Seit Monaten wird auf der Documenta 15 über Antisemitismus diskutiert. Doch die Diskussionen über das Berliner Stadtschloss vermissen ein solches Bewusstsein.
Berliner  Zeitung vom 03.08.2022 von Jürgen Zimmerer

Neben dem Berliner Stadtschloss mit seinem Humboldt-Forum wäre die Documenta 15 fast der zentrale Ort für Deutschlands kulturelle Begegnung mit der Welt gewesen. Ein Ort, die Welt kennenzulernen, ihr zuzuhören und auszuhandeln, wie man hier zu ihr steht. Darin sind beide Projekte bislang grandios gescheitert. Beide offenbaren, wie selektiv in Deutschland die viel beschworenen Lehren der eigenen Geschichte gezogen werden. Und wie der Vorwurf des Faschismus, Rassismus und Antisemitismus vor allem dann aufkommt, wenn er sich „anderen“ zuschreiben lässt.

Gescheitert ist die Documenta 15 an der Blauäugigkeit eines Managements, das meinte, man müsse nur wollen und fest glauben, dann würde die Welt, die nach Deutschland kommt, sich schon so verhalten, wie man es hier von ihr erwartet.

Als sich gezeigt hatte, dass dem nicht so ist – sprich, dass Künstler:innen Bilder gemalt hatten, vor über 20 Jahren, die unter anderem antisemitische Motive enthielten, und auch erwarteten, dass diese auch in Deutschland ausgestellt würden –, scheiterte die Documenta 15 daran, mit diesem Skandal korrekt umzugehen. Und mit ihr scheiterte auch die deutsche Politik und Öffentlichkeit, zumindest in ihrer veröffentlichten Form.

Eine Zeitenwende der Kunstfreiheit

In einer an eine Zeitenwende der Kunstfreiheit in Deutschland erinnernden Kritik distanzierten sich sowohl Bundespräsident Steinmeier als auch Bundeskanzler Scholz von der Ausstellung, ohne die Bilder, beziehungsweise die Ausstellung, um die es in den Diskussionen ging, selbst gesehen zu haben. In Form einer Art neuen künstlerischen Staatsräson wurde überraschend schnell und überraschend deutlich einer Einschränkung künstlerischer Freiheit das Wort geredet, die man an anderer Stelle, etwa bei dem Streit um die dänischen Mohammed-Karikaturen, vermisste. Im Gegenteil – damals galt: Auch Schmähungen des als heilig Angesehenen auszuhalten, sei Kennzeichen einer modernen, freien Gesellschaft. Das selbe Argument wurde damals von Personen vorgebracht, die heute ganz anders argumentieren.

Teile der Medien heizten den Konflikt noch zusätzlich an, ließen sich zu einer Hexenjagd hinreißen, die nicht nur Künstler:innen zu zerstören drohte, sondern auch Einzelne, die versuchten, der Documenta aus der teils selbst verschuldeten Not heraus zu helfen. Die Gesinnungsprüfung hatte, wo sie sich gegen Jüdinnen und Juden richtete, in manchen Fällen sogar selbst antisemitische Untertöne.

Nun ist Antisemitismus keine Meinung, sondern eine mörderische Ideologie, der Einhalt zu gebieten Aufgabe jeder offenen Gesellschaft ist. Die beiden antisemitischen Bildausschnitte im Banner „People's Justice“ des Kollektivs Taring Padi sind nicht zu verteidigen. Mittlerweile sind weitere Bilder aufgetaucht, die antisemitisch lesbar sind, allerdings auch die Frage aufwerfen, ob sie etwa in vor Jahrzehnten veröffentlichten Broschüren nicht selbst zu Zeitdokumenten geworden sind, zu denen eine offene Gesellschaft Zugang haben sollte – auch zum Zweck der historischen Bildung und Aufklärung.

Dies setzte doch eine intensive Kontextualisierung und Kommentierung voraus, wie man sie etwa auch Hitlers „Mein Kampf“ angedeihen lässt, das just in diesen Tagen ganz offiziell online frei zugänglich gemacht wurde – in einer sehr ausführlichen und von vielen Seiten gelobten Kommentierung. Darüber lohnte es, jetzt zu sprechen.

