Berliner Morgenpost vom 13.02.2022 - von Uta Keseling

Drei Damen erinnern daran, was einmal war. „Victoria“ schwebt mit kupfergrünen Flügeln über Erdhügel, Müll und heruntergekommene Sozialwohnungsbauten. Der „Friede“ ihr gegenüber ist eine streng dreinschauende Dame mit Schwert und Kranz. Daneben konzentriert sich die „Geschichtsschreibung“ auf ihre marmorne Schreibtafel, die mit drei Jahreszahlen an die Befreiungskriege erinnert. 1813, 1814, 1815 waren mal identitätsstiftende Jahreszahlen in Europa. Mit schwarzem Filzstift hat jemand darunter gekritzelt: „Ich ficke diese Fotzen.“

Der widerliche Satz steht dort schon lange. Und ja, man kann darüber hinwegsehen. Aber vielleicht ist es genau das, was Berlin schon viel zu lange tut – darüber hinwegzusehen, was mit der Friedrichstraße eigentlich passiert. Und zwar nicht nur auf jenen 600 Metern Radschnellweg in der Mitte, Symbol grüner Verkehrspolitik oder auch Stadtzerstörung, je nach Lesart. Sondern auf den gesamten 3,3 Kilometern, vom Halleschen Tor in Kreuzberg bis zum Oranienburger Tor in Mitte. Auf dem Stadtplan liegt die Straße wie ein Thermometer im Häusermeer. Eine Straße wie ein Messinstrument des Seelenzustands der Stadt: Jeder Meter erzählt Berliner Geschichte, von Gründerzeit, Kriegen, Krisen, Teilung und Zusammenwachsen – und von gelungener und weniger gelungener Stadtplanung.

Hans Stimmann, Berlins prägender Stadtbaudirektor der 1990er-Jahre, protestierte im Januar in der „FAZ“ gegen die „technokratische Verkehrswende “, mit der man derzeit die Berliner Stadtmitte ruiniere. Nicht Fußgängerzonen, sondern „großstädtischer Verkehr “ aus Fahrzeugen und Fußgängern sei für die Friedrichstraße typisch, die ja einst als Nord-Süd-Achse der barocken Dorotheen- und Friedrichstadt angelegt wurde. Gleichzeitig führte Stimmann vor, wie Fußgängerzonen-Denken schon früher zum Gesichtsverlust einer der wichtigsten Straßen Berlins beitrug. Von Hans Scharouns Plan zum Wiederaufbau Berlins , in dessen Folge der Mehringplatz zur Fußgängerzone wurde, bis zu einem geplanten Fußgängerbereich zu DDR-Zeiten.

Der heutige Mehringplatz: Vorbild war die Piazza del Popolo in Rom

Am Mehringplatz beginnt die ganze Geschichte. Friedrichstraße Nr.1 ist ein grauer Betonklotz der 1970er-Jahre mit einem Schild: „Integrationshaus“ als Hinweis. Die Gegend drumherum galt lange als ärmste Berlins . Bis 1946 hieß der Platz Belle-Alliance-Platz (Stichwort Befreiungskriege). Künstlerisch gestaltet hatte ihn ab 1842 Peter Joseph Lenné. Der runde Platz selbst war schon im 18. Jahrhundert angelegt worden, als „Rondell vor dem Halleschen Thore“, Vorbild war die Piazza del Popolo in Rom. Dort empfing die Stadt seit der Antike ihre Besucher aus Norden.

Der Mehringplatz empfängt niemanden. Richtung Hallesches Tor (heute ein U-Bahnhof) präsentiert er sich als Rückseite – um das Lenné’sche Rondell steht seit den 1970er-Jahren eine Sozialwohnungsanlage. Die halbrunden Wohnriegel mit Balkonen und torartigen Durchgängen könnten schön sein, wäre der Platz nicht seit Jahren eine heruntergekommene Baustelle, die Durchgänge voller Müll, Matratzen und Exkrementen, stünden Geschäfte und Wohnungen nicht großenteils leer. An den Haustüren klebt ein Plakat der Polizei: „Versuchter Totschlag“.

