Der vor 250 Jahren geborene Friedrich Gilly war Vordenker der Moderne und hat dadurch die Architekturgeschichte geprägt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.02.2022 von Ulf Meyer

Als "größtes Genie im Baufache " galt Zeitgenossen in Preußen im ausgehenden 18. Jahrhundert Friedrich Gilly, dessen Werke den Klassizismus mit der Revolutionsarchitektur aus Frankreich verbanden, dem Land also, aus dem seine Familie hundert Jahre zuvor nach Preußen geflohen war. Obwohl Gilly schon im Alter von 28 Jahren starb und nur ein einziges kleines Bauwerk von ihm in ruinösem Zustand erhalten ist, ist der Architekt bis heute wirkmächtig. Gillys Entwurf für das Denkmal für Friedrich den Großen von 1796 nahm Debatten, die bis heute den Architekturdiskurs prägen, vorweg, und auch sein Verständnis von modernem Städtebau war bahnbrechend.

Friedrichs Vater David Gilly brachte seinen Sohn als jungen Mann 1788 von Pommern nach Berlin , wo er an der Akademie der bildenden Künste Architektur studierte. Zu seinen Lehrern gehörten Koryphäen wie Carl Gotthard Langhans und Johann Gottfried Schadow, die führenden Vertreter des frühen Neoklassizismus in Deutschland.

Gebaut hat Gilly wenig. Nur selten gründet ein großer Name auf einem derart schmalen OEuvre. Von seiner Handvoll ausgeführter Projekte ist nur das Mausoleum der Familie von Hoym bei Breslau als Ruine im Schlosspark von Dyhernfurth erhalten. Der schlichte dorische Tempel aus Sandsteinquadern diente bis zu seiner Zerstörung 1945 als Begräbnisstätte der Familie. Gillys Geniestreich war der Brückenschlag zwischen "griechischer Einfachheit" und dem "malerischen Blick" auf das Mittelalter. Als Oberhofbauinspektor und Lehrer von Karl Friedrich Schinkel schrieb sich Gilly in die Genese der modernen Architektur ein - als Dozent, Entwerfer und Autor. Im Jahr 1795 bekam Gilly 500 Taler als königliches Stipendium für eine vierjährige Studienreise nach Großbritannien, Frankreich und Mitteleuropa. Nach seiner Rückkehr wurde Gilly - wie zuvor sein Vater - Professor an der Bauakademie in Berlin . Seine wichtigsten Entwürfe blieben Papier oder wurden, wie im Fall des Nationaltheaters (als Schauspielhaus am Gendarmenmarkt) und der Nikolaikirche in Potsdam - erst nach seinem Tod im Jahr 1800 von seinem Schüler Schinkel ausgeführt. Gilly hatte den aufstrebenden Entwerfer als Mentor in seine "Privatgesellschaft junger Architekten" aufgenommen. Gilly gilt als "Meister des Meisters" und "Wegweiser für Schinkel". Das macht Gillys Bedeutung auch 250 Jahre nach seiner Geburt noch nicht allein aus. Es war sein Entwurf für das Denkmal für den Alten Fritz, der Schinkel zum Entschluss brachte, die Schule abzubrechen und bei ihm Architektur zu studieren, und der Gilly seinen Platz in der Architekturgeschichte sicherte. Der Entwurf war epochal, denn nach dem Tod Friedrichs des Großen 1786 gab es einen Bruch im Kunstgeschmack am Hof. In Wörlitz, dem berühmtesten Bauensemble der deutschen Aufklärung, wurde die "edle Einfachheit der Alten unter nördlichem Himmel" zum neuen Ideal der Baukunst .

Gillys Entwurf war keine bloße Reiterstatue, sondern ein Wahrzeichen, geformt wie ein "Tempel auf einem Podium", gerade so, wie anderthalb Jahrhunderte später Ludwig Mies van der Rohe es bei seinem Entwurf der Neuen Nationalgalerie vorsah. Das Friedrichsdenkmal, Gillys wichtigstes Werk, hat dem Klassizismus, Neoklassizismus und der Moderne entscheidende Impulse gegeben, die bis heute nachwirken.

