Welt plus vom 12.06.2022 von Dankwart Guratzsch

Die Unesco schlägt Alarm. Ausgerechnet zur 1100-Jahrfeier wird Goslar ein "stark vernachlässigtes Stadtbild" attestiert. Um Dresden, um den Barockgarten Großsednitz ist es nicht besser bestellt. Das deutsche Kulturerbe verliert seinen Rückhalt in der Politik. Das war schon mal anders. In der DDR.

Welch ein vergiftetes Geburtstagsgeschenk! Goslar, die Stadt am Harzrand, 922 gegründet, begeht ihr 1100-jähriges Stadtjubiläum. Roland Kaiser, Santiago, Sarah Connor kommen, die Stadt feiert. Mit Yoga, Festgottesdienst und Musik bei Kerzenschein, mit Ausstellungen, Bierfest und Waldbaden.

Aber das deutsche Welterbekomitee wartet mit einer Standpauke für die Jubilarin auf: "Die Altstadt auf einer historischen Grundfläche von ca. 116 ha mit ca. 1500 denkmalgeschützten Gebäuden, die ein geschlossenes und nie durch Kriegseinwirkungen zerstörtes Zeugnis von städtischem Selbstverständnis und großer handwerklicher Kunstfertigkeit ablegen, erweckt den Eindruck, dass sie nicht in ausreichendem Maße geschützt und gewürdigt wird. Insgesamt ergibt sich ein stark vernachlässigtes Stadtbild." Rums!

Eigentlich hätte man es in Goslar schon lange wissen können, aber, was noch viel schlimmer ist, keiner hat's gesehen. Verwahrlosung kommt nicht über Nacht, sondern ist ein schleichender Prozess. 1992, vor exakt 30 Jahren, hat die Unesco das "Erzbergwerk Rammelsberg und die Altstadt von Goslar" zum Welterbe erklärt. Auf Hege und Pflege der Altstadt hat sich das offenbar nicht ausgewirkt.

Ein von den Welterbehütern eingesetzter Gutachter, der Architekt und Sachverständige für Schäden an Gebäuden Henning Frase, musste ausgerechnet am Kaiserhaus, dem "größten und besterhaltenen Profanbau des 11. Jahrhunderts in Deutschland", "eine seit vielen Jahren deutliche Vernachlässigung der Pflege der Außenanlagen" feststellen. Der Grünbereich sei "vollständig verwildert" und werde "anscheinend als öffentliche Toilette benutzt."

Dem Rathaus von 1295 bescheinigt Frase, es präsentiere sich seit 2010 als Baustelle mit aufgebrochenem Pflaster, und dem Museum, es lagere seine unersetzlichen Bestände "unter klimatisch so unvorteilhaften Bedingungen" ein, dass die von Bürgern bereitgestellten Leihgaben beschädigt würden. Wird der Schlendrian die Stadt am Ende noch das Welterbeprädikat kosten, so wie es schon dem Elbtal in Dresden widerfahren ist?

Goslar ist kein Einzelfall. Die Zeiten, in denen der Denkmalschutz in Deutschland auf breite Unterstützung der Politiker rechnen konnte, sind vorbei. Gerade erst ist in Nordrhein-Westfalen ein neues Denkmalschutzgesetz in Kraft getreten, das die Befugnisse der Oberen Denkmalbehörden faktisch aufhebt.

Wie wenig der Beitrag der Denkmalpflege zu Stadtgestalt und Architektur heute überhaupt noch gilt, das zeigt sich exemplarisch an Architekturführern der jüngeren Zeit. Namen von Denkmalpflegern, die massiv in die Bauqualität und Gestalt von Gebäuden, städtebaulichen Ensembles, Plätzen und Straßen eingegriffen haben, werden kaum noch erwähnt.

