Berlins ältester Platz soll vom Verkehr befreit werden. Die „öffentliche Werkstatt“ offenbart noch viele ungeklärte Fragen.
Berliner Morgenpost vom 04.02.2022 von Isabell Jürgens

Lassen sich die Wunden, die die Stadtplanung in der Zeit des Nationalsozialismus, Kriegszerstörungen und die Verkehrsplanungen aus der DDR-Zeit Berlins ältestem Platz, dem Molkenmarkt, geschlagen haben, wirklich heilen? Und wenn, mit welchem städtebaulichen Konzept? Auf diese Frage suchten am Donnerstagabend in einer mehrstündigen „öffentliche Werkstatt“ mehr als 130 interessierte Bürger eine Antwort. Grundlage der Online-Diskussion, zu der die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung eingeladen hatte, waren die beiden Siegerentwürfe eines städtebaulichen Wettbewerbs, der Ende 2021 entschieden wurde. Deutlich wurde dabei vor allem eins: Die Auseinandersetzung darüber, was dort eigentlich entstehen soll, ist noch lange nicht vorbei.

Im Laufe des Abends hatten die Verfasser der beiden Siegerentwürfe die Gelegenheit, ihr jeweiliges Konzept vorzustellen, das aus dem stark frequentierten Verkehrsknotenpunkt auf der Rückseite des Berliner Rathauses wieder ein lebenswertes Quartier machen soll. Der eine Entwurf stammt vom Planungsteam OS Arkitekter/cka Czyborra Klingbeil, der zweite von Bernd Albers, Gesellschaft von Architekten/Vogt Landschaftsarchitekten.

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Beide Teams betonten zunächst, dass durch den bereits bestehenden Bebauungsplan und die Lage zwischen den verkehrsreichen Straßen zahlreiche Vorgaben zu beachten waren. Damit hier ein neues Viertel mit Büros, Gewerbe, Kultureinrichtungen und Wohnungen verschiedener Größe für etwa 1000 Bewohner entstehen kann, wurde 2016 ein Bebauungsplan aufgestellt, der die Grunerstraße weiter an das Rathaus heranrückt und verschmälert, die Parkplätze beidseits der Grunerstraße vor dem Roten Rathaus und dem Alten Stadthaus auflöst und auf den dadurch gewonnenen Freiflächen Platz für neue Baublöcke schafft. 2019 begannen die ersten vorbereitenden Bauarbeiten: Auf den früheren Parkplätzen legten Archäologen Relikte aus 800 Jahren Stadtgeschichte frei. Auch die archäologischen Spuren sollen in den künftigen Planungen berücksichtigt werden.

Ökologisches Stadtquartier in Holzbauweise

Marek Czyborra stellte den stadtplanerischen Vorschlag für das Team OS Arkitekter/cka Czyborra Klingbeil vor. „Unser Anspruch ist, nachhaltig, ökologisch, gesund und kostensparend im urbanen Kontext zu bauen “, stellte Czyborra voran. Durch die Errichtung der Gebäude in Holzbauweise solle das Quartier vor allem den modernen Anforderungen entsprechen. Flexiblen Grundrisse sollen das Quartier zudem wandelbar für verschiedene Nutzungsanforderungen machen: „Die Stadt der Zukunft ist veränderlich“, so der Architekt.

Die vier vorgesehenen Blöcke sollen zu den Verkehrsachsen eine „präzise Kante“ bilden, im Inneren jedoch durch Vor- und Rücksprünge sowie Höhensprünge an die ehemals sehr kleinteilige Bebauung erinnern und deren sehr unterschiedlich gestalteten Fassaden. Geschlossene Blöcke und Hinterhöfe soll es dagegen nicht geben, die großen, begrünten Innenhöfe sollen öffentlich zugänglich sein. Zwei Blöcke bekommen gar keine „Rückseite“ – hier soll Platz für eine Kita und kulturelle Nutzungen entstehen. Die Erdgeschossbereiche sollen mit kleinteiligem Gewerbe für Leben sorgen. In den Innenhöfen soll im Erdgeschoss auch gewohnt werden. Die Rekonstruktion des historischen Stadtgrundrisses ist, auch dort, wo es noch möglich wäre, nicht vorgesehen. Eine Neuinterpretation des Großen Jüdenhofs sei jedoch geplant: „In Form eines modernen Fachwerks, dass an die mittelalterliche Bauweise erinnert“, so der Architekt. Autos sollen weitgehend draußen bleiben, ein sicheres Fahrradwegenetz für moderne Mobilität sorgen, ein zudem Kulturpfad quer durch das Quartier führen und die historischen Spuren erlebbar machen.

