Anders als viele Berliner Gebäude, machen die Justizpaläste der Stadt ganz schön was her. Die Eingangshallen gleichen Kathedralen. Die Treppenhäuser sind atemberaubend. Unterirdische Gänge erzählen von vergangen Zeiten. Wir stellen Ihnen die drei prachtvollsten Berliner Gerichtsgebäude vor.
Berliner Zeitung vom 21.03.2022 - von Wiebke Hollersen

Zwei? Die Zahl löst Erstaunen aus. Nur zwei Jahre! Dann war das seinerzeit modernste Gebäude Berlins fertig, das erste vollelektrisch beleuchtete der Stadt, der erste Stahlbetonbau auf europäischem Festland und außerdem: eine Schönheit. Das „Königliche Criminalgericht“ Moabit nahm 1906 seine Arbeit auf. Hier befanden sich bereits ein Kriminalgericht und dazu ein Untersuchungsgefängnis. Der Neubau war ein Erweiterungsbau. Im Jahr 1899 hatte es eine Gerichtsreform für die Stadt Berlin und ihr Umland gegeben: Alle Strafsachen sollten künftig in Moabit verhandelt werden. Dafür reichte im vorhandenen Gerichtsgebäude, damals noch keine zwanzig Jahre alt, der Platz nicht mehr. Fast neun Millionen Reichsmark soll der Erweiterungsbau gekostet haben. Verantwortlich war der Geheime Oberbaurat Paul Thoemer, ein Architekt. Von Halle über Mühlheim an der Ruhr bis Düsseldorf kann man die prachtvollen Gerichtsgebäude bestaunen, die allesamt unter seiner Aufsicht entstanden.

Im Stil eines „streng maßvollen Barocks“ habe Thoemer das Neue Kriminalgericht Moabit errichtet, heißt es in einem Beitrag in der Zeitschrift für Bauwesen von 1908. Die Front des Gerichtsgebäudes zur Turmstraße ist 210 Meter lang und aus Wünschelburger Sandstein gebaut. Bei seiner Eröffnung konnte und sollte es von vielen Seiten betreten werden; heute darf man nur nach einem Sicherheitscheck am Haupteingang hinein. Bis zu 1500 Besucher kommen täglich. Wer das Gebäude erstmals betritt, dem verschlägt es die Sprache. Die Mittelhalle, die sich gleich hinter dem Eingang öffnet, ist ein Musterbeispiel der „Einschüchterungs-Architektur“ ihrer Zeit: 29 Meter hoch, 27 Meter breit.

Besucher sollten sich hier klein fühlen, erklärt die Sprecherin des Gerichts, Lisa Jani, bei einer Führung. Sie verweist auf die „Schmuckstücke“, sechs allegorische Figuren, für deren Anblick man den Kopf schon in den Nacken legen muss. Die barbusige Wahrheit steht der Lüge gegenüber, die Streitsucht, mit Fackel bewaffnet, der Friedfertigkeit. Religion und Gerechtigkeit stehen nicht gegen-, sondern nebeneinander. Legt man den Kopf noch ein bisschen weiter zurück, sieht man ganz oben an der Decke den Kreis der zwölf Sternzeichen, die als weltliches Element gedacht gewesen seien, wie Jani erklärt. Die Zeichen tauchen immer mal wieder auf.

Genauso wie das „Auge Gottes“. Wer sich auf die Suche begeben will: auf Türen und Türklinken achten. Der Gerichtskoloss mit seinen rund hundert Gerichtssälen sei „sehr durchdacht gebaut“, erklärt Lisa Jani. Was viele Besucher nicht wissen: Es gibt viele versteckte Treppenhäuser und verborgene Gänge, die das Gebäude mit der Haftanstalt, die heute JVA Moabit heißt, verbinden. So können inhaftierte Angeklagte zu ihren Verhandlungen geführt werden, ohne dass sie fremden Blicken ausgesetzt sind. 2000 Menschen arbeiten hier, 300 Verfahren werden täglich geführt. Bei der Eröffnung gab es auch einen für die damalige Zeit neuartigen Fernsprecherraum, eine elektrische Uhrenanlage, ein eigenes Kraftwerk mit zwei Dieselmotoren, einen eigenen Wasserturm und zwei Brunnen, dazu eine Anlage, die frische Luft aus den Innenhöfen ins Gebäude saugte, und eine Heizungsanlage natürlich auch. Sogar die Toiletten sollen beheizt gewesen sein.

