Deutschland braucht mehr bezahlbare Wohnungen. Doch die Neubauoffensive der Ampelkoalition droht zu scheitern: Wegen der gestiegenen Kosten werden immer mehr Projekte gestoppt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.08.2022 - von Julia Löhr (Text) und Lucas Wahl (Fotos)

Zwanzig mal dreißig Meter misst die Hätte-könnte-sollte- Baulücke von Andreas Ibel. Eigentlich sollte sich hier zwischen zwei bestehenden Gebäuden im Hamburger Stadtteil Hohenfelde längst etwas tun. Wo sich heute nur das Dach der Tiefgarage des Nachbarhauses befindet, könnte ein Neubau mit 15 Wohnungen entstehen. Hätte es nicht den abrupten Stopp der KfW-Förderung, den Anstieg der Bauzinsen und die Explosion der Materialkosten gegeben. Die Pläne sind lange fertig, die Baugenehmigung liegt vor. Doch Ibels Kalkulation geht nicht mehr auf. Zu 16 bis 17 Euro kalt je Quadratmeter hätten die Neubauwohnungen vermietet werden sollen, erzählt der Chef des Immobilienunternehmens Airea, während er mit seinen Unterlagen über die Steine stapft. Unter den neuen Rahmenbedingungen liefe die Rechnung auf mehr als 20 Euro hinaus. In einer mittleren Wohnlage wie dieser sei das utopisch. "Die Menschen können das nicht mehr bezahlen", sagt Ibel. Und jetzt? "Jetzt machen wir erst mal nichts."

Wie der Hamburger Unternehmer stecken derzeit viele Immobilienentwickler in Deutschland ihre Pläne wieder in die Schublade. Mehr als jedes zehnte Unternehmen aus dem Bauhauptgewerbe berichtet in einer aktuellen Umfrage des Ifo-Instituts, dass Wohnungsbauprojekte storniert würden. Begonnen habe die Stornierungswelle im April, schreiben die Forscher. Auch das Interesse, neue Projekte anzugehen, nimmt ab. Im Juni wurden in Deutschland nur noch 30 425 Baugenehmigungen für Wohnungen erteilt. Gegenüber dem gleichen Monat des Vorjahres ist das ein Rückgang um 4,5 Prozent. Noch verheerender sind die Rückmeldungen, die der Bundesverband Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen (BFW), dessen Vizepräsident Andreas Ibel ist, in einer Umfrage unter seinen 1600 Mitgliedern bekam. 70 Prozent der Unternehmen gaben darin an, sie würden geplante Bauvorhaben nicht mehr realisieren. Dies betreffe im Schnitt die Hälfte ihrer Projekte. "Das ist keine Delle beim Neubau, das ist die Vollbremsung einer ganzen Branche", konstatierte daraufhin Verbandschef Dirk Salewski.

Für die Bundesregierung verheißen diese Zahlen nichts Gutes. Denn eigentlich sollte es in genau die andere Richtung gehen. 400 000 neue Wohnungen sollen nach dem Willen der Ampelkoalition jährlich entstehen, das sind gut 100 000 mehr, als in Deutschland zuletzt gebaut wurden. Der Bedarf ist da, vor allem in den Ballungszentren. In Städten wie Berlin , Frankfurt oder München bewerben sich teils mehrere Hundert Bewerber um eine freie Wohnung. Und zahlen, so sie den Zuschlag bekommen, aus Mangel an Alternativen beinahe jeden Preis. Nun soll das Angebot zur Nachfrage aufschließen. Erstmals seit Ende der Neunzigerjahre hat Deutschland wieder ein Bauministerium , nicht nur ein paar Abteilungen, die je nach Koalitionsgeschacher mal am Verkehrs-, am Umwelt- oder am Innenministerium hingen. Für den 12. Oktober ist ein großer Wohngipfel geplant. Aber Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) ist keine Bundesbauunternehmerin. Sie kann den Rahmen setzen, bauen müssen andere. Kommunale Unternehmen, Genossenschaften, Private. Doch die stehen alle vor demselben Problem: Es rechnet sich nicht mehr. "Nicht ansatzweise" sei die Zielmarke von 400 000 neuen Wohnungen zu erreichen, heißt es aus dem BFW. Axel Gedaschko, Präsident des Gesamtverbands der Wohnungswirtschaft (GdW), nennt die Zahl "Makulatur".

