Berliner Zeitung vom 29.10.2022 von Petra Kahlfeldt

Seit ihrer Ernennung im Dezember 2021 wird Petra Kahlfeldt von Berlins links-grünem Architektur-Establishment und dessen Medientross angefeindet. Dabei tut sie, selbst praxisgestählte Architektin, als Senatsbaudirektorin nur das, was nötig ist, um das Bauen in dieser Stadt auf die Höhe der Zeit zu bringen. Wenn möglich sogar in die Avantgarde − wo Berlin ja mal war, wir erinnern uns vage. Warum man dafür die Geduld einer Heiligen, das diplomatische Geschick eines Metternich und den Optimismus eines Elon Musk braucht, hat die Senatsbaudirektorin hier exklusiv für die Berliner Zeitung aufgeschrieben. Ihr Beispiel: der Molkenmarkt im historischen Herzen der Stadt

Der Molkenmarkt und das Klosterviertel , zentral zwischen Alexanderplatz und der Spree gelegen, prägten einst den Charakter Alt- Berlins . Durch die Kriegszerstörungen und den folgenden „autogerechten“ Stadtumbau verschwanden diese Orte aus dem Gedächtnis der Berlinerinnen und Berliner . Einzig die monumentalen Türme von Nikolaikirche, dem Rotem Rathaus und dem Alten Stadthaus säumen als historische Zeugen den heute viel zu weitläufigen, geradezu menschenleeren Stadtraum, der immer noch vom Autoverkehr dominiert ist.

2019 wurde mit der Verlegung der Grunerstraße der Umbau dieses Transitraums und des vom Alexanderplatz abgeschnittenen Stadtteils begonnen und damit der Neubau des Areals unter Einbeziehung der bestehenden Gebäude eingeleitet

Will man Berlins energischen Versuch, in der Phase des Immobilien-Booms das Berlintypische zu bewahren, verstehen, eignet sich kein Ort besser. Mit der Entwicklung des Quartiers rund um den Molkenmarkt ist einer der historischen Gründungsorte nun Modellprojekt für den Spagat zwischen Identität und Zukunftsvision, und damit für unseren Umgang mit den historischen Spuren in dieser Stadt. Anders kann man das zähe Ringen und den Streit im Zusammenhang mit dem Neubau des Molkenmarktquartiers nicht lesen, denn eines fällt auf: Die sich vis-à-vis befindende Alte Münze aus der Zeit des Nationalsozialismus und das Nikolaiviertel aus der Endphase der DDR sind inzwischen als Denkmale geschützte, allseits akzeptierte Orte städtischen Lebens, während der Molkenmarkt nach 20 Jahren Planungszeit noch immer Gegenstand von Grundsatzdebatten ist.

Erst Townhouses, dann Diskurs

Erstaunlich wenig wird dabei Bezug auf das genommen, was in den vergangenen zwei Jahrzehnten zum Molkenmarkt gedacht und erarbeitet wurde. Ein kursorischer Rückblick darauf: In den frühen Zweitausenderjahren gab es unter dem damaligen Senatsbaudirektor Hans Stimmann eine intensive Auseinandersetzung um die Wiederannäherung an den historischen Stadtgrundriss und an eine kleinteilige Parzellierung, die stark geprägt war von der damals marktgängigen Typologie der Town-houses.

In der folgenden Amtszeit von Senatsbaudirektorin Regula Lüscher stand dann zwei Legislaturperioden lang der Diskurs um die politische Akzeptanz und den Nachweis der planungsrechtlichen Machbarkeit des Eingriffs in den Durchgangsverkehr im Vordergrund. Der Beschluss des Bebauungsplans 2016 ermöglichte den faktischen Baubeginn des Molkenmarktquartiers , heute für jeden sichtbar durch den laufenden Umbau der Hauptverkehrsstraßen und die großflächigen archäologischen Ausgrabungen vor Ort. Diese Grabungen sind bis 2024 soweit gediehen, dass Planungssicherheit besteht für die eigentliche Quartiersbebauung.

