sexy“ und frisch re-etablierte Hauptstadt.

Die offenbar nur von der Stadtpolitik nicht erwartete Folge: Immer mehr Menschen strömten nach Berlin und Wohnungen wurden knapp. Berlin kaufte die zuvor ungünstig verkauften Wohnungen teuer zurück. Geldverbrennung nennt man das. Dann der Mietendeckel als Notbremse und Enteignungspläne: Schildbürgerstreiche, denn dadurch wird auch der letzte willige Investor verschreckt, es wurde weniger gebaut und Wohnraum noch knapper.

Jetzt, endlich, springt der Staat ein. Die neue Bundesregierung will die Anstrengungen zur Überwindung der Wohnungsnot massiv verstärken . Orientierungsmarke sind 400 000 neue Wohnungen. Gut so. Säule eins, also die Rahmenbedingungen jeglicher Wohnungspolitik, sind vom Staat festzulegen. Säule zwei betrifft Art und Weise der Wohnungsverwaltung. Beides sei in der gebotenen Kürze erörtert.

Bei „Platten“ läuten die Alarmglocken

„Seriell“ soll gebaut werden. So stellt sich die neue Bundesbauministerin die „Planerfüllung“ vor: Es würden „anderswo gefertigte“, also vorgefertigte Teile eingebaut. Vor Ort müssten dann nur noch die Bodenplatten gesetzt und die Module aufgebaut werden. Das entlaste den Bauprozess und vermeide lange Bauzeiten in den Innenstädten.

Das ist sicher richtig, aber Alarmglocken läuten beim Wort „Bodenplatten“ oder welche Platten auch immer. Zu einer Wiederbelebung der DDR-Platte oder ihrer westlichen Gegenstücke darf es keinesfalls kommen. Nie wieder Wohnsilos, wo sich der Einzelne wie eine Ameise im Himalaya fühlt. Kein neues Hohenschönhausen, Marzahn, Märkisches Viertel, Gropiusstadt – oder die Vorstädte von Paris und Lyon.

Diese seelenlosen Massenunterkünfte, übereinander geschichtete und nebeneinander hingeknallte Schlafstellen, sind weltweit soziale und politische Pulverfässer. In den Vorstädten Frankreichs, den „Banlieues“, explodieren sie seit Jahren immer wieder. Sie sind Brutstätten des Terrorismus oder „nur“ unpolitischer, brutaler Gewalt. Aus der französischen Wirklichkeit abgeleiteten Anschauungsunterricht bietet der Film „Die Wütenden“. Trotz der heute angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt dürfen kurzfristige Lösungen keine langfristigen Gefahrenherde von morgen werden.

Der Wohnungsbau einer Stadt ist Abbild ihrer Gesellschaft. Das gilt von der Vergangenheit bis zur Gegenwart. Dieses Bild zeigt, wer, wo und wie arm oder reich, mächtig oder machtlos ist, wer sich Bildung, Kultur und Schönes leisten oder nicht leisten kann. Der Wohnungsbau zeigt uns zugleich das Menschenbild der Bauherren hinsichtlich der Zielpersonen, für die das Gebaute gedacht ist. Das Motto: Sage mir, wie du für wen baust, und ich sage dir, was du über ihn denkst, denn Architektur ist immer Stein-gewordenes Menschenbild. Die herkömmlichen Plattenbauten oder andere Wohnsilos dokumentieren platte Menschenverachtung der Bauherren. Abhilfe ist möglich: „Serielles“ Bauen muss nicht uniform sein. Bei Serienautos oder in der Serienmode gibt es Vielfalt. Warum nicht auch bei Serienbauten Vielfalt bieten?

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Wohnungsnot dramatischer als heute. Auf Schnelligkeit des Bauens kam es an. Bedürfnis jener Zeit: Jedem ein Dach über den Kopf. Alles weitere war Luxus. Auch heute soll es schnell gehen, doch eine andere Gesellschaft hat andere Bedürfnisse, und es gibt andere Gefährdungen.

