Die Verkehrssenatorin will die Friedrichstraße umgestalten. Ein italienischer Architekt widerspricht
Berliner Morgenpost vom 02.06.2022 von Lea Hensen

Kinder, die beim Spielen sorglos über das Pflaster springen. Erwachsene, die sich – mit dem Rücken an einen Brunnen gelehnt – bei einem Glas Wein unterhalten. Restaurantbesitzer, die am Abend Stühle und Tische nach draußen stellen und einander zuwinken – weil man sich kennt. Die Geräuschkulisse: Stimmen, Gelächter, vielleicht das Gitarrenspiel eines Musikanten, jedenfalls keine Autos, keine Hektik, kein Verkehr.

Klingt nach Urlaub, klingt nach Italien – könnte aber bald schon die Friedrichstraße sein. Denn der Abschnitt zwischen Leipziger und Französischer Straße soll bald einer italienischen „Piazza“ gleichen, hat Verkehrssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) zuletzt gesagt. Jarasch will die Straße im historischen Zentrum Berlins aufwerten und auf dem Abschnitt zwischen Leipziger und Französischer Straße einen Ort schaffen, der Berlinerinnen und Berlinern wie Touristinnen und Touristen als Treffpunkt dient. Nachdem dort bereits seit anderthalb Jahren keine Autos mehr fahren dürfen, sollen künftig auch Radfahrende weichen, denn sie hätten verhindert, dass die Friedrichstraße zur gewünschten Flaniermeile wird. Das Teilstück soll eine reine Fußgängerzone werden, deren Gestaltung in einem Wettbewerb ausgeschrieben werden soll. Sogar die Bordsteine könnten verschwinden.

Einer, der sich mit italienischen „Piazze“ (so der Plural) auskennt, ist Andrea Liguori. Der Sizilianer arbeitet seit neun Jahren als freiberuflicher Architekt in Berlin. Die Bezeichnung „Piazza“ sei nur angemessen, wenn man bei der soziologischen Bedeutung des Begriffs bleibt, betont er. Städtebaulich gesehen könne die Friedrichstraße natürlich niemals zur „Piazza“ werden.

Kein Vergleich zu historisch gewachsenen Plätzen

Die historisch gewachsenen Plätze in Italien sind meist offener und durch die Anordnung der Gebäude um sie herum als zentrale Orte erkennbar, außerdem haben sie oft einen baulichen Schwerpunkt: Eine Kirche zum Beispiel, ein Rathaus, oder einen großen Brunnen.

Auch nicht zur italienischen „Piazza“ passe, dass an der Friedrichstraße eher teurere Geschäfte und Edel-Boutiquen ansässig sind. „Dadurch kommen Touristen zum Shoppen, vielleicht trinken sie danach auch etwas an einer Bar, aber es gibt wenige konstante Besucher, die sich allabendlich an diesem Ort aufhalten“, so Liguori. Diesen ganz wichtigen Aspekt einer „Piazza“ beschreibt Liguori mit dem Begriff „Kiezgefühl“. „An der Friedrichstraße wohnt fast niemand, da sind vor allem Büros“, gibt er zu bedenken. Wo ein Kiez fehlt, fehle auch das Kiezgefühl – die gewünschte „Piazza“ an der Friedrichstraße wäre also niemals authentisch. Der Gendarmenmarkt, nur 800 Meter von der Friedrichstraße entfernt und einer der wichtigsten Berliner Plätze, werde in Bau, Geschichte und Funktion der historischen Bedeutung einer „Piazza“ schon eher gerecht werden. Allerdings habe sich der Platz aufgrund der dort ansässigen Gastronomie und Hotellerie zur touristischen Anlaufstelle entwickelt – das Kiezgefühl kam abhanden. Stattdessen schlägt Liguori für die Friedrichstraße den Begriff „Corso“ vor: Damit sind breite Straßen gemeint, die in Italien von einer „Piazza“ zur nächsten führen, und oft Fußgängerzonen sind. Ein berühmtes Beispiel ist die „Via del Corso“ in Rom, die die „Piazza del Popolo“ im Norden mit der „Piazza Venezia“ im Süden verbindet.

So ganz abwegig ist Jaraschs Wunsch nach einer „Piazza“ in Berlin dann aber doch nicht. Liguori nennt einige Berliner Plätze, die einer italienischen Piazza ähneln. Zum Beispiel der Karl-August-Platz in Charlottenburg, auf dem sich die Trinitatis-Kirche befindet. „Das ganze Kiezleben dreht sich um diesen Platz“, sagt Liguori. „Es gibt einen regionalen Wochenmarkt, lokale Gastronomie und kleine Läden, die dort seit vielen Jahren ansässig sind. Durch diesen Platz entsteht also eine Art Gemeinschaftsgefühl.“ Ein anderes Beispiel sei der Rudolfplatz im südlichen Friedrichshain. Dass der Abschnitt der Friedrichstraße zur Fußgängerzone wird, findet Liguori sinnvoll. „Auch wenn Berlin, verglichen mit südeuropäischen Städten, grundsätzlich keinen dichten Verkehr hat, könnte es mehr Fußgängerzonen geben als jetzt“, betont er. Den ganzen Abschnitt für den Verkehr zu sperren, sei zunächst ein einschneidender Schritt, weil die verkehrlichen Auswirkungen auf die Nebenstraßen spürbar werden. „Aber irgendwo muss man ja anfangen“, sagt er.

Radverkehr lädt nicht zum Spazieren ein

„Aktuell ist der Abschnitt eine Zwischenlösung, die nur den ansässigen Händlern schadet, und aufgrund des Radverkehrs nicht zum Spazieren einlädt, ja sogar gefährlich sein kann.“ Ob sich die Friedrichstraße tatsächlich zur Flaniermeile entwickelt, hänge auch vor ihrer Gestaltung ab. Unter anderem sei dafür eine neue Bepflasterung wichtig, die eine Fußgängerzone als solche markiert, auch müsse der Abschnitt neu begrünt werden – Bäume sind aufgrund der darunter verlaufenden U-Bahn aber nicht möglich. Am Ende schwebt dem Architekten ein Boulevard nach französischem oder spanischem Vorbild vor: Eine Art Berliner „Rambla“.

„Piazza“, „Rambla“ – wie viel südländischer Charakter steckt eigentlich in Berlin? Liguori lacht. „Eher wenig“, sagt er – Berlin sei aus mehreren kleineren Städten gewachsen und damit in Europa ein städtebaulicher Sonderfall.

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