Wie der mittelalterliche Fischerkiez zur modernen Fischerinsel wurde. Und was die als Wohnort so besonders macht.
Berliner-Zeitung vom 08.07.2022 von Stefanie Hildebrandt

Auf der Rückseite des Kreativhauses, eines öffentlichen Treffs mitten auf der Fischerinsel, wird gebaggert. Mit dem Aushub kommen rote Ziegel und anderer Schutt zum Vorschein. Nur einen Meter tief im Erdreich schlummert sie, die Vergangenheit eines der spannendsten Wohnorte der Stadt. Oben ist von dieser alten Geschichte nichts mehr zu sehen. Umtost von Stadtverkehr stehen auf der Insel mehrere Hochhäuser. Von ihnen lässt sich tief in die Berliner Geschichte schauen.

An kaum einem Ort in Berlin wird schon so lange gewohnt wie auf der Fischerinsel. Wobei der Name noch recht jung ist. Er wird erst im Zuge der Neuplanung für das Gebiet zwischen der Spree im Osten und dem Spreekanal im Westen geprägt. Der Magistratsbeschluss Nr. 79 benennt das Straßengebilde im Jahr 1969 „Fischerinsel“, vorher war „Fischerkiez“ geläufig.

Die Fischerinsel – das ist ein etwa acht Hektar großes Viertel am südlichen Zipfel der Spreeinsel. Vor dem Jahr 1200 siedelten auf der Insel slawische Stämme. Genau hier entstand 1307 aus zwei mittelalterlichen Siedlungen Berlin : aus Berlin , 1244 erstmals urkundlich erwähnt, am Ostufer, und Cölln, schon 1237 aufgetaucht, auf dem Eiland.

Doris Hildebrandt (nicht verwandt mit der Autorin, Anm. d. Red.) wohnt seit 1972 auf der Fischerinsel, erst mit ihrem Ehemann, der als Hausmeister arbeitete, und ihren beiden Kindern im Hochhaus mit der Nummer 5, neunte Etage, inzwischen in der 6, erste Etage. Könnte sie von ganz oben, vom 21. Geschoss, ganz tief in die Vergangenheit blicken, sagen wir: 750 Jahre zurück, sähe sie ein wucherndes Hafengebiet.

Am Spreeufer ließ sich gut Handel treiben. Wohlhabende Bürger der Fischer- und Schiffergilden bewohnten im 15. Jahrhundert Alt-Cölln. Im 17. und 18. Jahrhundert zogen Handwerker aus Holland und Glaubensflüchtlinge aus Frankreich hierher. Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Insel zum Arme-Leute-Viertel, dem Fischerkiez.

„Galt Alt- Berlin , das östliche Teilzentrum, schon als rückständig, so war der Fischerkiez das rückständigste Teilgebiet von Alt- Berlin “, schreibt der Stadtplaner Harald Bodenschatz 1995 in „ Berlin – Auf der Suche nach dem verlorenen Zentrum“. Bis zu 480 Einwohner hausten auf einem Hektar, so viele wie nirgendwo sonst im Stadtzentrum. „Hier gab es eine Fülle von kleinen und kleinsten Parzellen, von kleinen, schmalen und zum Teil niedrigen Häusern, und hier gab es noch Gassen von außerordentlicher Enge. Man kann wohl davon ausgehen, dass hier die schlechtesten Wohnverhältnisse von ganz Berlin anzutreffen waren.“

Trotz des Zweiten Weltkriegs blieb diese Altstadt, an die heute kein Stein mehr erinnert, verhältnismäßig unversehrt: Weit über die Hälfte der Gebäude wäre sanierbar gewesen. Doch schon in den 1920er-Jahren war darüber debattiert worden, das Viertel abzureißen. 30 Jahre später gab es Diskussionen über den Erhalt der historisch wertvollen Häuser. Doch den politisch Verantwortlichen in der noch jungen DDR war an einer „sozialistischen Umgestaltung“ gelegen: an einer geschlossenen Blockbebauung. Und so wurde kahlschlagsaniert.