Ein Problem sind die sprunghaft gestiegenen Baukosten . Andreas Ibel ist inzwischen ins Nachbarhaus gegangen, das, zu dem die Tiefgarage gehört. Acht Geschosse, erbaut in den Sechzigerjahren. Das Rauschen der Autos an der großen Kreuzung vor dem Haus ist auch im Flur noch deutlich zu hören. Ibel schließt die Tür zu einer Wohnung im zweiten Stock auf, die aktuell saniert wird. Er grüßt laut, in der Annahme, dass Handwerker in der Wohnung sind, doch da ist niemand. Seit vier Monaten stehe die Wohnung schon leer, "definitiv zu lange", sagt Ibel. Immerzu fehle etwas, mal Material, mal Personal. Immerhin, die neuen Fenster sind schon drin, bodentief und noch dichter als die Vorgänger. "Vier Preiserhöhungen hatten wir dafür im letzten Jahr", sagt Ibel, "25 Prozent mehr waren es am Ende."

Die Preise für Baustoffe kannten zuletzt nur eine Richtung: steil nach oben. Spanplatten verteuerten sich zwischen Mai 2021 und Mai 2022 um 73 Prozent. Bei Betonstahl sieht es kaum besser aus: plus 72 Prozent. Bauholz : plus 34 Prozent. Die Liste ließe sich noch fortsetzen. Eine Ursache ist der Krieg. Es fehlt Holz aus Russland und Stahl aus der Ukraine. Aber auch die rigide Corona-Politik Chinas lässt den Nachschub an Material stocken. Hinzu kommen die gestiegenen Finanzierungskosten. Lange Zeit mussten Bauherren für Kredite weniger als 1 Prozent Zinsen zahlen, in diesem Jahr waren es zwischenzeitlich schon mehr als 3 Prozent. Laut einer Rechnung des Verbands GdW stiegen die durchschnittlichen Baukosten für einen Quadratmeter Wohnfläche seit Mitte vergangenen Jahres um ein Drittel, auf nun 3978 Euro. Der Kaufpreis für das Grundstück ist da nicht eingerechnet. Dass es bald wieder in die andere Richtung gehen könnte, zeichnet sich nicht ab - zumal aus der Politik immer neue Vorgaben für Neubauten hinzukommen.

Die steigenden Kosten treffen vor allem diejenigen, die Wohnungen für Menschen mit geringen und mittleren Einkommen bauen wollen. Zum Beispiel Norman Diehl, Geschäftsführer der städtischen Wohnungsgesellschaft in Hofheim, einer 41 000-Einwohner-Stadt in der Nähe von Frankfurt. 1700 Wohnungen gehören der HWB, mehr als 100 neue wollte Diehl in den nächsten fünf Jahren bauen . Doch auch er ist jetzt erst mal auf die Bremse getreten. "Projekte mit reiner Wohnbebauung haben wir gestoppt", berichtet er. Konkret handelt es sich um zwei Mehrfamilienhäuser, eines mit 60, das andere mit 20 Wohnungen. Wenn er diese unter den aktuellen Bedingungen bauen würde, sagt Diehl, würde er an seiner Zielgruppe vorbei bauen.

Auf Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ist der Hofheimer nicht gut zu sprechen. Ende Januar stoppte der von einem Tag auf den anderen die Förderprogramme der staatlichen KfW-Bank für energieeffiziente Neubauten. Der Grund: Die Nachfrage war um ein Vielfaches größer als die im Bundeshaushalt eingeplanten Mittel. Für das sogenannte Effizienzhaus 55 gibt es seitdem keine Zuschüsse mehr, auch die Förderung für die noch etwas sparsameren Effizienzhäuser 40 wurde inzwischen eingestellt. Für das größere der beiden Wohnhäuser hatte Diehl bei einer Investitionssumme von 25 Millionen Euro mit 2 Millionen Euro an Zuschüssen von der KfW gerechnet. Die fehlen ihm nun. Er könnte, solange das noch gesetzlich erlaubt ist, einen einfacheren, günstigeren Haustyp bauen . Aber das will er mit Blick auf den Klimaschutz und die Energierechnungen der Mieter nicht. Er könnte auch bauen wie geplant und die Wohnungen teurer vermieten. Aber dann wären Menschen mit niedrigeren Einkommen raus. "2000 Euro für eine Vierzimmerwohnung - wie soll das eine Familie bezahlen?", fragt Diehl. Er hofft jetzt darauf, dass die Bundesregierung die Fördertöpfe wieder aufstockt, wenn die nächste Bundestagswahl näher rückt. "Man muss fördern, was man fordert", sagt er. Die 600 Haushalte auf der Warteliste der HWB müssen weiter warten.

