Christoph Mäckler und seine Mitautoren suchen in ihren Anleitungen zur Stadtbaukunst nach alten Regeln für neues Bauen.
Franfurter Allgemeine Zeitung vom 06.08.2022 von Michael Mönniger

Im abendländischen Staatsdenken wurden neue Gesellschaftsideen stets zuerst in städtebaulichen Formen dargestellt, vom himmlischen Jerusalem über das neue Atlantis bis zu den Hochhausstädten der Moderne. Doch neben den großen Zukunftsentwürfen gibt es seit dem neunzehnten Jahrhundert immer mehr Städtebau -Lehrbücher als retroaktive Manifeste.

Sie rekonstruieren die Formprinzipien früherer Bauepochen, um daraus Planungskriterien für künftige Herausforderungen zu gewinnen. Solche rückschauenden Prophetien wollen eine Ordnung in die Welt bringen, die auf sozialen Wunschvorstellungen aufbaut, denen die Gesellschaften oft entwachsen sind.

Welche Gesellschaftsidee hinter dem "Handbuch der Stadtbaukunst" steckt, das der Frankfurter Architekt Christoph Mäckler nach zwanzig Jahren Lehre und Forschung an der TU Dortmund herausgibt, lässt sich zunächst schwer beantworten. Diese "Anleitung zum Entwerfen städtischer Räume" errichtet keine urbanistischen Luftschlösser, sondern transportiert ästhetische Ideale und Vorschriften mithilfe deskriptiver Bestandsaufnahmen. In 63 deutschen Städten sucht das Handbuch nach Stadt-, Platz-, Hof- und Straßenräumen, die Generationen und Kriege überdauert haben und die Vorbilder für neue Entwürfe bieten sollen.

Vergleichbare Kompendien erschienen neuerdings häufiger: Sophie Wolfrums kompakter und hoch informativer "Platzatlas", Inga Mueller-Hagens reizvolles Schwarzplan-Labyrinth "DNA der Stadt" und der bislang unübertroffene " Städtebau -Atlas" von V. M. Lampugnani mit seinen historisch-architektonischen Detailanalysen der großartigsten europäischen Ensembles. Mäcklers Handbuch bringt von allem etwas, aber immer mit erhobenem Zeigefinger. So resümiert der Herausgeber eingangs "fünf Voraussetzungen für die Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt": städtische Dichte, soziale Vielfalt, funktionale Mischung, Trennung von öffentlichen und privaten Bereichen und dauerhafte Fassaden. Solche hundertfach beschworenen Gemeinplätze wären hilfreicher, gingen sie mit Vorschlägen einher, wie beispielsweise bauliche Dichte sich mit heutigen Abstandsregeln oder mit Forderungen nach der Klima-Resilienz grüner "Schwammstädte" vereinen lässt.

Jeder der vier Teilbände eröffnet mit substanziellen Essays. Werner Oechslin liefert viel Augenpulver mit historischen Buchvignetten und untersucht die dazugehörigen Programmschriften zur Stadtbaukunst um 1900, die die Theorien des Bildersehens vom musealen Kunstwerk auf die Stadt übertrugen, um die Wahrnehmung der Einheit einer Stadt als Kunstwerk zu erreichen. Leider problematisiert Oechslin den Anachronismus der entsprechenden ästhetischen Regeln nicht - sie wollten Strukturen schaffen, die die Großstädte kaum noch brauchten.

Auch der Denkmalsexperte Thomas Will plädiert für eine Stadtauffassung, die jenseits der Einzelobjekte auf Ensemblewirkung zielt. Erst aus der Negation durch die Moderne wisse man heute, welche Errungenschaft die traditionelle Stadt sei. Sein Plädoyer für das Bauen als Ensemblespiel zieht das bekannte Beispiel eines Symphonieorchesters heran, dessen Teile ein größeres Ganzes ergeben, das dem besten Solisten überlegen ist. Von der nicht minder spannenden Musikproduktion populärer Solisten, die heute außerhalb der Hochkultur ganz andere Reize bieten, will er nichts wissen.

Jürg Sulzer und Anne Pfeil beschreiben die Wiederentdeckung kleinteiliger Quartiersplanungen als Alternative zu den brutalen Wachstumsprojekten am Beispiel der Sanierung der Altstadt Bern und Berlin -Kreuzberg. Um solche Stadtensembles weiterbauen zu können, empfehlen sie die Wiederentdeckung des vormodernen Gestaltungsprinzips der Tektonik. Damit soll die konstruktive Kernform des Gebauten in die Kunstform des äußeren Erscheinungsbildes übertragen werden. Bei den heutigen Stahlbetonwürfeln werden dabei aber wohl kaum mehr als aufgeklebte Gesimse und Lisenen herauskommen.

Birgit Roth untersucht die Entstehung gemischter Stadtteile im neunzehnten Jahrhundert. Dabei spielte das vom Berliner Stadtplaner James Hobrecht geforderte "Durcheinanderwohnen" bürgerlicher und proletarischer Familien in den Vorder- und Hinterhäusern der Mietsgebäude eine zentrale Rolle. Und was heute "Projektentwickler" sind, führt die Autorin auf die früheren "Terraingesellschaften" zurück, die nicht so sehr auf leistungslose Gewinne spekulierten, sondern ganze Stadtviertel in Rekordzeit bauten , an Privateigentümer verkauften und oft auch die Finanzierung besorgten.