Der Strohmann des „Postkolonialismus“

Dennoch, und das ist wohl die traurige, tiefere Botschaft des Documenta-Skandals, wurde der Skandal auch dazu instrumentalisiert, muslimische Stimmen beziehungsweise Stimmen des sogenannten Globalen Südens pauschal zu diskreditieren, die eigene moralische Überlegenheit über den Globalen Süden herauszustellen, und jenen Globalen Süden gemeinsam mit dem selbst kreierten Strohmann – „der Postkolonialismus“ – zu attackieren.

Dabei gibt es weder einen homogenen Globalen Süden als geografischen Ort noch einen Postkolonialismus als homogenes Theoriegebäude, gar als fest gefügte, ideologische Schule. Ersteres bezeichnet, vereinfacht gesagt, eine aus der kolonialen Globalisierung hervorgegangene Welt, die in diesem Prozess nicht zu Nutznießer:innen gehörte. Letzteres vereint unterschiedlichste Ansätze und Ideen „nach dem Kolonialismus“. Gemeinsam ist den Begriffen, dass sie eine Perspektiv-Verschiebung zum Ausdruck bringen: von den kolonialen Staaten Europas und ihren siedlerkolonialen Ablegern, etwa in Amerika oder Australien, hin zu den „Opfern“ dieser europäischen Expansion.

Sie versuchen den Blick zu verschieben vom Bild des allmächtigen Kolonisators hin zu den Kolonisierten als Akteur:innen ihrer eigenen Geschichte. Und auf die den Kolonialismus unterstützenden ideologischen Formationen. Beiden Begriffen ist eine Herrschaftskritik eingeschrieben, die auch eine Kritik jener epistemischen Gewalt beinhaltet, die den Prozess der Kolonisierung begleitete. Auf einer Kunstausstellung, die programmatisch den Dialog mit jenem Globalen Süden suchte, von deutscher Seite den Gestus der pauschalen Zurechtweisung jener Kollektive einzunehmen, verkehrt die Intention der Veranstaltung in ihr Gegenteil. Aus der Rolle der Zuhörenden wird die der Belehrenden.

Antisemitische Ikonografie zwischen Indonesien und Europa

Dass manche Attacken auf die Documenta zudem auch geradeheraus revisionistisch motiviert sind, belegte letztlich die Forderung der AfD, die Förderung postkolonialer Studien einzustellen und zu einer „ausgewogenen“ Darstellung der Kolonialgeschichte zurückzukehren, die auch das „Positive“ am deutschen Kolonialismus herausarbeitet.

Sicher, beide Künstlerkollektive, Ruangrupa wie Taring Padi, haben Fehler gemacht. Auf das unkommentierte Zeigen des „People's Justice“-Banners hätte verzichtet werden sollen; die entsprechenden Passagen hätten besser nicht gemalt werden sollen, denn antisemitischen Motive sind antisemitisch, egal wer sie nutzt.

Allerdings hätte die Documenta und auch die deutsche Öffentlichkeit gut daran getan, anstatt Pauschalverurteilungen das Gespräch darüber zu suchen, warum eine antisemitische Ikonografie in Indonesien nicht für den gleichen Skandal sorgt wie in Deutschland. Und warum der vom Globalen Norden forcierte Kampf gegen Antisemitismus in anderen Teilen der Welt nicht so glaubhaft erscheint, wie wir es selbst gerne hätten. Der pauschale Vorwurf des Antisemitismus, so wirkt es, kommt dort zum Einsatz, wo Argumente in der Sache fehlen.

Man hätte im Zuge der Debatte etwa darüber sprechen können, wieso im Kampf gegen die Diktatur Suhartos, um die es in „People's Justice“ ja geht, Symbole des Westens auftauchen. Das hätte die Frage auch auf die problematische Rolle Deutschlands, der deutschen Geheimdienste und des Bundeskanzlers Kohl gelenkt, der sich einst als Freund Suhartos bezeichnete. Doch über die eigene Geschichte wollte man nicht sprechen.

Eine Antwort auf die Frage, warum es den viel beschworenen Lehren aus der Geschichte Deutschlands oder „des Westens“ in vielen Teilen der Welt an Glaubwürdigkeit mangelt, wäre vielleicht gewesen, dass das „Nie wieder“ nach 1945 in vielen Teilen der Welt hohl klingt. Dies hätte man diskutieren können, ohne dass die deutsche Gesellschaft dabei ihre zuhörende Position aufgibt. Aus dieser Position wäre womöglich eine neue Glaubwürdigkeit entsprungen – auch für die Botschaft, dass Antisemitismus nirgends zu dulden ist, niemals.

