Nach dem Sägemassaker am 800 Jahre alten Bohlenweg am Molkenmarkt protestiert der Verein für die Geschichte Berlins beim Kultursenator. Der Wortlaut.
Von Maritta Adam-Tkalec am 21.02.2022

Die Zerstörung der 800 Jahre alten Holzstraße am Molkenmarkt hat allgemeines Entsetzen ausgelöst. Auch der Verein für die Geschichte Berlins, aktiv seit 1865, reagiert empört auf die Zerstörung des erst vor kurzem bei den archäologischen Grabungen entdeckten Denkmals aus der Entstehungszeit Berlins :

„Zerstörung ist der letzte aller Schritte und sollte erst nach Ausschöpfung sämtlicher Optionen und ausführlicher interdisziplinärer Beratung in Betracht gezogen werden!“, heißt es in einem Offenen Brief an den zuständigen Kultursenator Klaus Lederer (Linke). Die Unterzeichner, Mitglieder des Vorstands des ältesten Berliner Geschichtsvereins, mit über 700 Mitgliedern eine der größten Berliner Kulturorganisationen, zeigen sich insbesondere irritiert, weil „diese Entscheidung der obersten Denkmalschutzbehörde zu keinem Zeitpunkt öffentlich zur Diskussion gestellt wurde, um zu eruieren, ob es innovative Möglichkeiten für einen Denkmalerhalt gegeben hätte“. Zudem richten sie Fragen an den Kultursenator.

Hier der Wortlaut des Briefes:

Offener Brief des Vorstands des Vereins für die Geschichte Berlins e.V. (gegr. 1865) an den Senator für Kultur und Europa des Landes Berlin , Herrn Dr. Klaus Lederer Berlin , 19.2.2022

Sehr geehrter Herr Senator Lederer,

vor vier Wochen informierten Sie die Öffentlichkeit persönlich über einen wahrhaft sensationellen Fund bei den archäologischen Grabungen am Molkenmarkt : einen auf den ersten Blick völlig intakten mittelalterlichen Bohlenweg. Dieser war zum Zeitpunkt seiner Präsentation zwar nicht vollständig freigelegt, aber doch bereits in seinen Dimensionen und seiner historischen Bedeutung erahnbar. Offensichtlich handelt es sich bei diesem einzigartigen Fund um eine integrale Struktur der noch jungen Doppelstadt Berlin und Cölln, bestens dazu geeignet die Erkenntnisse aus Grabungen an anderer historischer Stelle unserer Stadt – etwa am Petriplatz – eindrucksvoll zu ergänzen und zu bereichern.

Für eine Stadt wie Berlin, in der sichtbare Spuren aus dem Mittelalter außerordentlich rar sind, stellt dieser Fund eine wirkliche Sensation dar. Nicht von ungefähr hat sein Bekanntwerden ein weit über die Stadtgrenzen hinaus reichendes öffentliches Interesse ausgelöst. Umso unfassbarer und schockierender erscheint die unmittelbar auf die allgemeine Begeisterung folgende Zerstörung dieses einzigartigen Fundkomplexes. Für vollkommen inakzeptabel erachten wir in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass diese Entscheidung der obersten Denkmalschutzbehörde zu keinem Zeitpunkt öffentlich zur Diskussion gestellt wurde, um zu eruieren, ob es innovative Möglichkeiten für einen Denkmalerhalt gegeben hätte.

Die Zerstörung eines Denkmals ist der letzte aller Schritte und sollte erst nach Ausschöpfung sämtlicher Optionen und ausführlicher interdisziplinärer Beratung in Betracht gezogen werden! Als Mitglieder des Vorstands des ältesten Berliner Geschichtsvereins haben wir einige Fragen:

Drängende Fragen an Lederer

Warum die Eile? Es stellt keine Seltenheit in der Geschichte von Denkmalpflege und Archäologie dar, dass Objekte ungeachtet ihrer historischen oder kunsthistorischen Bedeutung nicht in situ belassen werden können. Konsens herrschte in solchen Fällen bis dato stets darüber, dass die fraglichen Objekte vor einer Translozierung und eventuellen Musealisierung so ausführlich und genau wie zeitgemäß möglich dokumentiert werden.

Dieses fachliche Credo ist im Fall des so bedeutenden Bohlenwegs unserer Auffassung nach auf fahrlässigste Weise verletzt worden: Weder können innerhalb von vier Wochen die für die Ermittlung der historischen Bedeutung des Denkmals unerlässlichen interdisziplinären Untersuchungen in erschöpfender Art und Weise durchgeführt worden sein noch die bei einem über Jahrhunderte unberührt gebliebenen Bodendenkmal notwendigen naturwissenschaftlichen (biologischen, chemischen) Analysen. Das übereilte Zersägen des Denkmals widerspricht nicht nur dem fachlichen Selbstverständnis von Archäologie und Denkmalpflege, demzufolge ganzheitliches Bewahren und Konservieren im Vordergrund der Betrachtung steht, sondern auch dem subjektiven Geschichtsbewusstsein.