Leider wird im Handbuch diese Hochphase der Urbanisierung wieder mit dem Begriff "Gründerzeit" beschrieben, während es in Wahrheit die wirtschaftsliberale Marktordnung um 1900 war, die diese gigantische Stadtproduktion hervorbrachte. Ergänzend rehabilitiert Wolfgang Sonne das Schmuddelkind dieser Epoche: die Blockrandbebauung mit Innenhöfen; sie waren der private Gegenpol zur Straßenöffentlichkeit und beherbergten vor der reformhygienischen Entkernung im zwanzigsten Jahrhundert Mikrokosmen städtischer Wohn- und Gewerbevielfalt.

Ohne Angst vor Eurozentrismus führt der Asien-Experte Jan Pieper die Ausnahmestellung der "europäischen Stadt" auf das Grundelement öffentlicher Platzräume zurück. Andere Kulturen hätten solche Freiräume nur als Vorhöfe und Distanzflächen für Kult- und Herrschaftsbauten errichtet, nicht als Bühne gesellschaftlichen Handelns. Das führt Vittorio Lampugnani in seiner Betrachtung von Straßenräumen weiter, die in der Vormoderne auch als Freilichttheater genutzt wurden, weil Städtebauer die Außenräume und Straßen ähnlich sorgfältig gestalteten wie die Wohnräume und Korridore innen.

Wertvoll ist schließlich Mirjam Schmidts Untersuchung von städtischen Kolonnaden und Arkaden mit penibel vermessenen Paradebeispielen von den Alsterarkaden in Hamburg bis zum Marktplatz in Freudenstadt. Diese porösen Raumschichten der Wandelgänge wirken unscheinbar, aber schaffen von alters her dauerhafte Transitzonen für Kommunikation und Konsum.

Hauptsache im Handbuch sind die kartographischen Einzeluntersuchungen, die jede Situation in klassischer Dreifachprojektion mit Grundriss, Aufriss und Luftbild-Perspektive darstellen; beeindruckende Räume - etwa die Platzfolgen von Regensburg - werden in mehreren Skalierungen und Detaillierungen beleuchtet. Enttäuschend sind aber die oberflächlichen Erläuterungen, die die Genese und die Gestalt der Orte kaum erfassen. Durchweg tendiert der Wunsch nach strenger Systematik zu zwanghaften Typisierungen. So gibt es die "Stadt am Wegekreuz", "Stadt an der Straßenspange", "Stadt der Tore" oder die "Raumgestalt mit Zielgebäude". Das reizt zur Fortsetzung mit neu erfundenen Typen, etwa mit "Platz der vier Winde" oder "Quartier der fünf Köstlichkeiten".

Angesichts der mehrheitlich klein- und mittelstädtischen Orte wie Lübeck, Freiburg, Augsburg, Münster, Landshut, Stralsund, Passau, Heidelberg, Freudenstadt, Dinkelsbühl, Weimar und so fort kommt beim Lesen zuweilen der von Frank Sinatra besungene "little town blues" auf. So wird die Chaos- und Fortschrittsfraktion in der Architektenschaft diese vormodernen Idyllen sicherlich strikt ablehnen. Aber auch historisch weniger schreckhafte Planer werden Schwierigkeiten haben, das Handbuch als Entwurfshilfe zu verwenden. Denn alle Stadtgrundrisse und Hausparzellen sind Ergebnisse jahrhundertelangen Zurechtrückens, und ihre Unregelmäßigkeiten sperren sich trotz angegebener Maßverhältnisse gegen jede Nachahmung.

Hilfreicher sind die weniger pittoresken Quartiere aus Großstädten, wo im neunzehnten Jahrhundert - etwa in der Bremer Neustadt oder im Hamburger Generalsviertel - fabelhafte Ensembles entstanden, die ältere Vorstellungen von Vergemeinschaftung mit dem modernen Wunsch nach Autonomie zusammenbringen. Knapp ein Drittel der Baubeispiele stammt aus München, Berlin und Köln. Es sind Bestandsaufnahmen von modernisierten Altbau- und Platzanlagen, die schon im Entwurf nutzungsneutral angelegt waren und allen Stürmen des Geschmacks- und Funktionswandels getrotzt haben. Insgesamt aber neigt die Gesellschaftsidee im Handbuch mehr zum Ordnungsruf nach älteren Stadtorganisationen mit starken sozialräumlichen Bindungsmächten und weniger zur neuen Urbanität der individuellen Freiheitsrechte. Etwas mehr Wahlfreiheit sollten Lehrbücher heute schon bieten. MICHAEL MÖNNINGER

Christoph Mäckler (Hrsg.): "Handbuch der Stadtbaukunst".
Jovis Verlag, Berlin 2022. Vier Bände im Schuber, zus. 516 S., Abb., geb., 128,- Euro.

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