Warum ein Aktionsbündnis, die Dehoga Berlin und der Handelsverband die autofreie Friedrichstraße in Berlin -Mitte stoppen wollen.
Morgenpost vom 23.06.2022 von Julian Würzer

Der Verkehrsversuch auf der Friedrichstraße ist weiterhin umstritten. Während die grüne Senatsverkehrsverwaltung und der grün-geführte Bezirk Mitte seit mehr als zwei Jahren eine dauerhafte „Flaniermeile“ ohne Autos auf dem rund 500 Meter langen Abschnitt forcieren, reißt die Kritik bei den Gewerbetreibenden aus der Friedrichstraße und den umliegenden Straßen nicht ab.

Nun geht der Streit in eine neue Runde. Bis zum vergangenen Freitag konnte man Einspruch gegen die Teileinziehung der Friedrichstraße , also das Schließen des Straßenabschnitts für bestimmte Verkehre und damit indirekt auch gegen die von der Senatsverkehrsverwaltung vorgelegte dauerhafte Umgestaltung einreichen.

Das haben nach Morgenpost-Informationen einige Anrainerinnen und Anrainer gemacht. Das Aktionsbündnis „Rettet die Friedrichstraße !“ ebenfalls . Auch der Berliner Gaststättenverband Dehoga und der Handelsverband Berlin -Brandenburg haben eine Stellungnahme abgegeben, die der Berliner Morgenpost exklusiv vorliegt. Die Interessensverbände haben den Gewerbetreibenden zudem juristische Unterstützung zugesichert.

Autofreie Friedrichstraße: Aktionsbündnis äußert erhebliche Bedenken
Anja Schröder, Inhaberin des Weinladens „Planet Wein“ an der Charlottenstraße, kritisiert seit einiger Zeit die Zunahme des Verkehrs auf der Charlottenstraße als Ergebnis des Verkehrsversuchs. Deshalb hat sie sich mit anderen Händlerinnen und Händlern sowie Interessensvertretungen zum Aktionsbündnis „Rettet die Friedrichstraße!“ zusammengeschlossen.

Im Gespräch erzählt sie, dass sie erst eine Woche vor Ablauf der Widerspruchsfrist durch einen Tipp aus der Politik davon erfahren habe. Man habe schon gezielt im Amtsblatt ( PDF-Download ) nach der Bekanntmachung des Teileinziehungsverfahren im Amtsblatt vom 20. Mai 2022 suchen müssen. In wenigen Tagen hätte sie ihren mehrseitigen Einspruch zusammengetragen und mithilfe eines Anwalts beim Bezirksamt Mitte eingereicht. Fristgerecht.

Darin äußert das Aktionsbündnis „erhebliche“ Bedenken und fordert eine Lösung auf der Friedrichstraße, die auch die Interessen der Anlieger berücksichtige. „Der aktuell rechtswidrige Zustand des gescheiterten Verkehrsversuchs „Flaniermeile Friedrichstraße “ muss daher beendet und gemeinsam mit allen Betroffenen ein tragfähiges und vor allem rechtssicheres Verkehrskonzept gefunden werden“, heißt es in der entsprechenden Mitteilung, die das Aktionsbündnis am Mittwoch veröffentlichte.

Verkehrssenatorin Jarasch will eine „Piazza“ auf der Friedrichstraße
Die Anrainer seien zwar bereit, den mit dem Berliner Senat begonnenen Dialog der vergangenen Monate fortzuführen. Allerdings sei keine Zeit für weitere „Schnellschüsse“ ohne Berücksichtigung der Menschen vor Ort. Zudem fordere man ein Gesamtkonzept, das neben der Friedrichstraße eben auch den Boulevard Unter den Linden und den Gendarmenmarkt miteinbeziehe. „Wenn wir den Einspruch nicht eingelegt hätten, fährt womöglich nie wieder ein Auto auf der Friedrichstraße “, sagt Schröder.

Anfang Mai hatte Verkehrssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) die Pläne zur Neugestaltung und den Abschlussbericht der Friedrichstraße vorgestellt. Damals sagte sie, dass der Abschnitt zwischen Leipziger und Französischer Straße bald einer italienischen „Piazza“ gleichen soll. Sie erklärte, dass das bisherige Konzept in dieser Form nicht funktioniere. Daher soll der von Beginn an umstrittene Radweg in der Mitte der Straße künftig wegfallen und der Bereich eine Art Fußgängerzone werden.

