Die Welt vom 03.02.2022 von Dankwart Guratzsch
Über Jahrzehnte hat man den Bürger als architektonischen "Laien" abqualifiziert und die Rekonstruktion lebenswerter Altstädte "reaktionär" genannt. Jetzt, wo diese Epoche zu Ende geht, ist ein Kulturkampf um unsere Innenstädte entbrannt. Dabei geht es nicht zuletzt um lukrative Aufträge.
Wir erleben eine beispiellose Verunglimpfung von Architekten und Bauprojekten, die nicht dem Schema "zeitgemäßer" Architektur entsprechen. Wo eine Fassade, ein Turm, ein Stück Altstadt gar, womöglich ein Schloss wiederaufgebaut oder rekonstruiert werden soll, sind die Kritiker schnell mit Totschlagvokabeln wie "reaktionär" oder "faschistoid" zur Stelle. Aber rekonstruiert, wiederaufgebaut, saniert und modernisiert wurde zu allen Zeiten. Altstadterneuerung ist ein Dauerthema der Architekturgeschichte.
Das bringen jetzt zwei große Monografien in Erinnerung, die nicht zufällig gleichzeitig erscheinen. Der Berliner Stadtplaner und Soziologe Harald Bodenschatz und der Weimarer Politik- und Planungswissenschaftler Max Welch Guerra rollen 150 Jahre Stadtbaugeschichte auf und erläutern das Phänomen als eine Praxis, die bei Sanierung und Neubau nicht stehenbleibt, sondern immer auch die Restaurierung und sogar den Nachbau von Altbauten einschließt.
Dabei konzentrieren sie sich ausdrücklich auf die Altstadterneuerung in Diktaturen, in denen es die Altstädte besonders schwer hatten, sich gegen den revolutionären Neuerungsfuror der Despoten zu behaupten. Der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt verfolgt mit seiner Untersuchung " Städtebau des Erinnerns" die "Mythen und Zitate westlicher Städte".
Seine Beispiele sind deshalb so beeindruckend, weil sie das Ringen der Staaten und Städte um ein architektonisches Selbstbild als universelles Anliegen zeigen, das keine Staats- und Systemgrenzen kennt und die Ästhetik - vor Politik, Gesellschaftsordnung, Krieg und Revolution - als bestimmende, maßstabsetzende Kategorie ausweist. Die Bände ergänzen sich auf glücklichste Weise.
"Unheimlich, nackt und kahl"
Altstadterneuerung ist eine Reaktion auf Altstadtelend und Altstadtverfall in Zeiten der Industrialisierung. Schon Friedrich Schlegel sprach zu Beginn des 19. Jahrhunderts von der "Barbarey und geldgierigen Zerstörungswut", die "alle alten Denkmahle verwüste"; und Karl Friedrich Schinkel warnte um dieselbe Zeit davor, dass wir "in kurzer Zeit unheimlich, nackt und kahl wie eine neue Kolonie in einem früher nicht bewohnten Lande dastehen".
Die Rettungsprogramme für die Altstädte begannen, als ihre Existenz erstmals auf dem Spiel stand. Heute stehen die Städte vor neuen massiven Eingriffen, weil die Klimapolitik ein Umdenken im Städtebau erzwingt. Und so mancher Bürgermeister rauft sich die Haare, weil er nicht weiß, wie er es den tobenden Kritikern recht machen soll.
Längst hat die Auseinandersetzung die Züge eines Kulturkampfes angenommen. Historisten und Modernisten machen sich jeden Quadratmeter Altstadtboden streitig. Denn hier - und nicht in den Vororten und Trabantenstädten - entscheidet sich die Identität der Stadt. Niemand wird nach Berlin reisen, um das Märkische Viertel oder Hellersdorf zu sehen, auch wenn das dort erstellte Bauvolumen größer, massereicher, bevölkerungsreicher als die Reste von Altstadt sind, die Deutschlands Hauptstadt noch zu bieten hat.
"Stadt nach historischem Muster"
Als jetzt die hochangesehene Architektin Petra Kahlfeldt nach jahrelanger Konfusion und Ziellosigkeit in der Berliner Baupolitik zur neuen Senatsbaudirektorin gewählt wurde, rügten 600 Architekten in einem offenen Brief diese Entscheidung als "Bärendienst" an der Stadtentwicklung Berlins , weil die Ernannte "konservativen Kreisen" nahestehe, "die sich für die Rekonstruktion der Stadt nach historischem Muster eingesetzt haben".
