Diese Woche sollte die Jury über die Gestaltung des zentralen Quartiers entscheiden. Doch Senat und Preisgericht sind sich offenbar noch nicht einig
Tagesspiegel vom 04.07.2022 von Theresa Roelcke

Die für diese Woche geplante Entscheidung für einen der beiden städtebaulichen Entwürfe für den Molkenmarkt ist kurzfristig abgesagt worden. Das öffentliche Werkstattgespräch und das Abschlusskolloquium der Jury wurden bis auf weiteres verschoben, „auf einen Termin nach den Sommerferien“, wie es in einer Mitteilung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung heißt. Die Meldung wurde vor knapp zwei Wochen veröffentlicht. Grund für die Verschiebung sei, „dass wesentliche wichtige Partner:innen nicht an der Sitzung des Abschlusskolloquiums zum Werkstattverfahren Molkenmarkt am 07.07.2022 teilnehmen können.“

Die Absage einer solchen Jurysitzung ist äußerst unüblich, zumal die Mitglieder des Preisgerichts Stellvertreter haben und der Termin schon seit geraumer Zeit feststeht. Wer die Personen sind, die nicht an der Sitzung teilnehmen können, wollte die Senatsverwaltung auf Nachfrage nicht mitteilen. Christa Reicher, Stadtplanerin und Vorsitzende des Preisgerichts, sagte dem Tagesspiegel, sie sei selbst überrascht gewesen, es sei aber „letztendlich die bessere Lösung“, da sonst „wichtige Entscheidungsträger“ wegen Krankheit und Urlaubszeiten an der Sitzung gefehlt hätten.

Eine Krankheit als Verschiebungsgrund, der schon zwei Wochen vor dem fraglichen Termin bekannt ist – das legt nahe, dass es sich um einen längeren Ausfall handelt. Tatsächlich ist von einem Jurymitglied bekannt, dass es seit einiger Zeit erkrankt ist: von der Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt. Eine Antwort auf die Frage, ob Kahlfeldt mit Stand 22.6. am ursprünglichen Sitzungstermin am 7.7. hätte teilnehmen können, verweigerte die Senatsverwaltung mit der Begründung, „dass wir nicht auf „Hätte-Wenn-und-Aber-Fragen“ antworten.“ Die Juryvorsitzende Reicher betonte dem Tagesspiegel gegenüber, wie wichtig es für Kahlfeldt sei, persönlich am Verfahren beteiligt zu sein.

Sollte die Erkrankung von Petra Kahlfeldt der Grund für die Verschiebung sein, wäre das brisant. Denn ihre Mitgliedschaft im Preisgericht ist nicht unproblematisch: Bereits vor ihrer Ernennung zur Senatsbaudirektorin war sie Mitglied der Jury, damals allerdings noch als „Fachpreisrichterin“, also als fachlich kompetente Berliner Architektin, die im Verfahren ihre individuelle städtebauliche Position vertreten darf. Als solche soll sie sich für den Entwurf von Bernd Albers und Silvia Malcovati stark gemacht haben.

Dem jüngst verstorbenen Architekten Bernd Albers steht sie auch biografisch nahe. Beide haben sie an der neuen „Altstadt“ in Frankfurt am Main mitgewirkt; beide waren sie über Jahre Teil der BerlinerPlanungsgruppe Stadtkern“, die für eine „Wiedergewinnung der Berliner Mitte“ eintritt.

Durch die Ernennung zur Senatsbaudirektorin im Dezember vergangenen Jahres hat sich Kahlfeldts Rolle in der Jury geändert. Nun muss sie die Interessen des Landes Berlin vertreten, zu denen zentral die Schaffung bezahlbaren Wohnraums und klimaschonender und -resilienter Gebäude gehört, wie sie auch in den Ausschreibungsunterlagen zum städtebaulichen Wettbewerb für den Molkenmarkt gefordert sind. Und diese Interessen verwirklicht allem Anschein nach der konkurrierende Entwurf besser, der Entwurf, den das Kopenhagener Büro OS arkitekter gemeinsam mit den Berliner Architekten Marek Czyborra und Tom Klingbeil entwickelt hat.

Dass das auch von Teilen des Preisgerichts so gesehen wird, klang bereits im öffentlichen Teil des Zwischenkolloquiums an. Aus dem Umfeld der Jury hört man, dass im Gremium zuletzt eine Tendenz zum Kopenhagener Entwurf zu spüren gewesen sei – natürlich mit dem Vorbehalt, dass die zweite Überarbeitungsrunde nicht abgeschlossen und noch keine Entscheidung gefallen sei. Die Senatsverwaltung hingegen favorisiere den Entwurf vom Büro Albers/Malcovati.

Was würde es also bedeuten, wenn die abschließende Jurysitzung nun deshalb verschoben wird, weil Petra Kahlfeldt aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen kann? Ist die Senatsverwaltung besorgt, dass die Jury sich ohne Kahlfeldts Teilnahme für den „falschen“ Entwurf entscheidet? Versucht sie, die Beteiligung von Jury und Öffentlichkeit zu umgehen, um den von ihr favorisierten Entwurf durchzubekommen?

