Die Pläne für den Wiederaufbau der historischen Mitte nehmen Gestalt an. Kritiker befürchten, dass die Entwicklung eines lebendigen Stadtquartiers, das nicht nur Wohlhabende bewohnen sollen, am Druck des Marktes scheitern könnte.
Der Tagesspiegel vom 14.03.2022 von Ralf Schönball

Schärfer könnte man die Kritik an den Plänen Berlins für den größten Innenstadtumbau Europas kaum formulieren: Der Senat habe beim Bebauungsplan für den Molkenmarkt „beim Falschmachen wenig ausgelassen“, sagt der Stadthistoriker Benedikt Goebel. Weil die „monströse Straße aus den 1960er Jahren ihre grausamen Auswirkungen auf das Wohnquartier“ behalte, müssten die Kante der neu geplanten Blöcke „fensterlos als Lärmschutzwände“ dienen, weshalb dort nicht dauerhaft gewohnt werden dürfe. „Das darf nicht als Erfolg gefeiert werden“.

Gestritten und geplant wird über den Umbau des Molkenmarktes seit fast 30 Jahren. Doch nun wird der 2016 verbindlich festgelegte Bebauungsplan Realität. Mit „Fertigstellungen in größerem Umfang“ rechnet die neue Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt im Jahr 2029. Vorausgingen als „Taktgeber“ der Straßenumbau und die archäologischen Grabungen bis 2025. Und auch der Streit wird andauern. Für Kahlfeldt könnte der spektakuläre Stadtumbau zu einem der großen Prüfsteine ihrer Amtszeit werden.

Denn die Kritik ist auch zwei Jahre nach der öffentlichen Beteiligung der „Stadtgesellschaft“ an der Gestaltung des Molkenmarktes nicht verstummt. Dabei geht aus dem Verfahren eine „Charta“ hervor, die alle versöhnen sollte: Es handelt sich um eine Art Bekenntnis dazu, dass die Grunerstraße schmaler und zum Roten Rathaus veschwenkt wird und die dadurch frei werdende Fläche nach dem „mittelalterlichen Grundmuster aus öffentlichen Straßen, belebten Plätzen und ruhigen Höfen“ sowie als „Ort der Stadtgründung Berlins wieder erlebbar“ wird.

Das klingt gut, doch die Realität sieht nach Überzeugung von Stadthistoriker Goebel und auch des Vorstandes der Gesellschaft Historisches Berlin Gerhard Hoya, anders aus. Nur zwei landeseigene Wohnungsunternehmen (Degewo und WBM) sowie eine private Firma sollen die neuen Häuserzeilen des Quartiers bauen. Parlamentarier unken: Am Molkenmarkt könnte das Klein-Hellersdorf von Mitte entstehen. Landeseigene Firmen seien nicht für stilvolle Baukunst bekannt sondern für das Bauprinzip „quadratisch, praktisch, gut“, so der Tenor. Statt der immer gleichen gesichtslosen Bauten brauche es in Mitte eine „Vielfalt von Architekten und Bauherren “ (Hoya) – „88 Bauherren , die wir vor den Diktaturen gehabt haben“ (Goebel).

Die stilistische Vielfalt der Altbauten in den beliebten Gründerzeitquartieren ist das Idealbild – oder auch die rekonstruierte Altstadt in Frankfurt am Main. Architektur im menschlichen Maßstab, die man gerne betrachtet: „Was gesellschaftlich Anklang findet und als harmonisch empfunden wird“, sagt Hoya – das sei auch „sozial“, weil die „Nutzungen von selbst kommen“. Deshalb müssten ferner das Graue Kloster und der Jüdenhof als „Leitbauten mit Bezug zur Geschichte“ rekonstruiert und miteinander vernetzt werden. So könnten attraktive öffentliche Räume entstehen. Hoya empfiehlt den städtebaulichen Entwurf von Bernd Albers: Von den beiden Siegern des Wettbewerbs komme dieser der historischen „Kleinteiligkeit“ am nächsten.

Albers ist einer von 1500 Unterzeichnern der „Petition für einen vielfältigen Molkenmarkt !“ Darin fordert er „eine Teilung des Areals in viele kleine und mittelgroße Grundstücke, die in einem Konzeptverfahren an Wohnungsgesellschaften und einzelne Bauherren in Erbpacht mit moderaten Zins vergeben werden“ sollen. Nur so entstehe am Molkenmarkt die Berliner Mischung aus Kultur, Kommerz sowie öffentlichen und privaten Nutzern.

Ist es wirklich so einfach oder entsteht so eher ein Quartier für eine Elite ähnlich wie in Prenzlauer Berg, wo die Berliner Mischung verabschiedet wurde und sich der Kiez für die obere Mittelschicht verwandelte?