Am Beispiel des neuesten Stadtführers für Dresden (Oliver G. Hamm: Architekturführer Dresden, DOM publishers Berlin , 320 S., 38 Euro): Was die Denkmalpfleger Hans Nadler, Fritz Löffler, Heinrich Magirius und Gerhard Glaser persönlich bewirkt und riskiert haben, um die über den Krieg geretteten und in den Architekturführern glanzvoll präsentierten Architekturjuwelen vor der Bonzokratur in Sicherheit zu bringen, ist ohne Vergleich in der Geschichte des Denkmalschutzes und des Städtebaus .

Ohne Magirius wäre weder die Semperoper, noch die Frauenkirche, um nur zwei herausragende Bauwerke zu nennen, in der heute allseits bewunderten Qualität und Perfektion rekonstruiert worden, ohne Löffler wäre das Gedächtnis an den künstlerischen Rang und das Wissen um Details des umfassenden architektonischen Erbes dieser Stadt niemals in dieser Tiefe und Breite bewahrt worden. Nach der Totalzerstörung Dresdens im Zweiten Weltkrieg und der Abrisswut des Nachkriegsoberbürgermeisters Walter Weidauer waren vom innerstädtischen Altbaubestand nur noch Spolien vorhanden.

Die Gebäude mussten von Grund auf neu erschaffen, der Bauschmuck und die Materialität der verlorenen Originalbauten neu erforscht, ergänzt und zum Teil erfunden werden, die Farbigkeit einschließlich der Wand- und Deckengemälde musste aus Vergleichsbeispielen erschlossen und zum Teil neu entwickelt werden. Aber beide werden im Architekturführer für Dresden neben den Namen von hunderten zum Teil völlig unbedeutender Architekten nicht einmal genannt.

In Halle ist es der Denkmalpfleger Gotthard Voss gewesen, der mit seiner fachlich unangreifbaren Prinzipientreue große Teile des reichen Kulturerbes dieser von Flächenbombardements verschonten Stadt dem Zugriff des "sozialistischen Städtebaus " entreißen konnte. Doch auch von ihm will der sonst so professionell und facettenreich angelegte neueste Architekturführer für Halle nichts wissen (Holger Brülls/Thomas Dietzsch: Architekturführer Halle an der Saale, DOMpublishers Berlin , 416 S., 38 Euro). Die Ignoranz der Chronisten und Architekten für den gestalterischen Beitrag der Denkmalpflege wird der Rolle der Konservatoren nicht gerecht.

Für die frühere DDR gilt das in ganz besonderem Maße. Hier sind die Denkmalpfleger oft zu den wichtigsten "Stadtgestaltern" und Stadterhaltern geworden, wenn sie unter Inkaufnahme von Maßregelungen dem rasenden Umgestaltungswahn von Funktionären, die jeden Widerspruch als Staatsboykott auslegten, in den Arm fielen. Die schöpferische Leistung des Denkmalpflegers trat dabei ebenbürtig neben die der Architekten und Planer.

In Handbüchern, die der Erkundung der architektonischen Sehenswürdigkeiten einer Stadt oder Region gewidmet sind, darf sie nicht unterschlagen werden. Auch über den engen Bereich der DDR hinaus sind Denkmalpfleger - ob sie es wollten oder nicht - im 20. Jahrhundert selbst zu Architekten und Städtebauern im konkreten Sinne des Wortes geworden. Dass dem öffentlichen Bewusstsein dieser Beitrag zur Baukultur entglitten ist, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Bedeutungsverlust der Denkmalpflege in der gesellschaftlichen Wahrnehmung.

Er wird auf exemplarische Weise auch an einem weiteren Beispiel bewusst: dem oft als "sächsisches Versailles" gerühmten Barockgarten Großsedlitz bei Dresden. Die von Pöppelmann, Longuelune und Knöffel, den Baumeistern Augusts des Starken, angelegte "großartigste Anlage eines französischen Parks in Sachsen" (Dehio), deren geplantes Hauptschloss nie errichtet wurde, ist den Anliegergemeinden anscheinend nicht mehr "werthaltig" genug. Sie wollen sie durch einen "Industriepark" ergänzen (offizieller Name: Industriepark Oberelbe).