Ein kurzer Blick in die Baugeschichte beweist: Massenbauten gab es auch früher. Besonders in Berlin. Als Folge der Industrialisierung und der Landflucht strömten Menschen in die Stadt. Die Bauten der Gründerzeit schufen Wohnraum für viele – aber im sonnenbeschienenen Vorderhaus wohnten die wohlhabenden, bürgerlichen „Herrschaften“, in den dunklen, hintereinander geschachtelten Hinterhöfen die Armen und Ärmsten. In dieser Dunkelheit herrschten Armut und Krankheit. Zilles Bilder verewigten jenes Elend.

Als Antwort darauf konzipierte und realisierte vor rund 100 Jahren die Reformarchitektur noch heute bestehende mustergültige Wohnanlagen. Diese Anlagen wie die Münchner Borstei, in Berlin die Britzer Hufeisensiedlung oder die Gartenstadt Atlantic am Gesundbrunnen sind an den menschlichen Bedürfnissen orientiert. Nicht alle bieten eine urbane Grundstruktur, die weltweit von den meisten Menschen gewünscht wird, aber alle bieten Ästhetik, Luft, Licht, Sonne und Grün.

Wo ein Wir-Gefühl besteht, werden gesellschaftliche Spannungen und Spaltungen abgebaut.

Voraussetzung jeder urbanen Grundstruktur ist eine geplante, gewerbliche Erdgeschosszone als Infrastruktur, damit in fußläufiger Entfernung das Alltagsnotwendige besorgt und erledigt werden kann. Kurze Wege sind besonders in großen Städten reiner Zeitgewinn. Durch Läden, Gastronomie – Restaurant, Bistro, Café oder auch Kneipe – entstehen im Quartier Kontakte und, weil wechselseitig, sanfte soziale Kontrolle. Kiezcharakter. Statt Schlafstadt lebendige Stadt, teilweise auch am Abend. Kommunikation. Durch Kommunikation entsteht ein Wir-Gefühl, das Vereinzelung und Vereinsamung überwindet. Wohnen ist mehr als nur ein Dach über dem Kopf. Kiezatmosphäre plus anständige Wohnungen – das ist humanes Wohnen.

Wo ein Wir-Gefühl besteht, werden gesellschaftliche Spannungen und Spaltungen abgebaut. Es verhindert Frustration, führt zu weniger Aggression und somit zu individuellem sowie kollektivem Wohlgefühl. Für den inneren Frieden jeder Gesellschaft ist es unverzichtbar, dass sich die Menschen in ihrer Umgebung wohlfühlen.

Diese Rahmenbedingungen sind vom Staat zu leisten. Sie sind die eine wohnungspolitische Säule, die friedliche Urbanität, also das Zusammenleben großer Menschenmengen unterschiedlicher Herkunft, Berufe, Identitäten und Identifizierungen positiv beeinflusst, beziehungsweise erst ermöglicht.

Vermieter und Mieter werden häufig als Gegner wahrgenommen - nicht als Geschäftspartner

Die zweite Säule jeder Stadtentwicklung ist die Verwaltung des Wohn- und Gewerberaumes. Hier sind die Anforderungen schwieriger zu beschreiben. Der Staat legt hier ebenfalls Rahmenbedingungen in Form von Gesetzen fest (Mietrecht), die jedoch nicht ausreichen, wenn Säule eins brüchig ist. In seinen kommunalen Wohnungsunternehmen kann (oder könnte zumindest) der Staat vorbildlich sein.

Vermieter und Mieter werden häufig nicht als Geschäftspartner, sondern als Gegner wahrgenommen. Manchmal sind sie es auch. Eine langfristig lebendige und friedliche Stadt setzt Bauherren und Vermieter voraus, die nicht nur an sich selbst oder den schnellen Euro denken – und trotzdem Geld verdienen. Die notwendigen Instandsetzungen oder Erneuerungen müssen problemlos zu finanzieren sein. Als „weiche“, also nicht ökonomische Faktoren, gelten Annehmlichkeiten, Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten, etwa begrünte Innenhöfe mit Sitzgelegenheiten, Abstellplätze für Kinderwagen und Fahrräder, Brunnen – kurzum: Komfort. Weil teuer, wird häufig darauf verzichtet.