„Wollen Sie die Wahrheit wissen?“, schimpft eine Anwohnerin: „Seit 13 Jahren wird hier gebaut, wird der U-Bahnhof saniert, es gibt Ratten, Verwahrlosung, die Hausverwaltung lässt die Gebäude verwahrlosen.“ Tatsächlich wird der Platz, Teil des „Fördergebiets südliche Friedrichstadt“, derzeit für 5,6 Millionen Euro aus Denkmalschutzmitteln umgestaltet – so steht es auf einem umgefallenen Schild hinter den Bauzäunen. Geplant sei eine „Erhöhung der Aufenthaltsqualität“ durch ein Rasenrondell, Fahrrad- und Fußwege – Vorstadtidylle mitten in der Stadt. Laut Schild ist der Platz seit vergangenem Jahr fertig, doch noch bleibt ein gläserner U-Bahn-Aufzug die einzige Versuchung in der Wüste: um schnell wieder abzutauchen.

Die Friedrichstraße, benannt im 1700 nach Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg: Bis zum Checkpoint Charlie kann man sie heute als Berlin -Shortstory lesen. Bausünden und Brutalismus der 1970er-Jahre stehen neben Gründerzeit-Häusern, die Polizei samt „Tatort“-würdiger Pommesbude residiert neben Leerstand und preisgekrönter Architektur wie dem bunten „Taz“-Haus. In den Schaufenstern liegt Billigware neben Design, arbeiten Filmproduktionsfirmen („We’re hiring“) neben Umschulungsträgern der Nachwendezeit. Hinter dem Schaufenster eines der angesagtesten Restaurants Berlins wird am Nachmittag eine Tafel gedeckt, Pandemie hin oder her. Das „Nobelhart & Schmutzig“ hat als Motto „brutal lokal“, was sich einerseits auf die regionalen Lebensmittel bezieht, genauso aber den Standort meinen kann. Die Kreuzberger Seite der Friedrichstraße ist derzeit sehr viel mehr „ Berlin “ als der berühmte Norden.

Danach wird es still. Ecke Kochstraße stehen Gründerzeithäuser leer, auch über den Checkpoint Charlie ist man schnell hinweg. Selbst während der Lockdowns suchten hier Touristen den Einstieg in Berlins Kalte-Kriegs-Geschichte – und fanden sich zwischen Bretterzäunen und Buden wieder. Die Kreuzung, wo sich im Kalten Krieg die Panzer gegenüberstanden, bleibt eine traumatische, taube Stelle im Stadtgefühl. Hier wurde um Bau und Gestaltung so viel gestritten, dass man es vielleicht nur noch psychologisch erklären kann: Die Erinnerung verschiebt, was es nicht fassen kann, ins Trauma.

Der derzeit vielleicht virulenteste Teil der Friedrichstraße beginnt an der Leipziger Straße mit drei rot-weißen Baken. Sie markieren seit August 2020 ein grünes Verkehrs -Experiment, mit dem Berlin derzeit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt ist. Der autofreie Verkehrsversuch auf 600 Metern, apostrophiert als „Flaniermeile“ und „Modellversuch“, umgesetzt als provisorischer Radschnellweg mit Blumenkübeln im Berliner Baustellencharme : Man konnte ahnen, dass eine solche Aktion auf der Friedrichstraße in Mitte eine andere Art Protest hervorrufen würde als im experimentierfreudigen Kreuzberg, wo Ähnliches an der Bergmannstraße versucht wird. Doch der grüne Traum vom autofreien „Bullerbü“-Leben an der Friedrichstraße eskalierte so dermaßen, dass es lohnt, genauer hinzuschauen.

Hinter den Baken fällt der Blick auf leere Pflanzkübel und verlassene Parklets. In Kunststoff-Gewächshäusern am Straßenrand langweilen sich noch weihnachtliche Zweige, manche sind dekoriert, andere leer. „Showrooms“ hießen die Gewächshäuser in den Beschreibungen des federführenden Bezirks Mitte, der sie 2020 aufstellen ließ, begleitet von Infos zur „Flaniermeile“ an Litfaßsäulen und Pressekonferenzen. Jetzt stehen sie da wie vergessenes Spielzeug. Oder auch als Symbol, wie schnell im politischen Berlin manche Projekte angefangen und dann vergessen werden. Parallel zur Aktion sollte es Befragungen und Auswertungen geben. Doch währen Berlins Radfahrer die Straße als Rennstrecke längst für sich vereinnahmt haben, steht die Auswertung, wenn man so sagen will, noch aus.