Und was sagt die sächsische Landesregierung dazu? Auf eine Anfrage ausgerechnet der AfD (die bürgerlichen Parteien wussten sich bisher um eine Stellungnahme zu drücken) räumte sie ein, dass gegen die Beeinträchtigung des Gartendenkmals durch den geplanten Industriepark Oberelbe (IPO) bereits "denkmalpflegerische Bedenken" vorgebracht worden seien, da die Umgebung des Parks "betroffen" sei. Mit welcher Konsequenz? Keiner.

Dabei gibt die Regierung zu, dass der Barockgarten "als die künstlerisch und landschaftsgestalterisch bedeutendste barocke Gartenanlage des 18. Jahrhunderts in Sachsen" gelte und "aus bau - und landesgeschichtlichen, bau - und gartenkünstlerischen sowie landschafts-gestaltenden Gründen ein Kulturdenkmal" sei, dessen Erhaltung "im öffentlichen Interesse liegt".

Was hilft es da, dass der Sächsische Heimatschutz e.V. Plakate klebt und einen Stopp des Vorhabens fordert, dass eine hochrangig besetzte Bürgerinitiative drei Bürgerbegehren in drei involvierten Städten auf die Beine stellt und 10.000 Einwendungen einreicht - die Gemeindevertreter schmettern alles ab. Birgit Biermann von der Bürgervereinigung Oberelbe: "Uns kann nur eine extrem starke Bürgerbewegung helfen. Nur, wie können wir die Leute von ihrem Sofa hochlocken?"

Verstecken hintere der Landesverfassung

Die Regierung des Freistaats jedenfalls wird nicht dabei helfen. In ihrer Würdigung der Anlage holt sie zwar zu einem großen Genregemälde aus: "Die durchgehende Begrenzung des Gartens durch Mauern, Zäune oder Hecken und der Blick in die umgebende Landschaft sind ein dialektisches Prinzip im gartentheoretischen Konzept barocker Gärten dieser Zeit. Die Tiefensicht in die Landschaft als nahezu unendliche Sichtweite symbolisierte den landesherrlichen Machtanspruch. Die vielfältigen Raum- und Sichtbezüge der Gartenanlage sind deshalb von entscheidender Bedeutung. Die Unversehrtheit dieser Raum- und Sichtbezüge, insbesondere der verschiedenen Sichtachsen sollte durch die Planungen sichergestellt werden. Es sind nicht nur die geleiteten Sichten geschützt, sondern zum Beispiel auch die unverstellte Tiefensicht von den oberen Gartenräumen auf den gesamten Südraum. Auch eine Beeinträchtigung der Natürlichkeit und Erlebbarkeit der Landschaft durch die Zunahme akustischer Beeinträchtigungen und durch die Beleuchtung der Industrieanlagen wären kritisch zu bewerten."

Doch Konsequenzen hat dieses Eingeständnis nicht. Auch Sachsens Regierung versteckt sich (wie die von Nordrhein-Westfalen) hinter der "verfassungsrechtlich garantierten Planungshoheit der Gemeinden". In sie - so teilt sie den Landeskindern mit - mische sie sich nicht ein.

Jetzt blasen die bürgerbewegten Sachsen zur letzten Attacke. Zu einem Symposion über die "untrennbare Beziehung" zwischen historischen Gärten und ihrer Umgebung haben sie für Mitte Juni die crème de la crème der deutschen Park- und Landschaftsforscher in das Gartenparadies geladen. Mit flammenden Appellen der Sachverständigen soll die Öffentlichkeit wachgerüttelt werden, einen "Umgebungsschutz für Gartendenkmale" einzufordern.

Die Aktion ist in einem Bundesland mit wankenden politischen Mehrheiten nicht ohne Brisanz. Wer hier die Sympathien der Bürger aufs Spiel setzt, muss am Ende zahlen. Es kostet nicht nur Geld, sondern politische Zustimmungswerte. Und das ist in der Demokratie die teuerste Währung.

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