Ob Diehls Kalkül aufgeht, ist fraglich. Vor Kurzem hat sich die Ampelkoalition darauf verständigt, was in welcher Höhe aus dem Klima- und Transformationsfonds finanziert werden soll. Die Verhandlungen waren auch eine Machtprobe zwischen Habeck und Geywitz, was wichtiger ist: die Klima- oder die Neubauziele. Durchgesetzt hat sich Habeck. 13 Milliarden Euro soll es ab 2023 jährlich für die Sanierung von Bestandsbauten geben. Damit lässt sich mehr CO2 einsparen als mit Neubauten, die noch ein kleines bisschen effizienter sind als ihre Vorgänger. Für die ist nur noch 1 Milliarde Euro im Jahr eingeplant. Im Koalitionsvertrag stand im Wohnungskapitel das "bezahlbar" noch an erster Stelle, das "klimaneutral" erst an zweiter.

Eine Baustelle in der Nähe des Berliner Ostkreuzes. Der Empfang für Franziska Giffey und Andreas Geisel (beide SPD) könnte freundlicher sein. Die Regierende Bürgermeisterin und der Bausenator der Hauptstadt besichtigen an diesem Tag mehrere Neubauprojekte der landeseigenen Wohnungsgesellschaften. In der Modersohnstraße baut die WBM, nicht weit entfernt von der Spree, 110 Wohnungen verteilt auf drei Gebäude. Der Rohbau steht, im kommenden Jahr sollen die Mieter einziehen, in den 36 Sozialwohnungen für 6,60 Euro kalt je Quadratmeter, in den übrigen für 11,44 Euro. Doch nicht jeder freut sich über den Neuzugang auf dem Wohnungsmarkt. Die Reisegruppe ist gerade aus dem Bus gestiegen, da öffnet sich ein Fenster im Nachbarhaus. "14 wunderschöne Bäume sind hier gefällt worden", ruft eine Frau herüber. "Das ganze Grün - alles vernichtet!"

100 000 Wohnungen sollen bis Ende 2026 in der Hauptstadt entstehen, davon die Hälfte im unteren und mittleren Preissegment. Das ist der Plan, den Ende Juni ein Bündnis aus Politik und Wohnungswirtschaft vereinbart hat. Und der nach dem Willen von Andreas Geisel auch nicht wieder in der Schublade verschwinden soll. Um trotz steigender Zinsen und Baukosten weiter bauen zu können, hat der Bausenator kürzlich einen für einen SPD-Politiker ungewöhnlichen Vorschlag gemacht: Die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften könnten doch einen Teil der neu gebauten Wohnungen als Eigentumswohnungen verkaufen. Dann könnten die anderen Wohnungen halbwegs günstig vermietet werden. Es kam, wie es in einer Stadt mit einer rot-grün-roten Regierung kommen musste: Es hagelte Kritik.

Am Rand der Baustelle verteidigt Geisel seinen Vorschlag. "Wir könnten uns damit eine neue Einnahmequelle schaffen", sagt er. "Wir können nicht auf Dauer alle Preissteigerungen im Wohnungsbau wegsubventionieren." Schon jetzt bezuschusst das Land Berlin den Wohnungsbau jährlich mit 750 Millionen Euro. Viel Luft nach oben sieht Geisel da nicht mehr. Zumal das Geld dann an anderer Stelle fehlen würde, für den Bau von Schulen oder eine bessere öffentliche Verwaltung zum Beispiel. Einen Verkauf an Selbstnutzer hält er nicht für anrüchig. "In der Berliner Verfassung steht, dass wir auch die Schaffung von Wohneigentum fördern." Jetzt muss er von seinem Neubauplan nur noch die anderen Mitglieder des Senats überzeugen.

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