Hinter den Baken präsentiert sich das großstädtische Leben an diesem Tag, es ist ein Mittwoch um 16 Uhr, in Gestalt zweier Männer, die sich im Windschatten des U-Bahn-Aufzugs einen Joint teilen. Passanten laufen ratlos von Geschäft zu Geschäft. Schaufenster sind leer oder frisch zugeklebt. Der „Starbucks“ verweist per Aushang Kunden auf eine Filiale 800 Meter weiter, außerhalb der Flaniermeile. Das Feinkostgeschäft Lindner hat momentan nur bis 15.30 Uhr geöffnet. Etwas weiter steigen ein paar junge Leute über einen weggeworfenen Weihnachtsbaum, hoffnungsfroh. Dahinter liegt ein geöffnetes Café.

Gucci, Escada, Etro, es sind schon viele Namen von der Friedrichstraße verschwunden, oft Richtung Westen. Gerade hat im Quartier 205 das Designer-Geschäft Iittala seine Schaufenster zugeklebt: Die edle Keramik gebe es ab jetzt nur noch im KaDeWe, steht auf der Folie. Die Inhaberin einer kleinen Boutique nutzt die kundenlose Zeit zum Fensterputzen. Sie seufzt. Sie möchte nicht mit Namen in die Zeitung. Aber sagt sie: der Schaden durch Corona und der Radweg seien nur das eine, Geschäfte wandern dagegen schon seit vielen Jahren hier ab. Begonnen habe es mit der „Mall of Berlin “, die vor acht Jahren an der Leipziger Straße eröffnete, meint sie. Und auch, wenn es dort auch nicht besser laufe – dass die Geschäfte zurückkommen, erwartet sie nicht. „Viele haben woanders langfristige Verträge.“

Den Radweg finde die Händlerin nicht störend, sagt sie, aber eine Frage an die Planer habe sie doch. „Wenn es eine Flaniermeile sein soll, wieso hat man die Fußwege nicht verbreitert und bietet den Fußgängern wirklich etwas?“ Dann steht doch noch jemand in der Ladentür. Ein Stammkunde. Freudiges Wiedersehen.

Die Abwanderung ist seit langem ein Problem. Schon bei der Eröffnung der architektonisch ambitionierten neuen Friedrichstadtpassagen Mitte der 1990er-Jahre, mit Galeries Lafayette und dem Art-Déco-Quartier 206, war die Frage, ob Berlin zusammenwachsen oder ob genug Kaufkraft für zwei konkurrierende Zentren haben würde – rund um den Kudamm und in der historischen Mitte . Bis heute gibt es zwei Standortvertretungen der Gewerbetreibenden. Die AG City spricht für den „Westen“ am Kudamm, Die Mitte e.V. vertritt den „Osten“ rund um die Friedrichstraße . Und fordert den sofortigen Abbruch des Verkehrsversuchs. Dieser habe Anrainern und Betroffenen enorme Schäden gebracht, sagt Rainer Boldt, langjähriger Vorsitzender der Interessengemeinschaft Friedrichstraße, heute Die Mitte eV. Boldt, von Beruf Banker, begleitete den Wiederaufbau der Friedrichstraße nach dem Mauerfall. Die Passantenfrequenzen seien durch den Modellversuch noch weiter zurückgegangen als durch den jahrelangen U-Bahnbau rundherum, sagt Boldt.

Dabei hatte vor gut zwei Jahren alles nach Neuanfang ausgesehen, sagt Conrad Rausch, der heutige Sprecher von Die Mitte e.V., die rund 170 Gewerbetreibende vertritt. Damals hatten der Bezirk Mitte und die Senatsverwaltungen für Verkehr sowie Wirtschaft zu einer großen Versammlung eingeladen, Thema: die Zukunft der Friedrichstraße. Ein Moderator sollte eine Potenzialanalyse vorstellen, auf dem Podium saßen die Staatssekretäre der grün geführten Senatsverwaltungen für Wirtschaft und Verkehr, außerdem Mittes Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne), erinnert sich Rausch – „und auf Seiten der Anrainer etwa 1,5 Millionen Euro Jahreseinkommen“.