Als Mitverfasserin einer "Charta für die Berliner Mitte" von 2014 habe sie zudem "eine weitreichende Privatisierung öffentlicher Grundstücke in der Berliner Mitte gefordert". In Wahrheit handelt es sich um Privatgrundstücke, die das DDR-Regime enteignet hatte und die aufgrund der Unschlüssigkeit des Vorgängersenats bis heute brachliegen, obwohl Wohnraum in der Berliner Mitte so dringend wie in kaum einer zweiten Stadt gebraucht wird.
Geht eine an historische Vorbilder angelehnte Altstadterneuerung tatsächlich an den Bedürfnissen der Gegenwart vorbei? Schon in den 1980er-Jahren hatte der prominente Architekturhistoriker Heinrich Klotz erkannt: "Nach sechzig Jahren haben die Architekturformen, mit denen die Moderne argumentationsfähig wurde, die 'reinen Formen unter dem Licht' (Le Corbusier), nicht nur ihre ästhetische Überzeugungskraft verloren, sondern sie sind zu einem Faktor der schwersten Umweltzerstörung geworden."
Ein Krieg um Aufträge
Genau das ist eingetreten. Der Berufsstand der Architekten - es gibt nicht nur die 600 Unterzeichner des Offenen Briefes gegen Kahlfeldt, zu denen übrigens viele abhängig Beschäftigte zählen, sondern 129.000 hauptberufliche Architekten in Deutschland, deren Zahl sich alljährlich um 6.000 TU-Absolventen vermehrt - liefert sich einen Kulturkrieg, der in Wahrheit ein Krieg um Aufträge ist. Denn ganzen Seilschaften kommt die öffentliche Anerkennung abhanden, also genau das, was Kahlfeldt-Architekten in reichem Maße zuteilwird.
Erst kürzlich hatte der Wirtschaftswissenschaftler Friedrich Thiessen (TU Chemnitz) in einer von der Fachöffentlichkeit bis heute standhaft ignorierten repräsentativen Umfrage für die Immobilienwirtschaft ermittelt, dass die Publikumsgunst heute tatsächlich nicht mehr den "reinen Formen unter dem Licht" gehört.
"Es zeigt sich", so schreibt er, "dass die Homogenität von Gebäudeensembles einen hohen Stellenwert hat. Fassaden von Immobilien sollen abwechslungsreich gestaltet sein. Zu schlichte, zu karge Fassaden entsprechen nicht den Wünschen der Menschen. Der Bauhausstil wird überwiegend kritisch gesehen. Häuser im Bauhausstil, die derzeit in jede Baulücke gebaut werden und traditionelle Gebäudeensemble auseinanderreißen, sind eine große Gefahr für die Homogenität von Siedlungen. Eine signifikante Mehrheit präferiert es, wenn Baulücken mit angepassten Häusern gefüllt werden, welche die Homogenität des Gesamtensembles nicht angreifen."
Einer ganzen, nicht mehr ganz so jungen Generation von Architekten kommt mehr und mehr die Deutungshoheit für das, was "zeitgemäß" - nicht etwa zeitlos gültig - sein soll, abhanden. Sie meinen, die Zeitgemäßheit mit neuen Baumaterialien, rationellen Bauverfahren und der Erfüllung von funktionalen und konstruktiven, neuerdings ökologischen Ansprüchen zu gewährleisten. Aber diese Einschätzung versagt an der Tatsache, dass das Publikum, sprich: die Gesellschaft, von Architektur mehr verlangt.
"Melancholie und Kälte"
Sozial ist, was gesellschaftlich Anklang findet, als "schön" und "harmonisch" empfunden wird, Gemeinschaft stiftet und Geborgenheit verheißt. Mit zweckrational-"billiger" Gestaltung, mit der Schönheit der nackten Zweckform und der Wahrheit rationeller und schnörkelloser Bauweisen allein lassen sich diese Ansprüche nicht einlösen, erst recht nicht mit willkürlich und stillos auf die Dächer geklatschten Solarpaneelen und Plattenbau.
Die Untersuchungen des Teams um den Ökonomen Friedrich Thiessen beweisen, dass sich die Vermittelbarkeit des einst so gerühmten Ethos der Architekturmoderne erschöpft hat. In einem Essay über "Melancholie und Kälte in Smart-City-Entwürfen und Stadtvisionen" kommen die Stadtsoziologin Martina Löw und der Architekt Jörg Stellmann zu dem Schluss: "Die moderne Stadt mit Möglichkeiten für alle bleibt ein erstrebenswertes Ideal, und doch ist diese Moderne seit Rousseau über Marx bis hin zu Adorno als kalt und entfremdet beschrieben worden."