„Könnte so auch in Tegel oder Adlershof stehen“

Bei den Bürgern kamen diese Vorschläge nur zum Teil gut an. So äußerten viele Teilnehmer der Diskussion die Bedenken, dass es für die Belebung der Erdgeschosse mit kleinen Läden und Werkstätten nicht genügend Bedarf gibt und Leerstand droht, bei zu vielen Cafés und Kneipen und touristischen Nutzungen dagegen gerade auch in den öffentlich zugänglichen Höfen ein Nutzungskonflikt mit den künftigen Bewohnern drohe. Positiv wurde von einigen bewertet, dass der Plattenbau Klosterstraße 44, die ehemalige „Verstärkerstelle West“ der DDR-Post als Atelierhaus erhalten werden soll. Vielen fehlte allerdings der Bezug zur Berliner Altstadt. Das Quartier könne genauso auch in Adlershof oder Tegel entstehen, war einer der Kommentare im Chatverlauf.

Neuinterpretation des historischen Stadtgrundrisses

Die Architektin Silvia Malcovati vom Planerteam Bernd Albers, Gesellschaft von Architekten/Vogt präsentierte dagegen eine „Neuinterpretation des historischen Stadtgrundrisses“ auf Grundlage der Situation vor den Abrissen aus der Nazizeit. Nur wo es aufgrund der vorgegeben Parameter im Bebauungsplan , entlang der Grunerstraße und entlang des Molkenmarktes nicht möglich sei, sollen größere Haustypologien dominieren, führte die Architektin aus. Entlang der Parochialstraße sind dagegen schmale Stadthäuser auf der Breite der historischen Parzellen – als „Rückgewinnung der bürgerlichen Wohn- und Geschäftshäuser“, erläuterte Silvia Malcovati.

Anders als beim anderen Wettbewerber schafft die kleinteilige Gebäudestruktur hier teils abgeschlossene Innenhöfe, die lediglich für die Mieter der Häuser zugänglich sein sollen. Zudem gibt es aber auch teilöffentliche Hofbereiche, die nach 22 Uhr abgeschlossen werden sollen, wie dies etwa beim Tempelhofer Feld oder bei den hinteren Höfen der Hackeschen Höfe der Fall sei. „Der Große Jüdenhof soll wieder definiert werden“, rund herum seien kleine Häuser mit teils historischen Fassaden und vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten vorgesehen. Die zerstörte Französische Kirche an der Klosterstraße soll als Bodendenkmal sichtbar gemacht werden. Den Erhalt des Plattenbaus Klosterstraße 44, den die Wettbewerbsjury dem Architektenteam schon vorab als ausdrücklich erwünscht mit auf den Weg gegeben hatte, „versuchen wir so zu entwickeln, dass es sich in die Planungen einfügt“, versicherte die Architektin.

Zweifel an der Finanzierbarkeit des Entwurfs

Auch hier überzeugten nicht alle Details, auch wenn die meisten Teilnehmer lobten, dass immerhin mehr Rücksicht auf die Geschichte des Ortes genommen werde. Viele äußerten Zweifel, dass angesichts der Vorgaben des Sozialen Wohnungsbaus – immerhin sollen die Landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften hier Wohnungen bauen , die zu 50 Prozent mit Sozialbindung für 6,50 Euro Miete je Quadratmeter entstehen, die übrigen 50 Prozent sollen im Schnitt für zehn Euro je Quadratmeter vermietet werden – die gewünschte Qualität der Bauten finanziell überhaupt drin sei. Und wie auch schon beim ersten Entwurf gab es Zweifel daran, dass die gewünschte Belebung der Erdgeschosse durch Handel, Gastronomie und Kultur überhaupt gelingen kann.

Das Berliner Abgeordneten muss auch noch entscheiden

Beide Teams betonten am Ende der Werkstattrunde, dankbar für die Anregungen und Bedenken der Werkstatt-Teilnehmer zu sein und sie in der weiteren Bearbeitung ihrer Entwürfe beherzigen zu wollen. Im April werden sie ihre überarbeiteten Entwürfe dann auf einer zweiten Werkstattveranstaltung vorstellen. Im Juli will die Jury schließlich entscheiden, welcher Entwurf das Rennen macht.

Bislang ist vorgesehen, dass die landeseigenen Grundstücke von den kommunalen Baugesellschaften Degewo und WBM bebaut werden. Die Parkplätze am Jüdenhof gehören dagegen dem Bund, der dort durch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BIMA) ebenfalls Wohnungen errichten soll. Ferner gibt es noch einen privaten Immobilienbenutzer, dem die Klosterstraße 44 gehört. Ob und in welcher Form auch Genossenschaften, Baugruppen oder private Stiftungen zum Zuge kommen sollen, ist noch offen. Entscheiden soll dies das Berliner Abgeordnetenhaus noch in diesem Jahr – sobald der endgültige Entwurf vorliegt. Erst dann soll auch ein Wettbewerb zur Architektur der Gebäude im neuen Quartier stattfinden. Bis am Molkenmarkt tatsächlich ein belebtes Quartier entstehen kann, ist es noch ein langer Weg.

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