Gilly als Architekturdenker und Protagonist der Moderne galt Kunsthistorikern als Beweis, dass eine "Harmonie von historischer Form und reiner Funktion" möglich war. Der berühmte Berliner Architekturhistoriker Paul Zucker schrieb Gilly einen "erstaunlichen Grad an zeitgenössischer Relevanz" zu. Gilly galt als Urahn des "preußischen Stils", dem eine Genealogie von Schinkel und Stüler über Messel zu Behrens und Mies zugeschrieben wurde.

Der konservative Kulturhistoriker Arthur Moeller van den Bruck nannte Gilly 1916 sogar den "ersten modernen Architekten", dem die "Synthese von Rationalismus und Neoklassizismus, von Logik und Schönheit, zwischen Preußen und Griechischem" zugetraut wurde. Erst der Zweite Weltkrieg zerstörte diesen Traum, und in der Bundesrepublik galt Klassizismus bisweilen gar als "ästhetischer Imperialismus".

Wichtiger als diese Querelen der Rezeptionsgeschichte sind Gillys städtebauliche Innovationen: Die "Quaderwelt" seiner ornamentlosen Bauten , sein Stil des "Primitiven in edelster Verkörperung", die flächigen Formen waren streng, praktisch und nüchtern. Gillys utopischer Idealentwurf für das Friedrich-Denkmal ging als "Tempel in einer urbanen Landschaft" in die Geschichte ein. Gilly missachtete die Auslobungsbedingungen des Denkmalwettbewerbs und schlug einen anderen Bauort vor: Er wählte den Leipziger Platz am Eingang zur Stadt statt an der Oper Unter den Linden. Ein Stadttor als nationales Denkmal zu interpretieren, lag damals nicht fern: Denn in dem Jahr, als das Brandenburger Tor von Langhans als erstes Großprojekt nach dem Tod Friedrichs II. eingeweiht wurde, war Gilly nach Berlin gezogen. Der Schüler von Langhans sah im Entwurf für das monumentale Denkmal des Preußenkönigs eine einmalige Chance, erneut eine Synthese von Tempel und Stadttor zu schaffen, die - wenn sie gebaut worden wäre - bis heute das Brandenburger Tor als Signetgebäude der Stadt und Nation überstrahlt hätte.

Das neue Verhältnis von Natur, Landschaft und Stadt drückte sich in der Kunst der architektonischen Promenade aus. Der rituelle Pfad führte hinauf in die Cella, die von oben durch eine Öffnung im Dach beleuchtet wird: An der Spitze sollte Friedrichs Sarkophag aufgestellt werden, mit Blick über die Friedrichstadt und den Tiergarten. Gilly führte Besucher über breite Freitreppen und Terrassen auf die Spitze, auf der abseits vom Alltag und doch in Gemeinschaft das urbane Belvedere einen sensationellen Kontrast zum engen Stadtraum des Barock bildete. Das offene Stadtbild aus Quadern war nicht mehr frontal und zentralisiert, sondern ein elegantes Panorama, wie in der inneren Loggia in Schinkels Altem Museum , eine räumliche Hommage an Gillys Friedrichsdenkmal. Der städtische Raum als Landschaftssequenz drückte eine neue Beziehung zwischen Gebäude, Erde und Himmel aus: die Einverleibung des Idealen in das Reale.

Gillys parthenonartige Stufenpyramide mit sechs Obelisken stand für die Unerschütterlichkeit des Königreichs. Der massive dunkelbraune Sockel symbolisierte Standhaftigkeit, der strahlend weiße Tempel darüber Reinheit und Vollkommenheit. Der Alte Fritz als Verfechter eines aufgeklärten Absolutismus hatte sich solch eine Wallfahrtsstätte allerdings nie gewünscht.

Gilly war in nur zehn Jahren als Architekt nicht nur ein prägender Entwerfer, sondern auch einflussreicher Dozent, Autor und Theoretiker. Auch wenn Gilly weder ein Hauptwerk der Architektur noch ein Hauptwerk der Literatur geschaffen hat, galt er Historikern "als Schriftsteller nicht weniger genial denn als Architekt".

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