Kiew ist ein Mosaik der ukrainischen Geschichte: Der Architekturkritiker Peter Knoch über das gefährdete Stadtbild und die Frage, wie sich Identität in Bauwerken manifestiert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.03.2022 - Fragen von Kevin Hanschke.

Seit vier Wochen wird Kiew bombardiert. Hunderte Gebäude wurden zerstört. Darunter auch viele Zeugnisse der ukrainischen Moderne. Peter Knoch ist Experte für ukrainische Architektur, er hat im Verlag DOM Publishers den "Architekturführer Kiew" herausgegeben. F.A.Z. Seit vielen Jahren beschäftigen Sie sich mit der Architektur Kiews. Täglich werden neue Bilder von den Bombardierungen der ukrainischen Hauptstadt gezeigt, auch von bedeutenden Architekturdenkmälern wie dem Kiewer Fernsehturm. Was denken Sie darüber?

Das war ein Weckruf für mich. Der Fernsehturm wurde im Jahre 1973 fertiggestellt und ist der höchste freistehende Stahlfachwerkturm der Welt. Das modernistische Architekturerbe ist in Gefahr, und wir werden noch einige solcher Szenen erleben, wenn die Belagerung anhalten wird. Es gibt in Kiew viele herausragende Bauten der Moderne, die kaum beachtet werden, obwohl die Wahrscheinlichkeit einer Zerstörung hoch ist.

Was zeichnet das Stadtbild von Kiew aus?

Die Architektur Kiews ist ein Mosaik der ukrainischen Geschichte. Das Land ist seit Jahrhunderten zwischen Ost und West hin- und hergerissen und hatte in vielen Epochen keine eigene Nationalstaatlichkeit. Das spiegelt sich auch in der Architektur der Hauptstadt wider, die lange Zeit gar keine Hauptstadt war. Dennoch hat die Ukraine auch viele eigene Architekturtraditionen entwickelt. Daneben hat Kiew eine besondere Stadttopographie. Das Stadtzentrum liegt auf mehreren Hügeln am Dnjepr-Ufer, wobei der Fluss an einigen Stellen bis zu zwei Kilometer breit ist.

Welche Architekturstile sind typisch für die Stadt?

Die Architektur ist von 1500 Jahren Stadtgeschichte bestimmt und umfasst deswegen viele unterschiedliche Stile. Es gibt mittelalterliche Holzarchitektur, den ukrainischen Barock, Jugendstilmietshäuser, funktionalistische Wohngebäude, Verwaltungsgebäude der sowjetischen Moderne und sehr viele Bauten der sogenannten zweiten sowjetischen Moderne , also der Sechziger- und Siebzigerjahre und natürlich Gegenwartsarchitektur.

Wie sind die Stadt und das Stadtzentrum strukturiert?
Anders als viele andere Hauptstädte in Europa und Russland hat Kiew ein bürgerliches und wenig imperialistisches Stadtbild. Es gibt kaum repräsentative Achsen oder symmetrische Stadtstrukturen. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich durch den Aufschwung der Zuckerindustrie eine großbürgerliche Schicht. Diese baute im Zentrum ihre Gründerzeitpalais und an den Hügeln von Podil und am Dnjepr ihre repräsentativen Villen. Auch deswegen ist das Stadtbild im Vergleich zu anderen postsowjetischen Städten kleinteilig strukturiert. Die einzige Ausnahme ist die Haupteinkaufsstraße, der Chreschtschatyk mit dem Maidan-Platz. Beide wurden nach Kriegszerstörung wieder aufgebaut - im stalinistischen Repräsentationsstil, aber mit vielen ukrainischen Einflüssen. Die Gebäude nehmen dabei auch die Kubatur der umliegenden Gründerzeitviertel auf. Lediglich das Hotel Ukraine erinnert an Moskau. Insgesamt ist es aber etwas ganz anderes als die Karl-Marx-Allee in Berlin , die nach Moskauer Vorbild ohne Rücksicht auf die Umgebung errichtet wurde.

