Die Friedrichstraße sollte eine schöne Flaniermeile werden, ein großes Stück davon autofrei. Gute Idee - aber so richtig funktioniert hat das bisher nicht.
bz-berlin.de vom 27.03.2022- von Jürgen Wenzel 

Die Friedrichstraße gehört zu den berühmtesten Straßen Berlins. Wie keine andere steht sie für Berlins Vergangenheit und ihre Geschichte reicht zurück bis zu ihrem Namensgeber König Friedrich I. von Preußen (1657-1713). Während der Goldenen Zwanziger Jahre zog sie Berliner genauso wie Touristen magisch an. Hier pulsierte tags und nachts das Leben. Heute, 100 Jahre später, ist vom Glanz der Vorzeigestraße leider nur noch wenig zu spüren.

Besonders zwischen Französischer Straße und Leipziger Straße ist sie zu einer Rumpel-Meile verkommen: Leere oder demolierte Schaukästen und verwaiste Läden prägen das Straßenbild, schon ab 19 Uhr sieht man hier kaum noch Passanten, spätestens ab 22 Uhr ist alles menschenleer. Nur ein paar Obdachlose liegen auf Bänken oder in Geschäftseingängen. Anrainer geben der Sperrung für den Autoverkehr zwischen Französischer Straße und Leipziger Straße die Schuld an diesem trostlosen Straßenbild.

Im Sommer 2020 wurde hier ein vier Meter breiter Fahrradstreifen angelegt (mit Geschwindigkeitsbeschränkung von 20 km/h). Aber das Konzept der "Flaniermeile" ist offensichtlich gescheitert. Die damals noch als temporäres Versuchsprojekt initiierte Fußgängerzone soll nun nach dem Willen von Verkehrssenatorin Bettina Jarasch (53, Grüne) nicht nur dauerhafter Zustand, sondern sogar ausgeweitet werden.

Sicherlich - es war vorher oft Stau, die Straße war verstopft, aber die Menschen kamen, bummelten, tranken Kaffee. Jetzt? Leere. Eine Ortsbegehung der B.Z. und Gespräche mit Anrainern. Das Gesamtbild: trist. Die Seitenstraßen sind notdürftig mit weiß-roten Schildern abgesperrt. Bei den wenigen Passanten, die über die Friedrichstraße hasten, ist von "flanieren" jedenfalls nichts zu merken.

Viele der Schaufenster sind abgeklebt, Geschäfte geräumt oder geschlossen. Und auch die neu aufgestellten Schaukästen sind entweder leer, kaputt oder werden für Werbeplakate genutzt. Und von den Fahrradfahrern halten sich nur die wenigsten an die Geschwindigkeitsbegrenzung.
Auch der Verein "Die Mitte e. V.", in dem 150 Gewerbetreibende zusammengeschlossen sind, übt scharfe Kritik.

Conrad Rausch, der Vorsitzende des Vereins: "Wir fordern den sofortigen Stopp des Verkehrsversuchs. Mittlerweile sind diese 800 Meter des Versuchs optisch traurig und peinlich für die Stadt. Die Optik des Verkehrsversuchs wertet die gesamte historisch bedeutende Friedrichstraße ab. Das kann und darf doch niemand wollen."

Einer der größten Kritiker ist auch der Chef der FDP-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Sebastian Czaja (38). Auf seine Anfrage vom 20. Oktober 2021, wie der Berliner Senat die "Flaniermeile Friedrichstraße " nach über einem Jahr Laufzeit insgesamt bewertet, erhielt er folgende Antwort:
"Auf Grundlage der bisherigen Auswertung bewertet der Senat den Verkehrsversuch bisher weitgehend positiv."

Sebastian Czaja zur B.Z.: "Obwohl es noch immer keinen Endbericht zum Versuch gibt, wurde schon vor der Wahl und entgegen aller vorherigen Versprechen das Experiment autofreie Friedrichstraße einfach zur Dauerlösung erklärt. Der Senat und der Bezirk müssen endlich gemeinsam mit den Unternehmerinnen und Unternehmen vor Ort ein vernünftiges Konzept erstellen - ohne ideologische Scheuklappen!"

