Saleh warnt vor Gentrifizierung durch Verkehrswende in Berlin
Tagesspiegel vom 26.01.2022 von Julius Betschka

Raed Saleh fordert Tempo bei der Verkehrswende – warnt aber vor Gefahren. Der SPD-Fraktionschef hält den Weiterbau der A100 für falsch und verteidigt seine Kostenlos-Politik für Berliner Kinder.

Herr Saleh, Sie kommen aus einer Arbeiterfamilie, sind in einem Brennpunkt aufgewachsen. Wie kommt das dort an, wenn Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck jetzt sagt, alle sollen mal kürzer duschen?

Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck hat gesagt, für den Frieden müssen wir Frieren. Viele Menschen denken sich: Du hast gut reden. Du hast eine große Wohnung, Dir geht es finanziell gut. Ähnlich war es mit Cem Özdemirs Aussage vergangenes Jahr, dass die Lebensmittel grundsätzlich zu billig sind. Wie soll das bei Menschen ankommen, die jeden Euro umdrehen müssen, die sich überlegen, ob sie die billige oder die teure Butter nehmen? Ich kenne das noch aus meiner Kindheit. Solche Belehrungen durch Politiker halte ich für falsch. Die meisten Menschen sind doch bereit, ihren Beitrag zu leisten. Ihnen bleibt aus Kostengründen auch nichts anderes übrig.

Was wäre Ihr Weg?
Es gibt längst viele Vorschläge von Verbraucherschutzzentralen und Experten, wie man vernünftig Energie sparen kann. Politiker sollten sich diesen erhobenen Zeigefinger sparen. Das ist nichts anderes als die Verlagerung der Verantwortung an die Bevölkerung. Die Menschen kommen überhaupt nicht aus dem Krisenmodus heraus: erst die Pandemie, jetzt Krieg und Inflation. Ich sage: Wir müssen schätzen, was die Menschen alles leisten. Und der alte Satz von Angela Merkel gilt für mich bis heute: Wir schaffen das.

Berliner Durchschnittsfamilie wird um 780 Euro im Monat entlastet

Verkehrssenatorin Bettina Jarasch hat vor „Rund-Um-Sorglos-Paketen“ für die Bevölkerung gewarnt. Fühlen Sie sich gemeint?

Niemand ruft nach Rund-Um-Sorglos-Paketen. Die Berliner sind stark. Was sie aber erwarten können, ist, dass der Staat sie unterstützt in der Krise. Ein Wir-Wälzen-Alles-Auf-Die-Bevölkerung-Ab-Paket darf es auch nicht geben. Hier ist besonders die Bundesregierung gefragt. Ich halte deshalb nach wie vor eine Übergewinnsteuer für Unternehmen, die unverschämt hoch an der Krise profitieren, für richtig und die temporäre Aussetzung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel. Mit den Steuermehreinnahmen durch die Inflation – das sind 50 Milliarden Euro – sollte sich der Bund nicht nur bei Energiekonzernen einkaufen, sondern auch die Bevölkerung stützen. Deshalb ist die von Olaf Scholz angekündigte Wohngeldreform ein wichtiger Schritt. Das Geld gehört den Menschen und nicht der Regierung.
Jarasch warnte auch vor „Gießkannenpolitik“. Das ist ein häufiger Vorwurf gegen Ihre Politik: Auf ihr Betreiben hin wurden Schulmittagessen, Kita- und Hortbesuch oder Fahrten für Schüler in Berlin für alle Kinder kostenlos gemacht. Allein das Schulmittagessen kostet 180 Millionen Euro pro Jahr. Kann sich das die Stadt noch leisten?

Ich frage Sie: Was wäre in diesem Bundesland los, hätten wir jetzt nicht die gebührenfreie Bildung? Was wäre schon in der Pandemie los gewesen? Wir entlasten eine Berliner Durchschnittsfamilie um 780 Euro im Monat.

