Jury erklärt keinen der beiden Entwürfe zum Sieger – nun sollen Machbarkeitsstudien weiterhelfen
Tagesspiegel vom 15.09.2022 von Teresa Roelcke

Nach einer neunstündigen Sitzung hat das Preisgericht am Dienstag zum Berliner Molkenmarkt entschieden, dass es zu keiner Entscheidung fähig ist: Keiner der beiden städtebaulichen Entwürfe – weder der des Büros Albers/Malcovati noch der des Kopenhagener Architekturbüros OS arkitekter gemeinsam mit dem Berliner Czyborra Klingbeil (cka) – ist nach den etlichen Überarbeitungen im mehrmonatigen Werkstattverfahren zum Sieger ernannt worden.

Wie der Tagesspiegel aus dem Umfeld der Jury erfuhr, habe es unüberbrückbare Gräben gegeben zwischen der Mehrheit der Jurymitglieder, die zum Entwurf von OS arkitekter/cka tendiert hätten, und Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt, die keinen der Entwürfe für eine Realisierung empfehlen wolle, da beide Entwürfe aus ihrer Sicht zu viel Grünflächen beinhalteten würden und sie die Skelettbauweise nicht wünsche.

Ein hoher Anteil an Grün im neuen Stadtteil war allerdings genauso Auslobungskriterium gewesen wie eine flexible Nutzbarkeit der Gebäude, was eine Skelettbauweise ermöglicht. Die Büros OS arkitekter/cka hatten beides von Vornherein stark in ihrem Entwurf berücksichtigt. Der Entwurf des Büros Albers/Malcovati hatte diese Anforderungen durch die verschiedenen Werkstatttermine hindurch immer weiter eingearbeitet.

Bei einer Pressekonferenz am Mittwochvormittag bestritten Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt und Preisgerichtsvorsitzende Christa Reicher durchweg, dass jemals im Raum gestanden habe, einen einzigen Sieger aus den beiden Entwürfen auszuwählen. Ziel des seit Anfang des Jahres andauernden Werkstattverfahrens sei es vielmehr gewesen, in einem „erkenntnisgenerierenden Verfahren“ Grundsätze für die Charta Molkenmarkt zu entwickeln, wie Kahlfeldt es formulierte: „Wir wissen jetzt, was die Anforderungen sind.“

Die Juryvorsitzende Christa Reicher betonte, es seien noch Fragen offengeblieben: Die Ver- und Entsorgung funktioniere bei beiden Entwürfen nur bedingt. Beim Entwurf von OS arkitekter/cka gebe es außerdem noch „Herausforderungen bei der Adressbildung“, die einer Realisierung momentan entgegenstünden. Ein wichtiges Thema seien überdies die Gemeinschaftsflächen: Hier habe man zwar „ganz tolle Vorschläge“ aus beiden Teams, sie müssten aber auch bezahlbar sein, damit es nicht bei einer bloßen „Absichtserklärung“ bleibe.

Neue Erkenntnisse hat die Jury anscheinend auch zu Hitze, Trockenheit und Regen gewonnen: „Die Relevanz dieser Themen ist in den letzten Monaten enorm gestiegen“, wie Reicher sagte. Es müsse daher noch mal „auf den Prüfstand“, wie sich Klimafreundlichkeit und Gestaltqualität verbinden ließen. Eine sinnvolle Verquickung von beidem zu schaffen, war allerdings bereits Kriterium im Wettbewerbsverfahren gewesen, bei dem im November die beiden genannten Entwürfe ausgewählt worden waren; im nachfolgenden Werkstattverfahren hatten beide Teams weiter intensiv an der Vereinbarkeit von beidem gearbeitet und in den Werkstätten jeweils verfeinerte Lösungsvorschläge hierzu vorgestellt. Laut Reicher sollen die offenen Fragen nun in mehreren Machbarkeitsstudien geklärt werden. Vier solcher Studien wolle man durchführen, zum energetischen Konzept des neuen Quartiers, zum Regenwassermanagement, zu öffentlichem Raum inklusive Mobilität und Ver-/Entsorgung und zu Archäologie.

Der weitere Zeitplan verzögert sich nach Kahlfeldts Angaben durch die nun entschiedenen Machbarkeitsstudien nicht; vielmehr müsse er sich ohnehin nach den archäologischen Grabungen richten, die wohl bis 2025 gehen werden. Der erste, operative Teil der Charta Molkenmarkt werde nun bis Ende des Jahres durch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung erarbeitet, per Senatsbeschluss festgelegt und dann dem Abgeordnetenhaus zur Kenntnis vorgelegt.

Ob das Abgeordnetenhaus über die Charta abstimmen und damit stärkeren Einfluss auf die Ausgestaltung bekommen soll, ist ebenfalls Gegenstand von Umdeutungsversuchen durch die Senatsverwaltung: Nachdem Senator Andreas Geisel (SPD) bereits am Montag im Stadtentwicklungsausschuss bestritten hatte, dass in der Verwaltung jemals Pläne für einen Beschluss der Charta durch das Abgeordnetenhaus vorgelegen hätten, behauptete die Senatsbaudirektorin nun ebenfalls, von einem ursprünglich geplanten Beschluss durch das Abgeordnetenhaus keine Kenntnis zu haben – obwohl die entsprechende Aussage des Abteilungsleiters Wohnungsbau und Projekte der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung vom 8. Oktober 2021 eindeutig per Video dokumentiert auf Youtube zugänglich ist und in der Presse bereits mehrmals darüber berichtet wurde.

Der Jurysitzung am Dienstag war eine monatelange öffentliche Debatte und ein Tauziehen im Hintergrund vorausgegangen. Die finale Sitzung selbst sollte im Juli stattfinden, wurde aber kurzfristig abgesagt. Dass es auch nach dem Termin am Dienstag keinen klaren Sieger gibt, ruft weithin irritierte Reaktionen hervor. Für Matthias Grünzig, Bürgervertreter beim Werkstattverfahren, ist es ein „Armutszeugnis, dass keine Entscheidung getroffen wurde.“ Es müsse auf jeden Fall mit einem dieser beiden Entwürfe weitergearbeitet werden.

„Dass es keine Entscheidung gibt, irritiert und wirft Fragen auf, die noch zu klären sind“, meint auch Julian Schwarze, stadtentwicklungspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion: „Kritiker*innen sehen den Grund darin, dass sich die Senatsbaudirektorin mit dem von ihr bevorzugten Entwurf nicht durchsetzen konnte.“ Der Entwurf von OS arkitekter/cka werde den festgelegten Kriterien zur Bebauung des Molkenmarktes in sehr hohem Umfang gerecht. „Es ist völlig unverständlich, warum Kahlfeldt die Grünflächen in den Entwürfen kritisiert. Frau Kahlfeldt träumt immer noch von einer Stadt aus Stein und Beton.“ Es brauche nicht weniger, sondern mehr Grünflächen am Molkenmarkt. Katalin Gennburg, stadtentwicklungspolitische Sprecherin der Linke-Fraktion, gibt sich kämpferisch: „Das werden sich weder die Abgeordneten noch die renommierte Fach-Community bieten lassen.“ Der Molkenmarkt sei ein städtisches Quartier von großer Bedeutung, weshalb seine Entwicklung auch demokratisch legitimiert sein sollte. Sie werde sich „dafür einsetzen, dass die Charta durch das Abgeordnetenhaus beschlossen wird, so wie es uns auch von der Senatsverwaltung im vergangenen Jahr zugesichert wurde.“ Eine Abkehr von der Zusage durch die neue Senatsleitung sei nicht hinnehmbar.

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