Der derzeitige Projektabschnitt, in dessen emotionaler Finalisierungsphase wir uns gerade befinden, ist das Ergebnis fachpolitischer Vorgaben des Berliner Abgeordnetenhauses im Kontext der Leitlinien für Bürgerbeteiligung. Dazu kommt der bodenpolitische Grundsatzbeschluss, landeseigene Liegenschaften nicht mehr aus der Hand zu geben. Sondern sie – richtigerweise, wie auch ich finde – in Eigenregie mit den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften zu entwickeln. Das macht uns alle zu Verbündeten in diesem so schwierigen Prozess des Aushandelns der Einzelinteressen von Stadtgesellschaft, Politik, Verwaltung und Unternehmen im unmittelbaren Umfeld alter Klostergemäuer und etablierter Kultureinrichtungen.

Die Komplexität und Intensität dieser Auseinandersetzungen hat einen sehr guten Grund: Alle Akteure bemühen sich um die Zukunftsfähigkeit des neuen Stadtteils. Was heute ein hochversiegelter Ort mit geringer Aufenthaltsqualität und wenig Flair ist, soll zum Inbegriff eines neuen urbanen Miteinanders werden, welches in vielfältiger Weise sozial, mobilitätsfreundlich und biodivers sein wird. Zu den historischen Stätten wird sich im kommenden Jahrzehnt eine vielfältige Mischung aus Wohnen, Gewerbe, Kultur und öffentlichen Freiräumen gesellen – ein moderner Berliner Kiez zwischen Alexanderplatz und Nikolaiviertel.

Auf Fachebene und im Dialog mit der Zivilgesellschaft sind in den vergangenen Jahren die grundsätzlichen Fragen zur Zukunft des Molkenmarktquartiers diskutiert worden. Das geschieht nicht, wie von einigen missverständlich angenommen, im Rahmen nur eines Verfahrensschritts zur Erarbeitung eines umgehend umsetzungsfähigen Basta-Konzeptes. Nein, man agiert hier ganz im Sinne der politischen Forderung nach Transparenz und maximaler öffentlicher Beteiligung und führt ein dialogisches Qualifizierungsverfahren durch, mehrstufig und stets anpassungsfähig an den Trend der Zeit.

Seit 2016 wird so die Planung auf der Basis des Bebauungsplanes vertieft und präzisiert, beginnend mit einer Sondierungsphase, gefolgt von einer Konzeptphase auf Basis mehrerer Entwurfsideen sowie der Werkstattphase, in der man anhand der zwei städtebaulichen Testentwürfe die wesentlichen Parameter für diese moderne „Stadt in der Stadt“ miteinander und füreinander erarbeitet.

Rückblickend ist dieses Verfahren durchaus überkomplex und langwierig. Aber es ist eben auch hochproduktiv. So ist es gelungen, auf Basis von Bürgerleitlinien die Erwartungen der Zivilgesellschaft in den Gestaltungsprozess zu übertragen. Es ist gelungen, in einem offenen, anonymen Wettbewerbsverfahren zwei Siegerentwürfe zu küren, deren komplementäre Ansätze − ökologische Orientierung einerseits, eine im städtebaulichen Kontext verankerte Architektur andererseits − die bestmögliche Balance der Entwicklungsaspekte liefern. Und es ist gelungen, in dem anschließenden dialogischen Werkstattverfahren auch mit den Bauherren die strategischen wie genehmigungsrechtlichen Stärken und Schwächen festzumachen.

Zwei Perspektiven, ein Projekt

All dies ist wesentlich für den städtebaulichen Rahmenplan sowie für das Handbuch zur Gestaltung der Gebäude und öffentlichen Räume im Klosterviertel , die sogenannte Charta Molkenmarkt . Berlin hat eine großartige Stadtstruktur, geprägt durch einen resoluten Städtebau verschiedener Epochen und eine robuste Infrastruktur. Wichtig ist, dass wir die Klimaschutzdebatte nicht eindimensional denken. Was es braucht, ist eine kritische Revision der gesamten Stadt, um sie in eine nachhaltige Zukunft zu führen. Es geht also um die angemessene Ausgestaltung der Maßnahmen zum Klimaschutz im Kontext der städtischen Typologien.