Aber die Kritik ist ja, dass Sie damit nicht nur Steuergeld an arme Menschen ausschütten, sondern einfach an alle.
Was tut denn die hart arbeitende Bevölkerung, die Menschen, die wir zur Mittelschicht zählen, die zwischen 1.800 Euro Netto und als Familie 3.000 Euro Netto im Monat verdienen und die Frau Jarasch als Gutverdienende bezeichnet? Sie geben das Geld wieder aus in der Stadt. Sie schaffen sich ein neues Kinderbett an, kaufen einen Schulranzen. Das Geld bleibt im Kreislauf. Diese Maßnahmen sind zugleich Sozial- und Wirtschaftspolitik.

Auch das dritte Hortjahr soll für Kinder kostenlos werden

Der Staat kann Geld nur einmal ausgeben. Warum nicht arme Menschen noch stärker entlasten und mittlere Einkommen, die es nicht nötig haben, weniger?

Ich will, dass sich alle Menschen Berlin leisten können. Wir wollen auch diejenigen im Blick haben, die sonst oft vergessen werden: die Mittelschicht. Die Busfahrerin, den Polizisten, Bauarbeiter, Kassierer. Das sind die Stabilisatoren dieser Demokratie. Ich möchte, dass es für niemanden ein Armutsrisiko darstellt, wenn man Kinder bekommt. Ich finde deshalb sehr wohl, dass es richtig ist, auch diese Menschen zu entlasten. Ich bin stolz darauf, dass wir die fast komplette Gebührenfreiheit der Bildung eingeführt haben. Das gibt es nirgendwo sonst in Deutschland! Und das dritte kostenlose Hortjahr kommt jetzt auch noch dazu.

Woanders fehlt dafür Geld: Ausgerechnet beim Schulbau, einem ihrer Herzensprojekte, werden jetzt Millioneninvestitionen wohl um Jahre verschoben. Schreiten Sie ein?

Die Investitionsplanung wird im Senat verabschiedet. Wir werden uns das aber natürlich nochmal in Ruhe anschauen. Bislang ist das nur ein Vorschlag vom grünen Finanzsenator Daniel Wesener

Der Energiefonds des Senats soll dafür bis auf eine Milliarde Euro wachsen...

Erstmal ist der Bund in der Pflicht. Aber wir schieben die Verantwortung für die steigenden Energiekosten nicht von uns weg. Wir haben schon jetzt mit einem sehr hohen Betrag Vorsorge getroffen, um Menschen in Not zu helfen. Diesen Betrag wollen wir im Notfall auf bis zu einer Milliarde Euro erhöhen.

Nach der bisher vorgesehenen Verteilung geht nur ein kleiner Teil der Summe an arme Menschen. Und zwar weniger als 15 Prozent – das meiste sickert in die Verwaltung. Reicht das zur Entlastung?

Verwaltung kann auch das Heizen von Schulen oder Kitas bedeuten. Letztlich muss der Senat sagen, wo man Geld konkret braucht. Dazu gehört, dass die Schulen warm bleiben müssen, aber auch, dass niemand in seiner Existenz bedroht ist. Wir müssen beides leisten. Als Parlament haben wir schon ein Summe X bereitgestellt und ich nehme eine große Bereitschaft war, diese auch zu erhöhen.

Bundesregierung muss Folgen des Krieges in Deutschland lösen

Können Sie sich im Winter Wärmehallen vorstellen wie nach dem Zweiten Weltkrieg?

Ich zucke bei diesem Begriff zusammen. Ein Sozialstaat muss soziale Härten abfedern. Ich hoffe, dass wir das ohne solche Wärmehallen hinbekommen.

Wie lange hält Deutschland die Sanktionen durch? Neben einigen CDU- Ministerpräsidenten hat auch Ihr SPD-Fraktionskollege Jörg Stroedter die Embargo-Politik des Westens kürzlich als falsch bezeichnet.

Ich unterstütze den Weg von Olaf Scholz. Man darf nicht die Tatsachen verdrehen: Russland hat sich völkerrechtswidrig verhalten. Europa darf dabei nicht tatenlos zusehen. Wir müssen die Folgen des Kriegs, die in Deutschland entstehen, lösen - da ist die Bundesregierung in der Pflicht. Wir müssen gemeinsam aus dieser Krise herauskommen und dafür die richtigen Signale an die Bevölkerung senden.

