Michael Bienert, Stadtführer und Berlinologe, entführt in seinem Buch „Das aufgeklärte Berlin “ ins 18. Jahrhundert – und zeigt die radikalen Veränderungen.
Tagesspiegel vom 19.11.2022 von Dorothee Nolte

Früher tobte hier das Leben. Kutschen fuhren vorüber, Handwerker und Händlerinnen eilten hin und her, Soldaten marschierten: Die Brüderstraße im Bezirk Mitte war eine wichtige Verbindung zwischen Petriplatz und Schloss. „Die Dichterin Anna Louisa Karsch, die hier zeitweilig wohnte, beschwerte sich, dass es immer so laut war“, erzählt Stadtführer und Autor Michael Bienert. Hufe klapperten, Wagenräder rumpelten, Hunde bellten und manch lautstarker Streit wurde ausgetragen. Heute dagegen: Stille. Kaum jemand verirrt sich in die Brüderstraße und zu dem Haus Nummer 13, in dem der Verleger Friedrich Nicolai von 1787 bis zu seinem Tod 1811 lebte. Wenn man vor dem noch weitgehend original erhaltenen Gebäude steht und den Blick nach Norden richtet, sieht man zwar die Kuppel des wiedererrichteten Schlosses. Aber das ehemalige DDR-Staatsratsgebäude, die European School of Management and Technology, schiebt sich als wuchtiger Riegel dazwischen. Die Brüderstraße ist dadurch abgeschnitten, ein Stummel, für die meisten Einheimischen und Tourist:innen uninteressant.

Doch zum Glück gibt es den „ Berlinologen “ Michael Bienert, der erklären kann, warum genau diese Straße eine Rolle in der Geschichte gespielt hat. Der Journalist und Literaturwissenschaftler, der auch für den Tagesspiegel schreibt, hat gerade ein Buch über „Das aufgeklärte Berlin “ veröffentlicht. Darin kommt auch das Haus Brüderstraße Nr. 13 vor: In dem ehemaligen Adelspalais hatte der Kritiker und Netzwerker Friedrich Nicolai seinen einflussreichen Verlag und seine Buchhandlung, er lud Freunde und Weggefährten dorthin zur „Mittwochsgesellschaft“, einer Vereinigung, die sich zu den Ideen der Aufklärung bekannte. Heute gehört das Haus mit dem barocken Innenhof und einer beeindruckenden Holztreppe aus dem Jahr 1710 der Deutschen Stiftung Denkmalschutz – eine kleine Ausstellung in der ersten Etage erinnert daran, dass Friedrich Nicolai hier seine Wirkungsstätte hatte.

Doch damit nicht genug. „In der Nummer 27 war das Weinlokal Baumannshöhle, in dem Lessing und Moses Mendelssohn verkehrten “, erzählt Bienert. Der Dramatiker Lessing und der Philosoph Mendelssohn waren mit Nicolai befreundet. Alle drei Geistesgrößen des 18. Jahrhunderts tauchen naturgemäß in Michael Bienerts neuem, reich bebilderten Buch häufig auf. Es ist der siebte Band in seiner Reihe „Literarische Schauplätze“, zuvor hat Bienert etwa das Berlin Erich Kästners, Irmgard Keuns, Alfred Döblins oder E.T.A. Hoffmanns und zuletzt „Das romantische Berlin “ (2021) behandelt.

Immer nimmt er seine Leser mit auf ebenso unterhaltsame wie gehaltvolle Spaziergänge durch die Stadt von gestern und von heute. Historische Stiche und Gemälde platziert er neben aktuellen Fotos: oftmals überraschende Gegenüberstellungen, die zeigen, wie radikal sich Berlin verändert hat – und wo noch Spuren der alten Bebauung erkennbar sind. „Ich versuche die Stadt zu lesen, verständlich zu machen, zu übersetzen“, sagt der 58-Jährige, er möchte Bezüge herstellen zwischen den Gestalten der Aufklärung und der Stadt von heute.