Handelsverband und Dehoga zeichnen anderes Bild als die Verkehrsverwaltung
Der Fahrradverkehr hingegen soll auf die benachbarte Charlottenstraße verlegt werden, der Autoverkehr soll dann nach Auffassung der Verkehrssenatorin nur noch „Gast“ sein. Ein Grund für die Neugestaltungen waren die Ergebnisse von Untersuchungen während des Experiments, die laut Jarasch größtenteils positiv ausgefallen seien. Etwa hätten Messungen gezeigt, dass die Luftschadstoffbelastung abgenommen und sich die Anzahl der Passanten während des Sommers 2021 im Vergleich zur Zeit vor Beginn des Versuchs im August 2020 um 50 bis 60 Prozent erhöht habe.

Doch an diesen Zahlen üben der Handelsverband Berlin -Brandenburg und die Dehoga Berlin in ihrer Stellungnahme massive Kritik. In dem mehrseitigen Dokument, das vom von Dehoga-Chef Thomas Lengfelder und Handelsverbandschef Nils Busch-Petersen unterzeichnet ist, ist von „mangelnder und ungeeigneter Datenlage“ die Rede. Die Steigerung würde ein verzerrtes Bild zeichnen. Um es aus ihrer Sicht zu korrigieren, schreiben die Geschäftsführer, dass etwa im August 2020 überdurchschnittlich viele Menschen im Home-Office gewesen seien, zudem seien wegen der Pandemie auch deutlich weniger Touristen in der Stadt gewesen.

Dafür führen sie Zahlen des Amts für Statistik Berlin -Brandenburg an. Waren es im August nur rund 1,6 Millionen Übernachtungen, sind es im Vor-Pandemiejahr im selben Zeitraum noch mehr als 3,3 Millionen Übernachtungen gezählt worden. Ein Frequenzzuwachs im Jahr 2021 sei im Vergleich zum August 2020 deshalb schon zu erwarten, weil die Corona-Maßnahmen deutlich mehr zu ließen.

Laut Auswertung weniger Passanten auf der Friedrichstraße
Ferner verweisen sie auf eine Auswertung des Einzelhandelsexperten COMFORT, der ein anderes Bild als das im Abschlussbericht dargestellte zeichnet. „Hier wird im Oktober 2021 gemeldet, dass Höchstfrequenz pro Stunde hier nur noch bei etwas über 3000 Passanten gegenüber fast 5000 Passanten im langjährigen Mittel liegt“, so in der Stellungnahme. Ferner schreiben sie auch, dass rund ein Drittel der Gewerbetreibenden mit Anlieferungen Probleme hätten und die Verlagerung des Verkehrs eine deutliche Belastung für die Charlottenstraße darstelle .

„Tatsächlich konnten weder der Senat noch das Bezirksamt Mitte im Verlauf des Projekts belastbare Daten zur wirtschaftlichen Situation und zu den Auswirkungen des Verkehrsversuchs auf die Gewerbetreibenden erheben“, schreiben die beiden Geschäftsführer. Zwar räumte die Senatsverkehrsverwaltung und das Bezirksamt Mitte diesen Umstand in ihrem Abschlussbericht ein . Doch unter diesen Voraussetzungen könne der Versuch nicht fortgesetzt werden, so die Interessensverbände.

Handelsverband: Politik durch die Hintertür verhindern
Als Fazit schreiben sie: „Der Verkehrsversuch hat nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht. Er ist gescheitert. Die beabsichtigte Teileinziehung ist daher abzulehnen“. Wie das Aktionsbündnis fordern auch der Handelsverband und die Dehoga eine Einbeziehung der umliegenden Bereiche, des Gendarmenmarkts und Unter den Linden . Eine solche Aufgabe müsse durch Ausschreibung an Experten vergeben und von Anrainern, Interessengemeinschaften und Verbänden eng begleitet werden. „Bis dahin sollten keine voreiligen Schritte unternommen werden und zunächst der Status quo ante wieder hergestellt werden“ heißt es weiter.

Gegenüber der Morgenpost sagt Nils Busch-Petersen am Mittwoch: „Wir dürfen nicht zulassen, dass unumkehrbare Verwaltungsakte durch die Hintertür geschehen.“ Deshalb habe man eine Stellungnahme abgeben und werde auch die Gewerbetreibenden vor Ort bei ihren Widersprüchen unterstützen - sodass am Ende alle miteinbezogen werden bei der Neugestaltung der Friedrichstraße.

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