Berlin soll für alle leistbar sein, sagen Sie. In der Wohnungspolitik gibt es dafür das Wohnungsbündnis. Doch viele Mietervertreter, Gewerkschaften oder Immobilienentwickler machen nicht mit, auch Vonovia hat noch nicht unterschrieben. Ist der Versuch einer Wohnungspolitik des Miteinanders schon gescheitert?

Ich glaube nicht. Es stehen viele gute Punkte in dieser Verabredung drin. Diese gilt es jetzt einzuhalten. Auch bereits zugesagte Verabredungen wie das Mietmoratorium für landeseigene Unternehmen bleibt bestehen. Gerade der Chef des Mietervereins, Andreas Wild , hat lange aktiv an der Kommission mitgewirkt. Die Erfolge des Bündnisses sind auch die Erfolge von Herrn Wild. Er kann darauf stolz sein. Warum er nicht unterschrieben hat, kann nur er selbst sagen.

Aber auch viele Vermieter machen nicht mit. Was ist das Bündnis wert?

Eine Millionen Menschen profitieren von den Verabredungen. Das ist eine ganze Menge. Wir helfen also konkret Menschen in unserer Stadt – natürlich lohnt sich das!

Aber reicht es auch? Durch Pandemie, Inflation und Krieg bricht der Neubau ein, die Energiekosten steigen rasant. Jetzt sind Sie angetreten als neue Regierung, aber vieles, was auch ohne ihr Zutun passiert, wird erstmal nicht besser, sondern schlechter.

Haben Sie wirklich den Eindruck? Ich habe eher den Eindruck, dass die Menschen wissen, dass wir in einer äußerst schweren Situation sind. Wir versuchen das Maximale herauszuholen. Wir entlasten jetzt mit dem Wohnungsbündnis, der Erhöhung des Landesmindestlohns für öffentliche Aufträge und dem kostenlosen dritten Hortjahr ganz konkret Hunderttausende. Unser SPD-Vorschlag eines 365-Euro-Tickets als Nachfolge für das Neun-Euro-Ticket wird jetzt in ganz Deutschland diskutiert. Ich habe ein Problem mit Schwarzmalerei – trotz der schweren Lage. Oft wird so getan als wäre Berlin kurz vor dem Zusammenbruch...

Saleh will künftig offenere Debatten in der Partei zulassen

Es tut sich aus der Sicht vieler zu wenig - gerade beim Wohnen. Warum stimmen 1,5 Millionen Menschen für Enteignungen?

Wir haben in Berlin alles getan, was wir rechtlich tun konnten. Wir haben Verkäufe von Wohnungen gestoppt und in großer Menge zurückgekauft. Wir haben einen Mietendeckel beschlossen, der vom Verfassungsgericht kassiert wurde. Wir haben dann eine Selbstverpflichtung der landeseigenen Wohnungsfirmen beschlossen. Wir haben jetzt die Übergewinnsteuer auf Mieten untersucht – auch das geht rechtlich nicht. Es geht nun mal nicht ohne den Bund. Deshalb mein dringender Appell an den Bund: Wir brauchen ein Mietenmoratorium! Das, was in Berlin passiert, folgt in anderen Städten unmittelbar. Die Mietenfrage ist die soziale Gerechtigkeitsfrage unserer Zeit.

Sie und Franziska Giffey wurden auf dem Landesparteitag nur sehr knapp als Landesvorsitzende bestätigt. Sie sagen danach, der Auftrag der Partei sei angekommen. Was bedeutet das?

Ich habe 57 Prozent der Stimmen erhalten und nehme dieses Ergebnis ernst. Ich höre rein in die Partei, was wir als Parteiführung hätten besser machen können. Wir müssen in der Partei künftig sicherlich ausgiebiger Debatten führen. Ich stelle mich nicht in die Ecke und schmolle, sondern sage: Jetzt erst recht. Lasst uns gemeinsam unsere guten Inhalte voranbringen.

Auch inhaltlich wurde einiges anders entschieden als bis dato: Die SPD hat sich vom Weiterbau der A100 verabschiedet.