Zu den Protagonisten der Aufklärung gehört natürlich auch Friedrich II, der Voltaire nach Preußen holte, Künste und Wissenschaften förderte und sich selbst als aufgeklärten Monarchen sah. Was auf Geheiß Friedrichs in Berlin gebaut wurde – die Oper, die Königliche Bibliothek, das Palais des Prinzen Heinrich – ist in Bienerts Buch ausführlich beschrieben. Sein Hauptinteresse gilt jedoch der bürgerlichen Aufklärung. Seit zehn Jahren bietet er Spaziergänge auf den Spuren Gotthold Ephraim Lessings an, neuerdings auch auf denen von Anna-Louisa Karsch, deren Geburtstag sich am 1. Dezember zum 300. Mal jährt. „Die Themen der bürgerlichen Aufklärung sind wieder ganz aktuell“, sagt Bienert. „Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung, Menschenrechte, religiöse Toleranz, darum geht es damals wie heute. Der Kampf gegen autoritäre Herrschaft, Dogmatismus und Aberglauben ist noch lange nicht zu Ende.“

Umso wichtiger, das Erbe der Aufklärung in den Blick zu nehmen. Sie ist, findet Bienert, im öffentlichen Gedächtnis zu wenig präsent. „Wer weiß schon, dass sich im Nicolai-Haus das erste deutsche Literaturmuseum befand?“, fragt er. Von 1910 bis 1936 war hier ein Lessing-Museum untergebracht – die Stadt erinnerte sich stolz daran, dass der Begründer des bürgerlichen Trauerspiels prägende Jahre in Berlin verbracht hatte.

Den Nationalsozialisten dagegen war Lessing ein Dorn im Auge: In seinem Stück „Nathan der Weise“ hatte er dem Juden Moses Mendelssohn ein Denkmal gesetzt und in der „Ringparabel“ für Toleranz geworben. Das Museum wurde geschlossen. Dass heute, wenige Meter entfernt am Petriplatz , das „House of One“ entsteht, freut Michael Bienert: Das sei quasi „die gebaute Ringparabel“, sagt er mit einem Blick auf die Baustelle , auf der das gemeinsame Gotteshaus für Muslime, Christen und Juden errichtet werden soll. Weiter geht’s über die Mühlendammbrücke in Richtung Nikolaiviertel.

Hier, wo die DDR alte Strukturen rekonstruieren ließ, kann man sich am ehesten vorstellen, wie die Stadt im 18. Jahrhundert ausgesehen haben könnte. An einem schmalen Haus neben der Nikolaikirche hängt eine überdimensionierte bronzene Gedenktafel: „Hier stand das Haus, in dem Lessing 1765 ,Minna von Barnhelm‘ beendete“. Wirklich? „Das ist ein Fake“, sagt Bienert. Zwar hat Lessing zeitweise im ähnlichen Vorgängergebäude gelebt – original ist im Nikolaiviertel kaum etwas. „Aber die ,Minna‘ beendete er in einem Haus, das etwa da stand, wo heute die Rolltreppen in der Galeria Kaufhof am Alexanderplatz nach oben führen.“ Dieses letzte Berliner Wohnhaus Lessings wurde 1910 für den Bau des Warenhauses Tietz abgerissen, die Gedenktafel wurde am Warenhaus angebracht – und tauchte nach dem Krieg in den Trümmern wieder auf. „Seit 1987 hängt sie im Nikolaiviertel – und führt in die Irre.“

Abreißen, neu bauen, Gedenktafeln umhängen, Gebäude rekonstruieren, umetikettieren oder auch vergessen: Alltag in Berlin. Wer diese Stadt „lesen“ möchte, braucht viel Geduld und Vorstellungsvermögen – und einen kompetenten Führer wie Michael Bienert. Immerhin: Seitdem der Schlossneubau steht, ist die Übersetzungsarbeit für ihn ein bisschen leichter geworden, lassen sich viele historische Ansichten besser nachvollziehen. „Auch damals schon war das Schloss ein Fremdkörper in der Stadt“, sagt Bienert. Die Aufklärer blickten genau wie die Heutigen auf einen riesigen Gebäudekasten, der sich nur schwer in seine Umgebung einfügt. Und spazierten dann, in Gedanken oder Debatten versunken, in die deutlich kleinteiligeren Wohn- und Geschäftsviertel, zum Beispiel in die Brüderstraße, zu Friedrich Nicolai.

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Michael Bienert: „Das aufgeklärte Berlin “, 160 Seiten, Verlag Berlin Brandenburg, 28 Euro.
Auf den Spuren der Vergangenheit. Autor Michael Bienert nimmt seine Leser mit auf ebenso unterhaltsame wie gehaltvolle Spaziergänge durch die Stadt von gestern und von heute. „Das aufgeklärte Berlin “ ist der siebte Band der Reihe „Literarische Schauplätze“.

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