Um 19 Uhr sind die Bürgersteige der Flaniermeile hochgeklappt

Doch statt einer angeregten Diskussion gab es Empörung. Just am Morgen war in der Berliner Morgenpost der geplante Verkehrsversuch an der Friedrichstraße vorgestellt worden. Die Veranstaltung, so schildert es Rausch, endete im Streit. „Da wurde natürlich gefragt, wozu man uns einlud, wenn alles schon beschlossen war.“ Am selben Tag noch habe die damalige Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) eine Presseerklärung herausgegeben lassen und damit die Diskussion beendet, bevor sie überhaupt begann. Seitdem, fasst Conrad Rausch zusammen, sei im Grunde nichts weiter passiert – „außer der Straßensperrung und Streit.“ Der 56-Jährige ist PR-Mann, er klingt jetzt noch fassungslos über die Art der Kommunikation. Zwar habe es eine Art Entschuldigung gegeben. Doch der Verkehrsversuch blieb in der Hand der Verkehrsverwaltung, die zwar im Herbst ankündigte, dass der Abschnitt dauerhaft autofrei bleibt, sonst aber nicht viel. Auf Anfrage teilte die Verwaltung nun mit: Der Abschlussbericht zum Verkehrsversuch werde „Ende des 1. Quartals vorliegen“, samt Ergebnissen aus „umfangreicher Untersuchungen“ und Befragungen zu Verkehr, Umwelt und Wirtschaft. Am Aussehen solle sich jedoch nicht viel ändern. „Im April werden zusätzliche Sitzmöbel inklusive Pflanzbeeten geliefert“, heißt es – und dass „insbesondere die sogenannten Showcases“ „sehr beliebt und stetig genutzt seien“.

Also bleibt alles, wie es ist? Schon im Wahlkampf im vergangenen Sommer hatte sich Bettina Jarasch, Spitzenkandidatin der Grünen, von ihrer Parteikollegin Günther in Sachen Friedrichstraße distanzierte. Im „Tagesspiegel“ wurde Jarasch jetzt noch deutlicher: Die Umsetzung an der Friedrichstraße sei „trotz vieler positiver Effekte im ersten Anlauf noch nicht gelungen“.

Man müsse mit der Planung noch einmal bei Null anfangen, und zwar bald, fordern dagegen Rausch und seine Mitstreiter. Er selbst sei weder gegen einen Radweg noch gegen den Wegfall von Parkplätzen. Er schlägt eine Einbahnstraßensystem um die Friedrichstraße vor. Statt der Erd-Container solle man besser Fassaden begrünen. Und in Sachen „autofrei“ merkt sein Mitstreiter Rainer Boldt an: Wenn der Gendarmenmarkt demnächst für zwei bis drei Jahre zur Großbaustelle werde, müsse ohnehin eine andere Lösung her. Denn hier staut sich momentan der von der Friedrichstraße verdrängte Verkehr.

Auch diese Woche war die Kritik am Verkehrsversuch wieder Thema, als der neue Eigentümer des Quartiers 207 der Friedrichstadt-Passagen vor die Presse trat. Florian Reiff, Deutschlandchef des US-Immobilienkonzerns Tishman Speyer, formulierte es diplomatisch: „Grundsätzlich begrüßen wir eine Aufwertung dieses Abschnitts der Friedrichstraße für Fußgänger und Radfahrer“, die derzeitige Umsetzung habe aber „sicherlich deutliches Verbesserungspotential“. Das Quartier 207 beherbergt das berühmte Kaufhaus Galeries Lafayette, auch das Quartier 205 gehört Tishman Speyer. Sein Unternehmen begrüße eine weitere Verbesserung der Umsetzung vor Ort, so Reiff, und sei „auch gerne bereit, sich aktiv einzubringen“.

Im benachbarten Quartier 206 herrscht schon seit Jahren andächtige Stille zwischen immer mehr geschlossenen Läden. Dem Art-déco-Palast, den Immobilienfonds-Unternehmer Anno August Jagdfeld vor genau 25 Jahren stolz eröffnete, drohte über die Jahre mehrfach die Zwangsversteigerung. Seit einem Gerichtsentscheid im Herbst gehört es wieder zur Jagdfeld Gruppe, doch noch gibt es nur vage Aussagen, wie es weitergeht. Im „Q206“ verquirlen Rolltreppen einsam die Luft, doch wer durchs Untergeschoss ins Lafayette läuft, taucht auf einer Insel des Normalen wieder auf: Wenn überhaupt, dann ist es in diesen Tagen die französische Gourmet-Abteilung des Kaufhauses, die im „Versuchs“-Teil der Straße Kunden anlockt. Hier duftet es nach Gebäck, es wird gestaunt, geklönt und gedrängelt, man sitzt beim Champagner oder Kaffee oder Tee. Alles ist fast wie immer, bis auf die Masken. Und bis auf die Touristen, die bis zur Pandemie den riesigen Glastrichter im Innern des Gebäudes bestaunten. Das Gebäude nach dem Entwurf des französischen Stararchitekten Jean Nouvel steht in jedem Reiseführer.