Im Klartext heißt das: Die Planergemeinschaft OS arkitekter mit Czyborra Klingbeil Architekturwerkstatt und das Planerteam Bernd Albers und Prof. Dr. Silvia Malcovati haben mit ihren sektoralen Fachplanern ausgezeichnete Entwurfsvorschläge präsentiert, aus denen wir nun die Charta Molkenmarkt mit all den quartiersprägenden, blockspezifischen Details definieren können. Beide Büros sind, wie im Lande Berlin üblich, eingeladen, sich an der weiteren Konkretisierung des Projekts zu beteiligen, um die für sie maßgeblichen Qualitätsmerkmale als Grundlage der weiteren Planungen einzubringen. Dies kann sowohl eine Beteiligung in einem Begleitgremium sein, oder aber die Teilnahme bei den nachfolgenden Hochbauwettbewerben. Das entscheiden die beiden Büros selbstständig.

2024 werden die Architekturwettbewerbe für den Hochbau und den Freiraum ausgelobt. Spätestens dann bekommt das, worum wir im Diskurs mit den Berlinerinnen und Berlinern , aber auch mit den Fachverwaltungen und den Bauherren seit mehr als einem Jahrzehnt gemeinsam gerungen haben, endlich „ein Gesicht“. Die Rückgewinnung des Klosterviertels und des Molkenmarkts als ein Kiez in der Berliner Mitte ist eine große und hochsensible Aufgabe, die mit maximalem Anspruch für ein vitales, zukunftsweisendes Quartier umgesetzt werden soll. Zu Recht ringen wir beim Molkenmarkt um die richtige Identität und Zukunftsvision: In dieser zentralen Lage Berlins eine lebensfreundliche, kleinteilige und autofreie Nachbarschaft zu schaffen, ist beispiellos in seinem Anspruch und kann neue Maßstäbe setzen.

Dank eines fachlich ausgewogenen Gremiums aus Architekten, Landschaftsarchitekten, Nachhaltigkeitsexperten, Soziologen, Historikern, Verkehrsplanern und Ingenieuren sowie vielen engagierten Berlinerinnen und Berlinern ist es über die Jahre gelungen, in diesem vielschichtigen Verfahren die Planungen voranzubringen. Besondere Orte brauchen besondere Beachtung und Debatten. Umso mehr verwundert die aktuelle Kritik am Verfahren, an einzelnen Gremiumsmitgliedern, an der Juryvorsitzenden und an der Senatsbaudirektorin zum Umgang mit den beiden Entwurfsarbeiten. Die Debatte dieser Tage wird auf einer Ebene geführt, die eher diffamierend als konstruktiv ist, die eher an einzelnen Personen als an der eigentlichen Sache entlanggeführt wird. Das mindert das Vertrauen in die Planungsprozesse der Berliner Verwaltung und schadet allen, die sich im Rahmen von Gremien, öffentlichen Veranstaltungen und Werkstätten zur Stadtentwicklung bisher eingebracht haben.

Konstruktiv in der Kontroverse

Gleichzeitig gilt: Das mediale Echo ist berechtigt und ein positives Signal für Berlin , spiegelt es doch deutlich wider, dass wir alle mitreden und mitbestimmen wollen, wenn es um unsere Stadt geht. Viel zu oft in der Vergangenheit hat man emotionslos Dinge einfach geschehen lassen. Allerdings gilt auch: In der Zusammenarbeit sollten wir das Miteinander und den Respekt nicht verlieren. Ich möchte mich bei allen bedanken, die diesen kontroversen Prozess bislang konstruktiv begleitet und sich einbracht haben. Diese besondere Aufmerksamkeit wird Gutes tun, dessen bin ich mir sicher.

Die Erarbeitung der Charta Molkenmarkt geht nun wie vorgesehen in die Phase der detaillierten Ausarbeitung. Unser Ziel ist unverändert ein Baubeginn in den kommenden fünf Jahren, wobei auf den Flächen, die zuerst vollständig archäologisch untersucht sind, auch zuerst gebaut werden kann. Die Ausgrabungen der archäologischen Funde laufen voraussichtlich bis Ende 2024. Diese Zeit müssen und wollen wir uns nehmen, um eine finale städtebauliche und architektonische Form für die Stadtreparatur im Herzen der Stadt zu finden. Bleiben wir alle weiterhin gespannt und interessiert an den Entwicklungen am Molkenmarkt und an dem, was in Berlin entstehen wird.

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