Warum die handstreichartige Zerstörung?

Warum wurde dieses einzigartige Zeugnis handstreichartig zerstört? Offenkundig ist eine komplette Freilegung des Bohlenwegs niemals angestrebt worden und so wurde ein unbekanntes Ganzes noch vor der genauen Kenntnisnahme seiner historischen Struktur brutal zersägt und damit als historisches Zeugnis in seiner überlieferten Unversehrtheit irreversibel beschädigt. Aus der Presse war zu erfahren, dass die Verlegung von Leitungen dafür den Grund abgibt – ein aus unserer Sicht kaum tragfähiges Argument, denn es müsste in einer hochtechnisierten Gesellschaft wie der unsrigen doch möglich sein, alternative Lösungen zu finden und umzusetzen.

Ferner sieht das Denkmalschutzgesetz durchaus vor, ein öffentliches Erhaltungsinteresse höher zu gewichten als ein privates Interesse an raschem Baufortschritt. Die Zerstörung des Bohlenwegs hat das in den letzten Jahren gewachsene Vertrauen der Berliner Öffentlichkeit in den staatlich verantworteten Denkmalschutz nachhaltig beschädigt. Man fragt sich, wie das Landesdenkmalamt als Aufsichtsbehörde jemals wieder von einem Bauherrn den Erhalt eines Denkmals fordern kann, wenn es selbst in der geschilderten Art und Weise an historischen Schlüsselstellen handelt.

Was wird aus den Bohlen?

Was geschieht mit den entnommenen Bohlenteilen? Von Seiten des Landesdenkmalamtes war zu hören, dass der Öffentlichkeit nach Abschluss der Bauarbeiten am Molkenmarkt ein Fenster in die Geschichte geboten werden soll – eine kläglich erscheinende Kompensation für den Verlust dieses Denkmals. Was, fragen wir uns als Freundinnen und Freunde der Berliner Geschichte, können die herausgesägten Teile des Denkmals in einer späteren, möglicherweise musealisierten Form überhaupt noch aussagen? Was für ein Bild vermitteln sie über ein bis jetzt noch nicht zur Gänze bekanntes Objekt? Oder sollen die entnommenen Holzstücke den hilflosen Umgang mit einem der wichtigsten Bodenfunde des Jahres 2022 dokumentieren?

Warum ist die Entscheidung ohne Partizipation getroffen worden? Sie haben sich bereits in Ihrer letzten Amtszeit immer wieder stark gemacht für die Implementierung von Partizipationsformen und in Ihren Verlautbarungen der kulturellen Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern großes Gewicht beigemessen. Wieso konnte dann ein so gravierender Eingriff in eines der bedeutendsten Denkmale unserer Stadt ohne jegliche Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden? Warum sind die Expertise und das Interesse der Vielen in diesem so gewichtigen Fall nicht relevant?

Das ist autokratisches Vorgehen

Offenkundig sind am Molkenmarkt radikal und umgehend Fakten geschaffen worden – und dies im Einvernehmen mit der Landesarchäologie und der Denkmalpflege, aber entgegen deren ureigensten Aufgaben und Belangen. Gegen dieses autokratische Vorgehen möchten wir hiermit im Interesse der Bewahrung des vielschichtigen Erbes unserer Stadt auf das Entschiedenste protestieren. Heute sollte doch Konsens darüber bestehen, das Votum der demokratischen Stadtgesellschaft zugunsten der Bewahrung von Denkmalen nicht eilfertig Einzelinteressen unterzuordnen! Denkmale gehören allen Bürgern und die Entdeckung eines Denkmals inkludiert nicht das Recht auf dessen Zerstörung!

Für den Vorstand des Vereins für die Geschichte Berlins e.V., gegr. 1865: Dr. Manfred Uhlitz (Vorsitzender), Prof. Dr. Susanne Kähler (1. Stellvertretende Vorsitzende), Dr. Wolfgang G. Krogel (2. Stellvertretender Vorsitzender), Dr. Dietmar Peitsch (Schriftführer), Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Pfaffenberger (Schatzmeister), Regina Preuß (Stellvertretende Schatzmeisterin) sowie die Beisitzerinnen und Beisitzer: Dr. Johannes Fülberth, Dipl.-Betriebswirt Jörg Kluge, Professor Dr. Thomas Sandkühler, Professor Dr. Ingrid Scheurmann, Lothar Semmel, Mathias C. Tank, Doris Tüsselmann

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