Das Humboldt-Forum wurde von ähnlichen Skandalen begleitet

Dazu wäre es aber auch nötig zu beweisen, dass Antisemitismus und auch Rassismus wirklich nirgends und von niemand geduldet werden. Man würde dadurch den Eindruck vermeiden, dass der Anlass der Documenta manchen gerade recht kam, die sich generell gegen die postkolonialen Studien stellten, gerade weil sie die weiße Hegemonie Europas infrage stellten. Die Lehren aus der Geschichte werden somit selektiv gezogen, selbst wenn man nur den Bereich des Erinnerungspolitischen betrachtet. Dies belegt auch ein Blick auf die zweite Begegnungsstätte, wo „die Welt“ und „Deutschland“ miteinander ins Gespräch kommen sollten.
Eine Stätte, die von durchaus ähnlichen Enthüllungen erschüttert worden war, oder eben nicht erschüttert: das Berliner Humboldt-Forum und das wiederaufgebaute Stadtschloss, in dem es liegt.

Verhandelt und symbolisiert wurde und wird auch hier der Ort Deutschlands in der Welt sowie seine Stellung zur Welt. Dass dies ausgerechnet an einem Ort geschieht, der sich als Repositorium kolonialen Raubguts herausstellte, ist mittlerweile hinlänglich bekannt. Immerhin, man bemüht sich: Erst vor wenigen Wochen, Anfang Juli, bekannte sich die Bundesrepublik Deutschland in einer durch Außenministerin Baerbock feierlich unterzeichneten Absichtserklärung zur Rückgabe der Benin-Bronzen. Ein seit Langem geforderter Schritt, der wohl auch darin begründet war, dass man die Sammlungen des Humboldt-Forums nun endlich in Gänze der Öffentlichkeit zugänglich machen will.

Zumindest die Inszenierung dieser Vereinbarung, die unter anderem durch die Anwesenheit von Ministern und Prominenz aus Nigeria aufgewertet wurde, scheint zu versprechen, dass man bereit ist, die Position des Belehrens aufzugeben – auch wenn sich Reste jener Haltung in der öffentlichen Debatte noch immer finden. Etwa in Form des Hinweises, etwaig zurückgegebene Raubkunst sei in afrikanischen Ländern nicht sicher, sei's wegen der dortigen Infrastruktur, oder weil man einen Übergang in den illegalen Kunstmarkt vermutet.

Fadenscheinige Attrappe des Berliner Stadtschlosses

Problematischer als der Inhalt ist deshalb mittlerweile die Hülle: die Attrappe des Berliner Stadtschlosses, die dort verbaute Symbolik und vor allem auch die Männer und Frauen, die diese maßgeblich mitfinanzierten. Dabei ist es eine für die Geschichte der Berliner Republik äußerst interessante Frage, wie es eigentlich dazu kommen konnte, dass ein demokratisches Deutschland sich mit einem Monarchenpalast ein antidemokratisch-reaktionäres Symbol ins Zentrum seiner Hauptstadt setzte. Sollte dem autoritären Deutschland die Zukunft gehören?

Wie konnte es sein, dass das wiedervereinigte Deutschland, dass sich so viel auf die angeblichen Lehren aus der Geschichte einbildet, die maßgeblich von ihm mit verursachte Gewaltgeschichte einfach ausradiert unter Rückgriff auf eine idealisierte monarchische Geschichte, die für viel dessen stand, was diese Gewaltgeschichte erst ermöglichte?

Überhaupt: Wieso glaubt man in einer deutschen Gesellschaft, in der ein immer größerer Teil migrantische Biografien mit sich bringt oder Eltern und Großeltern hat, die eine solche besitzen, sich ein Schloss ins Zentrum stellen zu müssen? Noch dazu eins, auf dessen Kuppel ein Kreuz thront, dessen Inschrift die Unterwerfung unter den einen Gott fordert und das Gottesgnadentum der Hohenzollern feiert. All das finanziert durch einen private Unternehmerfamilie, die den eigenen Ruhm gleich mit in die Kuppel eingravieren ließ, als Zeichen des Bündnisses von Thron und Kapital?