Was veränderte sich durch den Zweiten Weltkrieg und die Sowjetherrschaft?
Die Stadt wurde 1941 massiv von den Deutschen bombardiert. Im Zentrum wurden viele Gebäude zerstört. Aber da die Schlacht um Kiew recht schnell verlief, war die Zerstörung nicht flächendeckend. 1943 wurde Kiew von der Roten Armee befreit. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war Kiew als Hauptstadt der Ukrainischen SSR die drittwichtigste Metropole der Sowjetunion. Die Einwohnerzahl verdoppelte sich. Zunächst konzentrierten sich die Stadtplaner auf den Wiederaufbau und die Errichtung repräsentativer Gebäude. Doch die Bauten generierten nur wenig Wohnraum. In der Chruschtschow-Ära, also ab Ende der Fünfzigerjahre, entstanden zuerst große Wohngebiete aus fünfgeschossigen Zeilenbauten. Sie wurden schnell, oft mit minderwertigen Baumaterialien errichtet, boten aber in kurzer Zeit viel dringend benötigten Wohnraum.

Welche architektonischen Visionen standen dahinter?
Dahinter standen die Visionen der internationalen Moderne: durchgrünte Wohnquartiere mit guter Anbindung an die städtische Infrastruktur. Es gab Spielplätze, Sport- und Kultureinrichtungen. Jahrzehntelang waren diese Bauten ungeliebt, in den Neunzigerjahren wurden viele abgerissen und durch höhere Wohngebäude ersetzt. Einen weiteren Wachstumsschub gab es in den Siebzigerjahren. Links des Dnjepr entstanden Großwohnsiedlungen. Der Wohnblock wurde zur dominanten Wohnform der Stadt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt seither in Quartieren aus dieser Zeit. In der ersten Boomphase in den Neunzigerjahren wurden auch kleinere Hochhäuser errichtet.

Wie wird mit dem sowjetischen Architekturerbe seit der Unabhängigkeit 1991 umgegangen?

Nach der Unabhängigkeit brach man vorerst vollständig mit der sowjetischen Architekturtradition. Sie galt als kontaminiert. Der Brutalismus, der im Westen derzeit ikonisch geworden ist, wird in der Ukraine eher als Altlast betrachtet. Dabei ist der Kiewer Brutalismus spannend, weil auch er ukrainische Architekturtraditionen aufnimmt. Und es gibt herausragende Bauten wie das Hotel Saljut von 1982 - mit der zylinderförmigen Kubatur, die an eine Raumstation erinnert.

Welche Gebäude sind jetzt besonders gefährdet?

Die größten Sorgen mache ich mir um die Ingenieursbaukunst der Stadt. Kiew hat eine gut ausgebaute Infrastruktur, die für viele Städte in der Sowjetunion und weltweit ein Vorbild gewesen ist. Die Kiewer Metro, auf deren erster Linie 1960 Züge fuhren, hat mit Arsenalna die tiefste U-Bahn-Station der Welt. Fünf Minuten dauert die Fahrt mit der Rolltreppe vom Eingang bis zum 105,5 Meter tiefer gelegenen Gleis. Die beiden Metro-Brücken über den Dnjepr sind Meisterwerke, etwa die 1965 eröffnete Brücke des Architekten Heorhij Fuks. Auch die Industriearchitektur der Stadt ist teils spektakulär, wie das Pumpspeicherkraftwerk Kiew. Es entstand 1960. Am Dnjepr liegen spektakuläre Schleusen und Staubauwerke. Sie alle wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut und regulieren den Grundwasserspiegel der Stadt. Wenn sie zerstört werden, hat das Auswirkungen auf die Statik vieler Gebäude entlang des gesamten Dnjepr-Ufers.

Und über die Infrastruktur hinaus?

Besonders gefährdet aus meiner Sicht ist das Regierungsviertel. Die russische Armee hat mehrfach angekündigt, es zerstören zu wollen, dabei ist es ein europaweit einzigartiges Ensemble. Dazu gehört beispielsweise das Ministerratsgebäude von Iwan Fomin, das im Stil des sozialistischen Klassizismus errichtet wurde. Ein paar hundert Meter weiter befindet sich der Sitz des Parlaments, die Werchowna Rada. Auch dessen Sitz mit der gläsernen Kuppel und den Eingangssäulen entstand 1936. Kiew wollte repräsentieren.