"Das Konzept geht nicht auf"

"Auf der Friedrichstraße kann man eindrücklich beobachten, was passiert, wenn grüne Bullerbü-Fantasien auf die Realität in der Hauptstadt stoßen: Während auf der ausgestorbenen 'Flaniermeile' einsame Fußgänger Angst vor rasenden Radfahrern haben müssen, sind die umliegenden Nebenstraßen völlig verstopft und Anwohner leiden unter dem Verkehrslärm . Die Einzelhändlerinnen und Einzelhändler vor Ort haben davon nichts: Die Geschäfte sterben weiter."

"Nachts legen sich hier Obdachlose zur Ruhe"

"Das ganze Projekt als Flaniermeile zu bezeichnen, ist der größte Fauxpas! Wer will schon zwischen einer Fahrradrennstrecke und Aufstellkästen flanieren, von denen die Hälfte entweder kaputt oder leer ist. Vor Beginn des Versuchsobjektes Friedrichstraße wurde gesagt, dass sich die Geschäfte darum reißen würden, sich in den Glaskästen zu präsentieren. Nun, nachdem der Versuch offensichtlich gescheitert ist, soll das Projekt nicht nur bis in alle Ewigkeit verlängert werden, sondern es gibt sogar Überlegungen, die Verkehrssperrungen zu erweitern. Aus einer Prachtstraße wurde eine Rumpel-Meile, auf der sich nachts Obdachlose zu Ruhe legen."

"Die Sperrung kostet uns monatlich ein Drittel unseres Umsatzes"

"Seit der Sperrung der Friedrichstraße für den Verkehr, führe ich das Geschäft wie ein Hobby. Jeden Monat muss ich Geld mitbringen, damit es hier überhaupt weitergeht. Ohne Aufwendung von Eigenkapital könnte ich nicht überleben. Die Sperrung kostet uns monatlich ein Drittel unseres Umsatzes. Viele meiner alten Stammgäste kommen nicht mehr, weil es schlichtweg keine Parkplätze mehr gibt. Seit der Initiierung der Flaniermeile macht doch ein Geschäft nach dem anderen an der Friedrichstraße dicht. Das ist für viele kein Flanier-Anreiz, logisch, sie bleiben weg."

"Das Schlimmste ist die heruntergekommene Optik"

"Ich gehöre zu den Unternehmern, die zu dem Anrainertreffen mit dem Bezirksbürgermeister und der Verkehrssenatorin noch nicht einmal geladen wurden. Ich war von Anfang an gegen das Konzept, aber meine Befürchtungen wurden weit übertroffen. Das Schlimmste ist die katastrophal rammschige Umsetzung und die derzeitige heruntergekommene Optik der Friedrichstraße. Liefer-Lkws blockieren die Seitenstraßen und es gibt nun einfach viel zu wenig Parkplätze. Es muss dringend etwas passieren und die Friedrichstraße wieder für den Verkehr geöffnet werden. Von Flaniermeile kann ohnehin keine Rede sein!"

"Eine Flaniermeile mit Zebrastreifen und Fahrradfahrern"

"Aus der ausgelobten Flaniermeile ist eine Fahrradrennstrecke geworden. Das ganze Konzept ist doch gescheitert. Eine Flaniermeile mit Zebrastreifen und Fahrradfahrern kann nicht funktionieren. Aber das will man nicht wahrhaben, weil schon die Gutachten im Vorfeld des Projektes fast eine Million Euro verschlungen haben. Und nun staut sich alles auf der Charlottenstraße vor meinen Terrassen. Für mich bedeutet diese unschöne Situation ein minus von 20 Prozent vom Tagesumsatz. Mindestens!"

"Unzufriedene Fahrgäste, längere Anfahrtswege"

"Für uns Taxifahrer bedeutet die Sperrung der Friedrichstraße erhebliche Umwege. Oft werden wir beispielsweise von unserem Warteplatz vor dem Hilton Hotel zu einem Ort westlich der Friedrichstraße gerufen, den man ohne Sperrung schnell erreichen könnte. Der Umweg über die Leipziger Straße verdreifacht dann den Anfahrtsweg. Außerdem sind natürlich Fahrgäste, die wir nicht direkt zu ihrem gewünschten Ziel an der Friedrichstraße bringen können, unzufrieden. Ein Problem sind auch die Lkws, die nun die Charlottenstraße verstopfen, oft geht dann gar nichts mehr!"

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