Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.10.2022 von Stefan Trinks

Seit Anfang Juli ragt im Westchor des Naumburger Doms wieder ein prächtiges, gemaltes Altarretabel auf, von der Kirche abgesegnet und geweiht. Für den steinernen Altarunterbau hatten Lucas Cranach und seine Werkstatt im Jahr 1519 einen Mittelteil und zwei Seitenflügel geschaffen. Während die im Bildersturm der Reformationszeit verlustig gegangene Mitte von Cranach sehr wahrscheinlich Maria zeigte, die Patronin des Westchors von Naumburg, haben sich die beiden Seitenflügel mit Katharina, Magdalena, weiteren Heiligen und den Stiftern erhalten.

Sie waren formale und inhaltliche Anregungen für den in Leipzig tätigen Maler Michael Triegel, die 1542 zerstörte Mitteltafel zu ergänzen - altmeisterlich präzise, über zwei Jahre hinweg gemalt, doch mit sanft aktualisierten Heiligen wie einem zottelbärtigen Petrus mit Baseballkappe und den Zügen eines Obdachlosen vor den Stufen der römischen Kirche Il Gesù und dem diktaturzeitlichen Märtyrer Dietrich Bonhoeffer, die die in der Mitte thronende Muttergottes mit ihrem Kind als Sacra Conversazione, als "Heilige Unterredung", mit einem Ehrentuch umfangen. Ähnlich wird auch Cranachs Altartafel im sechzehnten Jahrhundert ausgesehen haben, vor allem aber hat sich der zeitgenössische Maler Triegel bei der Höhe seines annähernd quadratischen Gemäldes exakt an die Maße von Cranachs heute wieder in die ergänzte Mitteltafel eingehängten Seitenflügeln gehalten. Weder in der Größe noch im Stil gibt es im ergänzten Altar einen Bruch, die einfühlsame Rekonstruktion ist im besten Sinne lebendig vergegenwärtigtes Christentum, da der Altar dem Chor wieder sein liturgisches Zentrum gibt. Er wurde in den wenigen Monaten seit Wiederaufstellung von Tausenden von Kunst-Gläubigen aufgesucht, so wie schon im Mittelalter etwa zum Kölner Dreikönigsschrein stets auch wegen dessen Doppeleigenschaft als Kunst-Wunder gepilgert wurde. 1300 Besucher hatten freiwillig im Dom ausliegende Fragebögen ausgefüllt, überragende 73 Prozent davon sprachen sich begeistert für den Altar aus. Eigentlich ein Grund zur Freude, wenn nicht mehr nur Uta, sondern ein zeitgenössischer Künstler Besucher nach Naumburg zieht. Nun meldet sich aber ausgerechnet mit Icomos International jene Denkmalschutzinstitution mit einer Abmahnung, die 2018 dem Dom und seinen romanischen Stifterfiguren den Weltkulturerbestatus zuerkannte. Triegels Retabel sei zu modern, vor allem aber verstelle es durch seine Größe die Blickachsen zwischen den Chorfiguren aus Stein. Dass dies so nicht stimmt, müssten die Lordsiegelwahrer in Paris wissen: Im Zentrum des Chores stand auch schon vor Cranach immer ein Marienaltar mit einer Figur oder einem Tafelbild oder beidem, sodass Uta und ihre Mitadeligen gerade in diesem der Patronin gewidmeten Zentrum ihren Bezugspunkt hatten. Zudem blicken die hinter dem Altar stehenden Grafen Timo von Kistritz und Sizzo von Schwarzburg gerade nicht nach vorne zu Uta, sondern zur Seite. Doch Icomos gibt sich hartleibig. Zwei Tage vor Nikolaus soll der Altar abgebaut sein, sonst werde dem Dom der Weltkulturerbestatus aberkannt. Was sonst oft der Klerus schafft, übernimmt im Fall Naumburgs eine abgehobene Denkmalpflege: die Kirche nach hoffnungsvollen Monaten wieder zu leeren.

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