Das ist falsch, denn jene weichen Faktoren können unter bestimmten Voraussetzungen für Vermieter langfristig sehr wohl wirtschaftlich wirken. Sie schaffen nämlich Mieterzufriedenheit. Zufriedene Mieter bleiben in der Regel lange in ihrer Wohnung und gehen deshalb mit ihr, dem Gebäude sowie dem Umfeld pfleglich um – von den regelbestätigenden Ausnahmen abgesehen. Das wiederum verringert Folgekosten, „weiche“ Faktoren werden somit „hart“.

Die erwähnten Voraussetzungen sind eine gute Verwaltung, menschlich achtsamer, kontakt- und kommunikationsfreudiger Service, aber freundlich-konsequente Beachtung der Regeln (zum Beispiel Hausordnung), ohne die weder kleine noch große Gemeinschaften funktionieren können. Eine aufmerksame Verwaltung ist zugleich ein zweiseitiges Frühwarnsystem: für Mieter und Vermieter.

Besondere Bedeutung kommt der Vermietung zu. Eine Strategie, die darauf achtet, dass in keinem Gebäude Herkunfts- beziehungsweise Gruppen-, Familien- oder Clancluster entstehen, beugt Parallelgesellschaften vor. „Mischung“ ist das Zauberwort. Mischung integriert, ermöglicht Kontakte und Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Individuen und Gruppen. Und eine Verwaltung kann eingreifen, wenn es dennoch zu Unverträglichkeiten kommt. Diese Faktoren werden nicht alle in kurzer Zeit „hart“, aber langfristig ist ihre Missachtung sehr teuer, wie die französischen Vorstädte zeigen.

Die dargelegten Überlegungen haben wir versucht, privatwirtschaftlich in der Gartenstadt Atlantic im Weddinger Stadtteil Gesundbrunnen umzusetzen. Die in den 1920-ern erbaute und Anfang dieses Jahrtausends modernisierte Reform-Wohnanlage Gartenstadt Atlantic liegt mitten im pulsierenden Stadtleben.

Hier wurde das Konzept humanen Wohnens im Sinne einer lebendigen Stadt weiterentwickelt. Die Aufwertung des Quartiers – nicht Gentrifizierung! – prägte das Konzept der Modernisierung. Allerdings: es gab keinen Masterplan. Ein Mikrokosmos entstand, sich immer wieder verändernd, im Laufe von 20 Jahren. Wohnen als Lebensqualität. Kultur und Bildung durch Lernwerkstätten für Physik, Musik, neue Medien, Kochen, Kunst, Theater, Literatur und Natur.

Alle Lernwerkstätten im Mikrokosmos Gartenstadt Atlantic wurden, von außen einsichtig, im Erdgeschoss platziert. Zielgruppen sind Kinder und Jugendliche, neuerdings auch Senioren. Vor Corona wurden rund 73 000 Besuche gezählt. Pandemie-bedingt waren es in den letzten Jahren weniger.

Wohn-Wohlgefühl ist keine Illusion – und langfristig rechnet es sich. Es ist möglich, aber vor allem gesellschaftspolitisch unverzichtbar. Im Bund hat die Ampelkoalition die Chance, die Weichen für eine humane Wohnungspolitik zu stellen. In Berlin kann Rot-Grün-Rot ab jetzt die katastrophalen Fehler der vergangenen 20 Jahre korrigieren. Auch Vermieter, öffentliche ebenso wie private, müssen umdenken. Im eigenen wirtschaftlichen und allgemein gesellschaftlichen Interesse. Deutsche Städte sind nicht in gleicher Weise gefährdet wie Frankreichs Vorstädte, aber auch in unseren Städten gibt es No-Go-Areas, Tabuzonen für manche Personenkreise. Wir sollten die Zeichen ernstnehmen.

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