Matthias Grünzig, der als Bürgervertreter den städtebaulichen Wettbewerb begleitete, warnte in der Anhörung zum Molkenmarkt im Abgeordnetenhaus vor Preisen „von 6000 bis 9000 Euro je Quadratmeter Wohnfläche bei einer kleinteiligen Parzellierung“. Dies käme nur einer exklusiven Klientel zugute. Im historisierend und kleinteilig parzellierten Frankfurter Römerquartier seien 80 exklusive Wohnungen zum Kaufpreis von 7250 Euro je Quadratmeter entstanden. Ein solches Experiment sei auch in Berlin am Friedrichswerder zu besichtigen: Wenige Meter breite, exklusive Townhouses, die „auch keine Vielfalt“ und schon gar kein städtisches Leben brächten.

Am „Problem der Baukosten “ und der Grundstückpreise scheitere pralles Leben in Berliner Quartieren nach Grünzigs Auffassung – und nicht am Städtebau. Kulturelle Akteure hätten sich des „Haus der Statistik“ bemächtigt, der heruntergerockten DDR-Platte, und aus der Ruine brächten sie Innovatives und Experimentelles hervor. Das Projekt gelingt im Zusammenspiel mit einer der gescholtenen landeseigenen Firmen, der WBM. Kurzum, es sei mehr eine Frage der „Kuratierung der Erdgeschosse“, ob ein diverses Quartiersleben entsteht oder nicht. Möglich sei das am Molkenmarkt, zumal die kulturell genutzte „Münze“ schon da ist. Voraussetzung dafür sei es, preiswerte „Freiräume“ für kulturelle Akteure zu schaffen, denn die seien rar in Berlin und Kultur selten auskömmlich. „Entscheidend ist die Kostenfrage“.

Dass die städtischen Wohnungsbaugesellschaften Erfolge bei der Stabilisierung von Brennpunkten feiern und sogar am „Kotti“ vom autonomen Mieterbeirat gelobt werden, spricht für diese Sichtweise. Und dass „sehr schmale Parzellen absolut unwirtschaftlich sind“, weil dann doppelt für die Erschließung gesorgt und bezahlt werden muss, mahnte die neue Chefin der Architektenkammer Theresa Keilhacker an. Ihr Fazit: „Ich kann nur abraten“.

Raus aus dem großen Plan, rein in die Details eines spezifischen Ortes am Mokenmarkt – diesen Ausweg aus dem Dilemma schlägt Markus Tubbesing von der Fachhochschule Potsdam vor. „Wer in welcher Form an dieser Stelle zum Zuge kommen soll“, diese Entscheidung gelte es zu treffen. Mit den unterschiedlichen, engagierten Akteuren komme das Leben in die Stadt – ein „Selbstläufer“ sei das jedoch nicht.

Sympathien für diese Haltung zeigte Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt – und sie bekannte: „Die Grundstücke bleiben in Landeseigentum“, denn „die Bodenfrage ist das Wesentliche“. Neben Landesfirmen können sie sich auch Genossenschaften als Bauträger vorstellen. Diese hätten in Potsdam mit „wahnsinnig guten Konzepten“ privaten Bauträgern gegenüber gepunktet. Erfrischend ideologiefrei stellte sie zum Streit um die Historie fest: „Alles, was jetzt gebaut wird, ist Neubau.“ Die bei Altbauten gerühmte Variabilität von Grundrissen müsse auch im Neubau möglich sein.

Zudem sei die Frage, wie ein Neubau mit seinem Umfeld kommuniziert und sich damit „zur Geschichte verhält“. Es gelte „von einem Eigentümer ausgehend, die Möglichkeiten und Chancen zu nutzen“, indem Büro- und Handelsobjekte zur Grunerstraße ausgerichtet werden und die Wohnhäuser im Inneren der Blöcke. Das „Graue Kloster“ sei ihr „ein Anliegen“ – eine Rekonstruktion ist damit nicht ausgeschlossen. Aber das alles werde im Wettbewerb der zwei siegreichen städtebaulichen Entwürfe für den Molkenmarkt – von Bernd Albers mit Vogt Landschaftsarchitekten sowie OS arkitekter mit cka czyborra klingbeil am 7. Juli entschieden. Bis dahin gelte es, die Straßen, Plätze, Grünflächen näher zu definieren sowie die Aneignungsmöglichkeiten für Bewohner, Geschäftsleute und Besucher auszuarbeiten – unter Beachtung des Klimaschutzes.

Und der Senator für Stadtentwicklung? „Investoren-Architektur ist auch nicht qualitativ herausragend“, sagte Andreas Geisel. Die Frage sei, wie man zu guter Architektur komme. Mit Landesfirmen und Genossenschaften ließe sich wohl ergänzen. Denn am Molkenmarkt „geht es um bezahlbaren Wohnraum“ – auch wenn es „noch keine Quote“ für Sozialwohnungen gebe. Und zu dem unweit gelegenen Projekten am Schinkelplatz sagte Geisel: „Das wollen wir hier nicht“. Neubauten wie das „Unique Schinkelplatz No3“ bieten „Residences“ der Kategorien „Deluxe“, „Superior“, „Townhouse“ oder schlicht „Schinkel“ zu Tagesraten ab 1600 Euro.

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