Dieser Eindruck verdichtet sich jedenfalls in einem anderen Bereich. Es geht um die „Charta Molkenmarkt “. Dieses Papier will die Stadtentwicklungsverwaltung im Anschluss an die Juryentscheidung erarbeiten und darin die konkreten Grundlagen für die nachfolgenden Architekturwettbewerbe festschreiben. Eingehen sollen darin die Ergebnisse des aktuellen Werkstattprozesses, der wiederum auf acht Leitlinien basiert, die im Vorfeld in einem breit angelegten öffentlichen Beteiligungsverfahren erarbeitet wurden. Sie entwerfen den Molkenmarkt als ökologisches Quartier mit flexiblen Nutzungsmöglichkeiten und innovativen, bezahlbaren Wohnformen. Bezüge zum historischen Berliner Stadtkern sollen erkennbar sein.

Dass die Charta entstehen soll, ist schon lange klar. Nur: Wie genau sollen sich die Ergebnisse von Werkstattverfahren und Leitlinien darin widerspiegeln? Ist die Charta womöglich ein willkommener Anlass für die Senatsverwaltung, Teile dieser Ergebnisse zu unterschlagen, weil sie nicht so recht mit Kahlfeldts Sympathien für den Entwurf von Bernd Albers kompatibel sind?

Das jedenfalls fürchtet Julian Schwarze, stadtentwicklungspolitischer Sprecher der Grünen im Abgeordnetenhaus: „Es darf nicht passieren, dass Teile der Leitlinien dabei wegfallen oder umgedeutet werden, damit die Charta besser zu einem der Entwürfe passt. Es geht darum, den Entwurf auszuwählen, der die Leitlinien am besten umsetzt und nicht umgekehrt.“

Für seine Sorge hat Schwarze allerdings Gründe. Es scheint, als wolle die Senatsverwaltung die Umsetzung gerade der Leitlinien nicht so gerne in der Charta absichern, mit denen der Entwurf von Albers und Malcovati nicht so gut kompatibel ist: die flexible Nutzung der Grundrisse, die Bezahlbarkeit und die nachhaltige und klimafreundliche Bauweise. Verbindliche Voraussetzungen für all diese Punkte möchte die Senatsverwaltung wohl erst in der ferneren Zukunft definieren. Das jedenfalls geht aus den Antworten auf eine schriftliche Anfrage hervor, die Schwarze an die Senatsverwaltung gestellt hat.

Mit Lage und Anzahl der Treppenhäuser, die enorme Preistreiber beim Bau sein können, sollen sich demnach erst die späteren Architekturwettbewerbe beschäftigen: „Über die konkrete Lage der gebäudebezogenen Erschließungsstrukturen, die Breite und die Grundrisse der Gebäude wird allerdings erst in den nachfolgenden Hochbauwettbewerben entschieden.“ Aber gerade in der Zahl der geplanten Treppenhäuser unterscheiden sich die beiden Entwürfe sehr: Der Kopenhagener Entwurf erschließt große Flächen durch wenige gemeinsame Treppenhäuser; der Entwurf von Albers/Malcovati sieht nach dem aktuell bekannten Stand auch zahlreiche schmale Häuser vor, bei denen sich nur wenige Wohnungen ein Treppenhaus teilen.

Für Julian Schwarze ist es daher ein Problem, diese Fragen in der Charta Molkenmarkt auszuklammern: „Punkte wie die wirtschaftlichen Erschließungsstrukturen sind jetzt wichtig und spielen gerade für kostengünstiges und damit auch bezahlbares Wohnen eine wichtige Rolle. Das ist auch ein wichtiger Punkt der Leitlinien. Hier gibt es entscheidende Unterschiede zwischen den Entwürfen, die von großer Bedeutung sind.“

Auch auf die konkrete Sicherung der Bedingungen für ein klimafreundliches Quartier will die Senatsverwaltung in der Charta Molkenmarkt wohl verzichten, wie in der Antwort auf die Anfrage zu lesen ist: „Die Charta Molkenmarkt wird auf den Ergebnissen des Werkstattverfahrens basieren.“ Und dort seien ja bereits Klimaschutzanforderungen definiert gewesen.

Matthias Grünzig, als Bürgervertreter Beobachter bei den Jurysitzungen, machen die Vorgänge um die Charta Molkenmarkt und die Verschiebung der Jurysitzung stutzig. „Auf mich wirkt das intransparent, gemauschelt,“ sagte er dem Tagesspiegel am Telefon. „Mir ist nicht klar, was die Charta eigentlich sein soll, was da drin stehen soll.“

Nun könnte man sagen: Egal wie sehr sich die Senatsverwaltung dagegen sperrt, bestimmte Anforderungen in der Charta auszuarbeiten – das Abgeordnetenhaus wird das Dokument am Ende beschließen und notfalls Nachbesserungen einfordern, falls die Charta die Umsetzung der Leitlinien nicht angemessen absichert. Das hat schließlich Manfred Kühne, Abteilungsleiter in der Stadtentwicklungsverwaltung, am 8. Oktober vergangenen Jahres in einer öffentlichen Veranstaltung angekündigt. Nur: Auch das scheint inzwischen nicht mehr den Plänen der Verwaltung zu entsprechen. Auf Tagesspiegel-Anfrage gab die Pressestelle an, der Senat und nicht das Abgeordnetenhaus werde die Charta Molkenmarkt beschließen.

Die Sorge, es werde im Hinterzimmer und an der Öffentlichkeit vorbei über die Zukunft des Molkenmarkts entschieden werden – ausgeräumt werden kann sie jedenfalls durch solche Antworten nicht.

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