Ich habe mich immer für die Fertigstellung des 16. Bauabschnitts ausgesprochen und das passiert auch. Beim 17. Bauabschnitt habe ich vorgeschlagen, dass man die Berliner befragt, ob sie das wollen. Meine persönliche Position ist: Ich halte den Weiterbau für falsch. Hinter dieser Debatte haben wir als SPD jetzt auch einen Punkt gesetzt. Das ist geklärt. Wir müssen jetzt bei der Mobilitätswende liefern: Die grüne Verwaltung um Frau Jarasch kann gern eine Schippe drauflegen.

Die Berliner SPD gilt nicht als größte Verfechterin einer schnellen Mobilitätswende.

Manchmal wird der Eindruck erweckt, Sozialdemokraten hätten etwas gegen Radwege. Im Gegenteil. Wir wollen gute und sichere Radwege in ganz Berlin. Die Millionen dafür liegen bereit – sie müssen aber auch von der Verkehrsverwaltung genutzt werden. Für uns ist die Mobilitätswende mehr als das Schaffen eines autofreien Kiezes in Kreuzberg. Berlin wurde als autofreundliche Stadt gebaut. Den Vorrang müssen perspektivisch Fußgänger, Radfahrer und der ÖPNV haben. Wir müssen deshalb natürlich auch Stadtraum neu verteilen.

Innenstadt nur für Reiche: Paris soll kein Vorbild für Berlin sein

Muss das schneller gehen oder langsamer?
Ich erwarte von der grünen Verkehrssenatorin, dass es schneller geht. Wir dürfen aber nicht die Verkehrsteilnehmer gegeneinander ausspielen oder einige von ihnen – wie Autofahrer – verteufeln. Gerade klagt doch jeder jeden an: Der Radfahrer gegen den Autofahrer, der Fußgänger gegen den Radfahrer, der E-Scooter-Fahrer gegen den Radfahrer. Wir brauchen aber ein geordnetes Miteinander.

Die Regierende Bürgermeisterin war gerade in Paris und war nicht begeistert vom schnellen Ausbau der Radwege. Sie finden den Pariser Weg gut?
Ich war lange nicht in Paris. Ich weiß nur: Wir müssen viel mehr Geld in den Ausbau von Fußgänger- und Fahrradinfrastruktur klug investieren. Das Konzept der Grünen einer Radschnellbahn auf der Friedrichstraße ist gescheitert. Ich unterstütze aber ausdrücklich die neue Fußgängerzone in der Friedrichstraße. Wir haben auch der Erhöhung der Parkgebühren zugestimmt, weil sie bundesweit in Berlin mit Abstand am günstigsten sind.

Sie waren lange dagegen.
Das stimmt nicht. Wir wollten ein Modell, was sich finanziell trägt, aber die Menschen nicht zu sehr belastet. Ich bin kein Freund davon, Menschen so sehr zu belasten, dass sie daran kaputtgehen. Ich glaube an die Vernunft. Eine falsch verstandene Verkehrswende nur in der Innenstadt darf nicht zu mehr Gentrifizierung führen.

Die Grünen haben zuletzt wieder eine City Maut zur Finanzierung der Mobilitätswende ins Spiel gebracht. Ist das denkbar?
Klare Absage. Das ist nicht im Koalitionsvertrag verabredet und es trifft auch die falschen Menschen. Das sind Pendler oder Familien, die ihr Auto noch brauchen. Wir würden das Leben in der Innenstadt dann noch ein Stück teurer machen und treiben so die Gentrifizierung weiter voran. Lassen Sie mich deshalb noch einen Punkt zu Paris sagen.

Bitte.

Paris ist für mich keine Vorbildstadt. Es gibt eine reiche Innenstadt mit ein paar Radwegen und die armen Menschen wohnen am Rand. Die Polizei geht dort mit Gewalt gegen Migranten vor. Das haben wir alles Gott sei Dank in Berlin nicht. Das ist auch der Verdienst sozialdemokratischer Politik der letzten 21 Jahre. Ich möchte London oder Paris nicht für Berlin als Vorbild haben. Ich möchte eine Stadt, in der sich die Menschen das Leben auch im Innenstadtbereich noch leisten können.

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