Wo drückte sich dieser neue Repräsentationswille noch aus?
 Es gibt noch einige besondere Gebäude im Regierungsviertel - zum Beispiel das verspielte Haus mit den Chimären, Sitz und Residenz des ukrainischen Staatspräsidenten. Wolodymyr Selenskyj hat schon mehrfach Videobotschaften vor dem Gebäude aufgenommen. Das Haus wurde von 1901 bis 1902 vom Architekten Wladyslaw Horodecki, der auch als "Gaudí von Kiew" bekannt ist, im Jugendstil erbaut. Eine Zerstörung wäre ein unglaublicher Verlust. Direkt daneben steht das Präsidialamt der Ukraine von 1936 und das Haus der weinenden Witwe, ebenfalls ein Jugendstilgebäude. Das sind natürlich auch Ziele für Bombardierungen. Ebenso der Maidan. Er ist das Symbol der Unabhängigkeit. Putin hat es auf diese Symbole abgesehen.

Was zeichnet die architektonische Identität Kiews aus. Ist sie eher sowjetisch oder europäisch?
Die architektonische Identität der Stadt ist definitiv europäisch und weit weniger russisch als in anderen Teilen der Ukraine. Kiew hat einen ganz eigenen Charakter. Kiew hat nicht diese massive Monumentalität im Zentrum.

Welche Haltung haben die Ukrainer gegenüber den Denkmälern aus der Zeit der Sowjetunion?
Eine in Teilen widersprüchliche Haltung. Während einige, wie etwa die Statue der Mutter Heimat, schnell auch zu Nationalsymbolen der Ukraine wurden und rezipiert werden, gibt es andere Denkmäler, die abgerissen oder verdeckt wurden.

Welche typisch ukrainischen Architekturstile und Formensprachen sind in Kiew noch sichtbar?
Von der traditionellen Holzarchitektur der Ukraine ist durch das Stadtwachstum des 19. und 20. Jahrhunderts kaum etwas übrig geblieben. Diese Strukturen finden sich eher an der Stadtgrenze, in den eingemeindeten Dörfern. Kiew ist eine Stadt der Kathedralen. Das Höhlenkloster mit seinen Türmen und goldenen Kuppeln bildet einen ideellen Schwerpunkt, direkt an den Hügeln am Dnjepr. Und es gibt Historismus, Jugendstil und sowjetische Repräsentationsarchitektur.

Wie ist der Denkmalschutz in der Stadt organisiert?

Der Denkmalschutz ist sehr ausgeprägt, aber funktioniert anders als in Westeuropa. Rekonstruktionen steht man offener gegenüber. Oft lässt sich in der Stadt kaum erkennen, welche Gebäude und Ensembles wiederaufgebaut wurden und welche schon immer so bestehen. Das "Goldene Tor" ist ein Beispiel dafür. Im Inneren sind die Originalbauteile erhalten, aber das Tor wurde über die Jahrzehnte durch Rekonstruktionen überformt.

Welche Rolle spielt die Stadtentwicklung in den politischen Debatten?
Kiew hat eine aktive Hauptstadtgesellschaft, auch was die Architektur angeht. Neubauprojekte, wie die vielen postmodernen Hotelneubauten am Andreassteig, dem "Montmartre Kiews", wurden stets kontrovers diskutiert. Teilweise gab es Proteste.

Wie wird Kiew nach dem Krieg und der mögliche Wiederaufbau aussehen?

Ich glaube, dass sich die Stadt in Zukunft architektonisch noch einmal stärker international orientieren wird. Ich denke zudem, dass Kiew dabei auch Hochhäuser im Zentrum zulassen wird, die es bisher, abgesehen vom Gulliver-Ensemble am Sportpalast, kaum gibt. In den letzten Jahren haben bereits viele internationale Büros für Kiew entworfen. 2018 hat das Berliner Architekturbüro Kleihues + Kleihues den Zuschlag für das Revolutionsmuseum erhalten. Das Büro von Gerkan, Marg und Partner war für den Umbau des Olympiastadions verantwortlich und das atelier PRO für die niederländische Botschaft - um nur einige zu nennen. Ich hoffe, dass auch ukrainische Architekten bald weiterarbeiten können. Es gibt viele großartige Büros wie Pashenko Architects, Archimatika oder 33BY Architects. Denn Architektur schafft auch nationale Identität. Das ist in Kiew sichtbar und sollte auch so bleiben. Kiews Unabhängigkeit wird sich auch in Zukunft in der Architektur niederschlagen.

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