Inzwischen gibt es auch Brandschutztüren und Mülleimer, die an den Wänden in den Gängen festgeschraubt sind, seit ein Angeklagter in einem Clan-Prozess einen Eimer genommen, auf der Toilette mit Wasser gefüllt und einem Gerichtsreporter über den Kopf gegossen hat. Ein abschließender Blick auf den „Verlobungsring“: So heißt ein Gebäudeteil, in dem zwei Ebenen wie zwei Ringe übereinanderliegen. Es gebe dazu ebenfalls eine Anekdote, sagt Lisa Jani. Hier solle ein Angeklagter in einem Raubprozess der einzigen Augenzeugin die Ehe versprochen haben, wenn sie nicht gegen ihn aussagt. Die Frau habe sich daraufhin auf das Zeugnisverweigerungsrecht für Verlobte berufen, der Mann sei freigesprochen worden. Wann soll das gewesen sein? Das wisse leider niemand mehr.

Kriminalgericht Moabit
Adresse: Turmstraße 91, 10559 Berlin;
Architekt: Paul Thoemer; Baustil : Neobarock; Baujahre : 1904–1906;
Anfahrt: S3, S5, S7, S9 (Bellevue), U9 (Turmstraße), Tram M5, M8, M10 (Lesser-Ury-Weg), Bus 245 (Alt-Moabit), 123, 187, 101 (Turmstraße)

Amtsgericht Wedding

Einst war das Gelände in der Nähe der Panke ein Sumpf. Landwirte bearbeiteten die Fläche, sie bekam den Namen Brunnenplatz. Bevor hier ab 1901 ein Gebäude entstehen konnte, mussten in den feuchten Untergrund acht Meter hohe Betoneisenpfähle für ein Fundament getrieben werden. Eine technische Neuheit, schon wieder, bei einem der großen Gerichtsbauprojekte Berlins . Die preußischen Baubeamten Rudolf Mönnich und Paul Thoemer übernahmen auch hier die Planung .

Als stilistische Inspiration wählten sie (sächsische) Spätgotik: die damals fast tausend Jahre alte Albrechtsburg in Meißen. Das Werk der beamteten Architekten war 1906 vollbracht. Wer vor dem Eingangsportal des Amtsgerichts steht, kann die Wappen der acht Dörfer sehen, die im Einzugsbereich seiner Rechtsprechung lagen. Tegel, Wittenau, Reinickendorf und Lübars gehörten dazu. An dem Zuständigkeitsbereich hat sich bis heute nichts geändert. Auffällig sind zwei Figuren. Die erste, im Giebel des Portals, ist ein Reichsadler aus der Zeit des Nationalsozialismus, Nachfolger des preußischen Reichsadlers, der ursprünglich hier angebracht war. Soll man ihn entfernen?

Im Jahr 2020 wurde darüber gestritten. Die Grünen aus dem Bezirk und auch ihr Justizsenator wollten den Nazi-Adler loswerden. Die Denkmalschützer fanden, Geschichte müsse sichtbar bleiben, auch wenn sie unangenehm sei. Die Geschichte der zweiten Figur ist weniger politisch, dafür mehr rätselhaft. Die Justitia über den Eingangstüren – 3,20 Meter groß – hält entgegen ihrer üblichen Darstellung weder eine Waage noch ein Richtschwert, sondern ein Gesetzbuch und einen Schild; ihre Augen sind nicht verbunden. Und: Sie ist eine Rekonstruktion. Ihre Vorgängerin war 1988 vom Sockel gestürzt worden – ein Anschlag, der nicht aufgeklärt werden konnte.

Der Zweite Weltkrieg beschädigte das Gerichtsgebäude schwer. Nach 1945 wurde es wiederhergestellt und 1957/58 sowie 1987 erweitert. Seine Gerichtssäle sind eher schmucklos, der Nutzkörper des ursprünglichen Baus hinter der 120 Meter langen Fassade ist schmal. Die ganze Pracht des Gebäudes steckt in seiner Eingangshalle, ein Fünftel der Baumasse haben die Architekten hier verwendet. Als Erwachsener wähnt man sich zwischen den Säulen und unter den Glasfenstern, durch die sich das Licht bricht, in einer gotischen Kathedrale. Und ist das im zweiten Stock nicht eine Kanzel?

Kinder, die mit ihren Schulklassen das Haus besuchen, rufen oft aus: Hogwarts! Sie fühlen sich in die Zauberschule aus den „Harry Potter“-Romanen versetzt. Das Amtsgericht Wedding ist ein weiteres Beispiel für die „Einschüchterungs-Architektur“. Die Überwältigung schwindet allerdings, wenn man die Details entdeckt: die bunte, verzierte Decke in der Halle links, die Echse, die an einem Pfeiler einer Libelle nachjagt, der Uhu im Fensterglas, die Wildschweine auf den Türbeschlägen. Die Tiere, die einst im Sumpf der Panke lebten, sind ins Gericht gezogen.