Leider sind Kuppel und Kuppelkreuz nicht die einzigen spendenfinanzierten Bauteile der Schlosshülle. Um die staatlichen Baukosten zu senken und damit die Entscheidung für die Rekonstruktion leichter durchzusetzen, versprach der Förderverein Berliner Schloss e. V. um den Gründer Wilhelm von Boddien die Rekonstruktion durch private Spender:innen zu finanzieren, und zwar durchaus mit Erfolg. Nach eigenen Angaben hatten bis Ende 2021 45.000 Spendende zusammen 100 Millionen Euro aufgebracht. Ein beeindruckendes Zeichen bürgerlichen Engagements. Doch stellt sich aber die Frage, wofür? Wer wollte und will ein gefälschtes Schloss im Zentrum Berlins? An welche Vergangenheit wird hier angeknüpft? Und warum?

Unter den Spendern waren Rechtsradikale

Von Beginn an ist davor gewarnt worden, der Wiederaufbau des Stadtschlosses könne auch zum Sammelbecken für Ewiggestrige und Rechtsextreme werden. Einzelne Skandale der letzten Jahre scheinen dies zu bestätigen. So deckte etwa der Architekturhistoriker Philipp Oswalt auf, dass unter den Großspendern, deren Großzügigkeit sogar mit einer Gedenktafel geehrt werden sollte, etwa auch der Jurist und Bankier Ehrhardt Bödecker war, der zu Lebzeiten nicht nur offen rechtsradikale Positionen vertrat, sondern auch an der Faktizität des Holocaust zweifelte und dies offen äußerte. Auf Bitten der Erben wurde die Ehrentafel zwischenzeitlich abgenommen. Wie viele der Spender ähnliche Positionen vertraten und vertreten, ist nicht zu beurteilen, da die Spenderliste nicht öffentlich bekannt ist.

Sicher wäre es falsch und unangemessen, alle 45.000 Spender:innen pauschal zu verurteilen. Doch wenn die Documenta 15 das Modell vorgibt, nach dem staatliche Veranstaltungen nun agieren, dann müsste es auch hier gravierende Veränderungen geben. Es kann nicht sein, dass an einem öffentlichen Gebäude in Deutschland Menschen geehrt werden, die die Grundsätze der freiheitlich-demokratischen Ordnung – und auch die kritischen Lehren aus der Geschichte – infrage stellen.

Ein Fall dieser Größenordnung sollte genug sein, die Alarmglocken schrill anklingen zu lassen. Stattdessen stellt sich der Förderverein des Schlosses offen hinter die Spender. Wilhelm von Boddien, Geschäftsführer Förderverein Berliner Schloss e. V., sprach angesichts der Kritik an Bödecker und Co vom Zeitgeist, mit dem man sich nicht vermählen dürfe. Welchen Zeitgeist er wohl meinte? Den demokratisch-liberalen, oder den aus der Zeit des Originalschlosses?

Stadtschloss: ein antidemokratisches Kuckucksei

In ein ähnliches Horn wie von Boddien stieß auch der Fördervereinsvorsitzende Richard Schröder: Eine Gesinnungsprüfung stehe ihr nicht zu, kritisiert er die Stiftung Humboldt-Forum, nachdem sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, eine Veröffentlichung der Spender:innenliste zu fordern.

Was unterscheidet potenzielle Antisemiten an der Schlossfassade von denen in Kassel? Dass sie nicht aus dem Globalen Süden kommen, die bestehenden Verhältnisse nicht herausfordern wollen, dass sie Geld haben oder dass sie aus der Mitte der deutschen Gesellschaft kommen? Einer Mitte also, die den wilhelminischen Wahnsinn zur deutschen Kolonialzeit ebenso mitmachten wie die Herrenmenschen-Attitüde 30 Jahre später? An der Fassadenattrappe des Stadtschlosses, so scheint es, wächst zusammen, was zusammengehört.

Vielleicht schreit der eine oder die andere in Kassel auch deshalb so laut, weil er oder sie in Berlin -Mitte schweigt? Den Antisemitismus der „Anderen“ zu bekämpfen ist allemal leichter als den hauseigenen. Dabei müsste der Förderverein noch nicht einmal selbst prüfen. Er müsste lediglich die Namen offenlegen. Dann kann die Zivilgesellschaft ja sehen, wer sich im Schloss verewigt sah. Und welches antidemokratische Kuckucksei man sich hier ins Berliner Nest hat legen lassen.

Auf der Documenta 15 sind alle Kunstwerke öffentlich. Jede:r kann sich hier eine Meinung bilden. Im Vergleich zum Stadtschloss, jener Mischung aus Disneyland und reaktionärem Palast, ist Kassel ein Ausbund an Kritikfähigkeit und Transparenz.

Die Berliner Zeitung im Interner: www.berliner-zeitung.de