An die ärmlichen Häuser mit Außentoilette, die am Ufer vor den heutigen Hochhäusern mit den Nummern 4 und 5 standen, erinnert sich Anwohnerin Inge Weingart noch: „Die sahen romantisch aus. Aber wohnen wollte da keiner.“ Im Jahr 1964 begann der Abriss des Fischerkiezes, inklusive 33 Baudenkmäler. Zwei Gebäude entstanden an anderer Stelle als Kopie: Die Gaststätte Zum Nußbaum zog ins Nikolaiviertel, und das Rokokohaus Friedrichsgracht Nr. 15 aus der Zeit um 1740 bekam den Standort Märkisches Ufer 12. Die sogenannte Traditionszeile Friedrichsgracht dort ist das Feigenblatt, das über dem unwiederbringlichen Verlust historischer Bausubstanz liegt.

Wir sind ja eine Insel, wir haben eigentlich keinen großen Kontakt zum Umland.

Inge und Klaus Weingart, Bewohner der Fischerinsel

Bis 1973 entstanden auf der Fischerinsel sieben Hochhäuser des Plattenbautyps WHH GT (Wohnhochhaus in Großtafelbauweise). Auf jeder Etage (wie in New York mit Müllabwurfschächten!) befinden sich zwölf Ein- bis Vier-Zimmer-Wohnungen. Nicht wenige Insulaner, die einzogen, waren so international wie die Fernhandelskaufleute von einst: Diplomaten aus den sozialistischen Ländern Afrikas sowie aus Kuba, Syrien und dem Irak. An deren Klingelschildern stand statt eines Namens DAV – Dienstleistungsamt ausländischer Vertretungen.

Auch Prominente waren auf der Fischerinsel zu Hause. Markus Wolf, Chef des DDR-Auslandsnachrichtendienstes, wohnte in der 20. Etage der Nummer 2. Die Dichterin Sarah Kirsch, der Kinderbuchautor Benno Pludra („Insel der Schwäne“) und der Schauspieler und Sänger Dean Reed lebten ebenfalls hier, ferner der Schauspieler Herbert Köfer, der seinen gelben Sportwagen, einen Melkus, auf der Straße parkte.

Die Bewohner Inge und Klaus Weingart schätzen die historische Mitte , die sie direkt vor der Haustür haben: Museumsinsel, Alexanderplatz, Nikolaiviertel, alles ist zu Fuß gut erreichbar. „Wir sind ja eine Insel, wir haben eigentlich keinen großen Kontakt zum Umland“, sagen die Weingarts. Runter von der Insel, über eine der Brücken, die direkt ins Zentrum der Stadt führen, mussten die Bewohner auch zu DDR-Zeiten selten. Kaufhalle, Reinigung, Kindergarten, alles befand sich vor Ort. Auch das Ahornblatt.

Die Großgaststätte Ahornblatt (880 Plätze) an der Gertraudenstraße Ecke Fischerinsel, eröffnet 1973, war ein Meisterbauwerk der Moderne in der DDR, entworfen von Ulrich Müther: Das Dach war eine Konstruktion aus fünf hyperbolischen Paraboloidschalen, die wie ein Fächer angeordnet waren und an ein Ahornblatt erinnerten. Das Gebäude, in dem sich auch eine Einkaufspassage befand, stand als „Vertreter des ,Organischen Bauens ‘“ unter Denkmalschutz; der Berliner Senat genehmigte trotzdem den Abriss, der im Sommer 2000 erfolgte.

Doris Hildebrandt vermisst das Leben in der 5 ein wenig: die Aussicht von der neunten Etage hinüber zur Jannowitzbrücke („Das Schönste an der Wohnung ist immer der Blick gewesen“) und den Hausclub im Erdgeschoss („Wir waren eine eingeschworene Gemeinschaft“). Ansonsten schätzt sie sich glücklich, einen alten Mietvertrag zu haben. Sie zahlt für 62 Quadratmeter 500 Euro Miete, inklusive Parkplatz. Zu DDR-Zeiten waren es 110 Mark.

Auf dem Köllnischen Fischmark an der Ecke Mühlendamm /Fischerinsel lässt die Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) derzeit, im Frühjahr 2022, Ein- bis Vier-Zimmer-Wohnungen sowie möblierte Apartments entstehen. Eine Hälfte wird vom Land gefördert und soll für eine Kaltmiete ab 6,50 Euro je Quadratmeter angeboten werden. Für die frei finanzierten Wohnungen fallen laut WBM 9,99 Euro an, für die Apartments 16 Euro. In der näheren Umgebung, gegenüber am Märkischen Ufer etwa, wurden in den vergangenen Jahren nach Angaben von Immoscout24 Eigentumswohnungen für durchschnittlich 6000 Euro pro Quadratmeter gehandelt.

Die Lage ist eben unschlagbar. Und der Blick erst.

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