Amtsgericht Wedding
Adresse: Brunnenplatz 1, 13357 Berlin
Architekten: Rudolf Mönnich und Paul ThoemerBaustil: Spätgotik; Baujahre : 1901–1906
Anfahrt: U8 (Pankstraße), U9 (Nauener Platz), Bus M27 (Brunnenplatz)

Amtsgericht Mitte

Wer vor dem Amtsgericht Mitte steht und genau hinschaut, sieht, was nicht mehr zu sehen ist. Das Eingangsportal wirkt merkwürdig nach links versetzt. So war das natürlich nicht gedacht. Die Erklärung: Ein Teil des Gebäudes wich 1968/69, als die städtebauliche Mitte von Ost- Berlin neu angelegt wurde, der Grunerstraße. Damit verschwand das alte Landgericht, das einst zum Alexanderplatz ausgerichtet war, fast vollständig. Deutsche Geschichte spiegelt sich in diesem Ort. Früher hieß die Straße, an der das Gericht liegt, Neue Friedrichstraße .

Doch heute heißt sie Littenstraße, benannt nach Hans Litten, dem Strafverteidiger und Nazigegner, den viele kennen dürften, seit sie die dritte Staffel von „Babylon Berlin “ gesehen haben. Litten, der Jude war und nach Machtantritt der Nazis in Haft genommen wurde, starb 1938 im Konzentrationslager Dachau. Im Amtsgericht steht ihm zu Ehren eine Büste. Der Gerichtskomplex entstand im Kaiserreich. Zuerst wurde das Landgericht fertiggestellt, 1904 zog auch das Kammergericht ein. Nur ein Gebäude war damals in Berlin größer: das Stadtschloss.

Verantwortlich für den Justizbau war Paul Thoemer, in Zusammenarbeit mit Rudolf Mönnich, einem aus Osnabrück stammenden Architekten und Baubeamten . Thoemer und Mönnich variierten Motive und Baustile . Der Entwurf des Amtsgerichts stammte von einem Baurat namens Otto Schmalz. Für die Fassade nahm er Anleihen aus der Antike; auf Höhe der ersten Etage steht beispielsweise die viel zitierte Inschrift des Apollotempels von Delphi „Erkenne dich selbst!“ (altgriechisch: Gnothi seauton). Es gab eine Säule, welche die römische Weisheitsgöttin Minerva (griechisch: Athene) mit Eule zeigte, und der Eingang war mit Ornamenten verziert. Davon ist allerdings nichts geblieben.

Die Pracht der Eingangshalle hingegen ist weitgehend erhalten. Ein leuchtender, heiterer Raum öffnet sich. Keine „Einschüchterungs-Architektur“, obwohl die Decke dreißig Meter über dem Besucher schwebt, sondern ein Saal, der dazu einlädt, Bälle zu feiern. Herrlicher Jugendstil. Schlanke Pfeiler, verschnörkelte Gitter, die breiten Treppen scheinen wie Kaskaden in die Halle zu fließen. In ihre Mitte stand einst eine Brunnenfigur.

Helle Farben dominieren: Weiß, Rosa, Gelb. Der Kaiser soll bei der Eröffnung nicht begeistert gewesen sein und von einer unruhigen und unklugen Wirkung gesprochen haben. Von den Säulen schauen Ritterfiguren, eher freundlich; aber weil ihre Schilde mit dem roten Adler und schwarz-weißem Kreuz zu preußisch wirkten, waren sie zu DDR-Zeiten überputzt.

Die DDR hatte in dem Gebäude ihr Oberstes Gericht, das Stadtgericht Berlin, einige Stadtbezirksgerichte, das Staatliche Notariat sowie Generalstaatsanwaltschaft, Militärgericht und Militärstaatsanwalt untergebracht. Hier steht alles unter Denkmalschutz, auch das Präsidiumszimmer des Obersten Gerichtshofs aus dieser Zeit. Dessen Wände sind bis auf Fensterhöhe mit Holz verkleidet. An der Decke hängt ein Leuchter, der mit seinen unzähligen Glühbirnen auch im Palast der Republik niemanden überrascht hätte. Der HO-Laden, der Frisör, die Kantine mit Festsaal und Bar sind nicht mehr erhalten. Im Jahr 1992 begann die Sanierung des Amtsgerichts. Fast zwanzig Jahre dauerte die Instandsetzung, mehr als doppelt so lange wie der ursprüngliche Bau.

Amtsgericht Mitte
Adresse: Littenstraße 12–17, 10179 Berlin;
Architekt: Otto Schmalz; Baustil : Stilmix; Baujahre : 1896–1904;
Anfahrt: S3, S5, S7, S75, S9 und U5, U8 (Alexanderplatz), U2 (Klosterstraße), Tram M4, M5, M6 (Alexanderplatz), Bus 100, 200, M48, TXL (Alexanderplatz)

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