Nach 18 Uhr untermalt im Versuchs-Teil der Friedrichstraße das Surren und Klicken der Fahrräder die Stille. Ein Skateboarder konzentriert sich beim Fahren auf sein Handy, Touristen fotografieren die leere Straße, ein Obdachloser richtet sich in einem Parklet ein. „Können wir weitergehen?“, fleht eine Dame ihren Mann an, das Paar steht an einem geschlossenen Designergeschäft.

Unter den Linden verkünden Reifenquietschen und Sirenengeheul die beruhigende Botschaft, dass die Bürgersteige in Berlin -Mitte um 19 Uhr doch nicht überall hochgeklappt sind. Vor dem Kulturkaufhaus Dussmann lässt wie immer ein Saxophonist seinen Schmusejazz durchs Gedrängel fließen. Das Gebäude, 1997 vom Reinigungs-Riesen Peter Dussmann eröffnet, hat übrigens seit langem im Innern einen vertikalen, haushohen Garten. In die Geschichte ging es auch wegen der Öffnungszeiten ein: Hier kann man, dank eines Tricks, seit Jahren bis Mitternacht einkaufen.

Ist die Friedrichstraße ein Ort zum Verweilen, will sie das überhaupt sein, war sie es je? Wer die Straße heute verstehen will, muss in vielen Epochen zugleich denken. Zu DDR-Zeiten etwa plante man zwischen Grand Hotel Ecke Unter den Linden (eröffnet 1987, heute Westin Grand) und Friedrichstadt-Palast (Einweihung 1984) einen 60 Meter breiten „Fußgängerbereich“, der aus naheliegenden Gründen nicht „Zone“ hieß – Ältere erinnern sich noch an den zurückgebauten „Lindencorso“ Unter den Linden . Viel weiter kam die Fußgänger-Idee damals nicht. Doch wer weiß noch, dass an derselben Stelle bis Kriegsende das Kaffeehaus „Café Bauer “ stand? Und wer kann, umgekehrt, aus dem Kopf sagen, was dort heute steht? Das Geschäftshaus „Upper Eastside“ soll die einstigen Architekturlinien aufnehmen, tut dies aber, nun ja, eher unauffällig.

Der Norden der Friedrichstraße pflegt bis heute seinen Ruf als einstige Amüsiermeile, Theaterviertel, Treffpunkt der Intellektuellen seit der Gründerzeit. Doch am lebhaftesten ist sie wahrscheinlich noch immer am Bahnhof Friedrichstraße. Gegenüber steht der restaurierte Admiralspalast, etwas weiter die großen Theater. Wenn es Abend wird, steigen im Bahnhof Theatergäste, Bundespolitiker und Promis aus den S-Bahnen, unter den Brücken wohnen seit Jahren Obdachlose. Hinter dem Bahnhof bewahrt der „Tränenpalast“ die Erinnerung an die Teilung, die hier bis 1989 die Stadt und das Leben der Menschen zerriss. Am Abend leuchtet der gläserne Zweckbau der 1960er-Jahre fast unwirklich heimelig über die Spree.

Die Friedrichstraße endet, wie sie beginnt: mit einer Baustelle. Das Tacheles, Berlins vielleicht weltberühmteste Kultur-Ruine der 1990er-Jahre, ist Geschichte. Auf dem Areal der Kaufhaus-Ruine Ecke Oranienburger Straße ist im Schatten der Pandemie ein neues Stadtviertel gewachsen. Noch pfeift der Wind durch die fast fertige Häuserschlucht – die ersten Gebäude sollen 2022 bezugsfertig werden, die Eigentumswohnungen sind zu Millionen-Preisen schon auf dem Markt. Geplant ist unter anderem ein Fotografiemuseum im historischen Gebäude, ein Lebensmittelmarkt – und ein Stadtplatz mit Fußgängerzone. Die Beschreibung klingt fast so wie das Sozialbau-Konzept am anderen Ende der Straße. Nur dass die Welten, zu denen Planungsideen wie die Bewohner gehören, viel weiter auseinanderliegen als 3,3 Kilometer.

Wir fordern den sofortigen Abbruch des Verkehrsversuchs an der Friedrichstraße

Conrad Rausch,  Sprecher der Standortvertretung Die Mitte