Heute fühle sich der Europäer zunehmend von der "Angst vor dem Verlust von Leidenschaft und Melancholie" und von der "Angst vor der technischen Steuerung menschlichen Handelns" beschlichen. Was einmal die Motorik der Moderne war, erscheine nun verdächtig. "Es fällt uns schwer, vom Neuen (zum Beispiel im Neubau) das Bessere zu erhoffen." Viele Architekten scheinen außerstande, das nachzuvollziehen.
Dresden, Potsdam, Frankfurt
Eine Reaktion darauf sehen Löw/Stollmann gerade in dem, was auf den ersten Blick nicht "zeitgemäß" ist, etwa in den "Schlössern und Fachwerkhäusern, die im ganzen Land neu gebaut werden". Tatsächlich hat das "traditionelle" Bauen einen nie voraussehbaren Auftrieb erfahren. Man denke nur an die zahlreichen Rekonstruktionsprojekte, die neuen Altstädte in Dresden, Potsdam, Frankfurt.
Auch jüngste städtebauliche Vorhaben, der Rückbau von Straßen, die Anlage neuer Stadtparks und Grünoasen, die Neuanpflanzung von Alleen und die Wiederentdeckung innerstädtischer Wasserläufe lassen - bei allen Skurrilitäten, die dabei passieren - das Bild der "europäischen Großstadt" wiederauferstehen, so wie sie die Impressionisten vor 120 Jahren auf ihren Gemälden gefeiert haben.
Was die Mitgliedstaaten der EU 2007 in der "Leipzig-Charta" als Antithese zur Charta von Athen formuliert haben, ist nichts anderes als die Revision all der geheiligten Grundsätze, die einmal Leitbilder der Architekturmoderne waren: Flächensanierung, Verkehrsgerechtigkeit, Funktionstrennung. Heute weiß man, dass diese Grundsätze mitverantwortlich für einen hemmungslosen Ressourcenverbrauch, Flächenfraß, Naturzerstörung, Verkehrslawinen und klima- und gesundheitsschädliche Emissionen waren.
Architekten, die sich von Kritik betroffen fühlen, sprechen gern von "Populismus" und nehmen für sich das Recht des Künstlers in Anspruch, über ihre Werke autonom und ohne Einspruch von "Laien" zu entscheiden. Innovation verlange die Kühnheit des Schöpfers, mit Konventionen zu brechen. Alles Neue sei provokant, dürfe grundsätzlich nie auf Anhieb "gefallen".
Architektur ist nicht die Privatsache von "Künstlern"
Wie sehr sie irren! Architektur kann niemals die Privatsache von "Künstlern" sein, sondern ist öffentliche Angelegenheit. Sie war immer und bleibt auch heute nur einem Herrn verpflichtet: der Gesellschaft. Als Friedrich Schinkel sein Schauspielhaus in Berlin vollendet hatte, brachten ihm die Berliner Fackelzüge und Ovationen bis vor sein eigenes Haus dar. Sie riefen nach ihm, wollten ihn auf dem Balkon sehen. Der Bescheidene zögerte lange, sich zu zeigen. Als er schließlich heraustrat, brandete der Jubel bis zu ihm hinauf. Schnell zog er sich hinter die Gardinen zurück.
Architektur, Neuheit, künstlerische Schöpfung muss nicht "provozieren", um "groß" zu sein und Geschichte zu schreiben. Das wusste keiner so gut wie der große Klassizist. Der hatte seinen Neubau mitten im Aufbruch der industriellen Revolution in den Formen des klassischen Altertums gestaltet und stellte an sich und seine Fachkollegen den Anspruch, "Geschichte fortzusetzen".
Der tempelartige Bau am Gendarmenmarkt in Berlin steht noch immer, er wurde aus dem Kriegsschutt ins Leben der Stadt zurückgeholt und begeistert seine Besucher auch noch nach 200 Jahren, auch wenn der alte Saal nur in veränderter Form - immerhin in Schinkel-Design - zurückgekehrt ist. Vielleicht ist es wirklich so, dass das 21. Jahrhundert erst wieder lernen muss, die reine Zweckform mit dem Historischen und Poetischen zu versöhnen - auch und gerade in Berlin.
Harald Bodenschatz, Max Welch Guerra (Hg.): Altstadterneuerung in Diktaturen. Ein städtebauliches Erbe Europas. DOM Publishers, 192 Seiten, 68 Euro.
Wolfgang Pehnt: Städtebau des Erinnerns. Mythen und Zitate westlicher Städte. Hatje Cantz 237 Seiten, 44 Euro.