Fußgängerzone oder Autostraße – der Streit um die Friedrichstraße geht in die nächste Runde. Tobias Nöfer, Vorsitzender des Berliner Architekten- und Ingenieurvereins, über Mythos, Historie und Zukunft des Boulevards
Tagesspiegel vom 24.11.2022 von Udo Badelt

Herr Nöfer, seit Mittwoch ist die Berliner Friedrichstraße aufgrund eines Urteils des Verwaltungsgerichts wieder für den Autoverkehr geöffnet. Im Hause von Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch wird unter Hochdruck eine Umwidmung zur Fußgängerzone vorbereitet. Das vorangegangene Experiment, bei dem die Fußgängerzone mit einem Radschnellweg kombiniert war, funktionierte dort nicht. Was lief schief?

Es fehlte an einem Gesamtkonzept. Man hat einen Aktionismus gestartet, der nicht auf Analyse der Situation beruht, sondern ein politisches Statement war. Die Friedrichstadt ist ein Netzwerk, und wenn man da plötzlich eine Linie stark betont oder herausnimmt, hat das Folgen. Wir haben in Deutschland ausführlich Erfahrungen mit Fußgängerzonen gesammelt, die immer eine explizite Vorderseite und eine Rückseite produzieren, diese dann mit Lieferverkehr und Müll.

Die Friedrichstraße ist ein Mythos. Was war das historisch für eine Straße?

Diese über drei Kilometer lange Straße hat auch früher schon unterschiedliche Abschnitte gehabt und führt durch die beiden 300 Jahre alten Stadterweiterungen Friedrichstadt und Dorotheenstadt, südlich und nördlich der Linden. Das wurde nicht alles in einem Zuge entwickelt. Die Friedrichstraße ist sukzessive von Norden nach Süden erweitert worden. Dadurch gab es natürlich unterschiedliche Gegenden. Die Hauptverkehrs- und Einkaufsachse war Ende des 19. Jahrhunderts eigentlich die Leipziger Straße. Die Friedrichstraße , zeitweise auch Zentrum der Berliner Prostitution, stellte die Verbindung dar zwischen der Leipziger, den Linden und dem Bahnhof. Dieses Zentrum hat sich bis in die vierziger Jahre sehr urban entwickelt, dann kamen Krieg, Teilung, Mauerbau. Jetzt erzeugt es neue Probleme, wenn man aus diesem großen Innenstadtbereich eine Ader herausnimmt und sagt: Da setzen wir jetzt mal einen Stent.

Um in der medizinischen Terminologie zu bleiben: Der Kurfürstendamm ist eingebettet in ein gesundes Stadtgewebe, die Friedrichstraße nicht. Wie kann sie wieder florieren, wenn die Umgebung nicht floriert?

Der Unterschied zwischen Kurfürstendamm und Friedrichstraße ist maximal, nicht nur geschichtlich, auch in der Nutzung. Der Kurfürstendamm ist historisch der exzentrische Westen, auch in dem Sinne, dass er das maximale Stadtwachstum in diese Richtung darstellt. Er ist umgeben von großzügigen Wohnvierteln, die durchgängig mondän bewohnt waren, auch wenn sie sich natürlich gewandelt haben. Die Friedrichstadt ist 300 Jahre älter und gehört zum historischen Stadtkern, war aber bis 1990 Grenzgebiet, Zonenrand. Die DDR hat das Zentrum eigentlich nur bis zum Palast der Republik interessiert, das Außenministerium fungierte als eine Art Wand nach Westen, da hörte die Hauptstadt der DDR mehr oder weniger auf. Solche brachialen Einschnitte lassen sich nicht mal eben so beiseite kehren.

Es ist in den vergangen 30 Jahren nicht wirklich gelungen, die Friedrichstadt wieder auf eigene Füße zu stellen.

Es gab nach der Wende unterschiedliche Optionen. Wenn man sieht, was dort entstanden ist, kann man sagen: Wir haben noch Glück gehabt. Wenigstens der barocke Grundriss ist erhalten geblieben, es ist ein städtebaulich einigermaßen angenehmer, homogener Stadtkörper wiedererstanden. Andererseits sind auch Fehler gemacht worden. Der größte: Man hat nicht parzelliert, stattdessen ganze Blöcke verkauft, die dann mit riesigen Objekten bebaut wurden. Die fehlende Parzellierung verhindert Wandelbarkeit.

„Parzellen“ ist ein Zauberwort der Stadtentwicklung . Denn sie sind meist Bedingung einer kleinteiligen und damit auch menschlichen Struktur.

Wir haben vor 25 Jahren eine Untersuchung gemacht, die Berliner Schwarz- und Parzellenpläne, und dabei herausgefunden: Die physische Zerstörung Berlins hat zwar durch Krieg und Abriss stattgefunden, aber die große Änderung der Matrix der Stadt erfolgte zwischen 1950 und 1989. Es wurden Grundstücke zusammengekauft, der Umbau zur autogerechten Stadt vorangetrieben, mit Städtebaurecht große Flächen geschaffen. Insofern war an einigen Stellen nichts mehr zu retten, vor allem, weil die öffentliche Stadtplanung auf das Privateigentum wenig Einfluss hat. Es hätte eines brachialen Eingriffs in das Eigentumsrecht bedurft, hätte man da parzellieren wollen. Auch im Osten, auch in der Friedrichstadt, wurden Grundstücke zusammenlegt und vielfach ohne Restitution kurzerhand bebaut.

Was kann aus der Friedrichstraße jetzt werden? Ist die Rückkehr des Autoverkehrs die Rettung? Oder eine Fußgängerzone?

Wir haben dort ein erkennbares städtebauliches Konzept, das ist schon mal was. Man muss ja auch benennen, was gut ist. Der Gendarmenmarkt ist ein wunderschöner Platz. Ich glaube nicht, dass es massiver Veränderungen bedarf. Die wirken immer wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird und Wellen schlägt. Wenn wir da jetzt eine Fußgängerzone machen, entwertet das die anderen Straßen. Man kann das tun, aber man muss es bewusst tun. Was passiert, wenn Querstraßen zu Sackgassen werden, sieht man jetzt: alles voller Lieferverkehr. Ich kann verstehen, dass Händler auf die Barrikaden gehen, weil das schlagartig 1b-Lagen sind. Wir als Architekten- und Ingenieurverein müssen oft zusehen, wie unsere fachlichen Einwände von politischen Interessen beiseitegeschoben werden. Wenn man so hart mit der Straße umgeht und kurz nach der Corona-Delle das nächste leichtfertige Experiment macht, schadet man einzelnen Leuten und der ganzen Stadt.

Am Kudamm stehen prachtvolle Platanen, in der Friedrichstraße können, heißt es immer, keine Bäume gepflanzt werden, weil direkt unter dem Pflaster die U6 verläuft.

Das ist so, aber es reicht nicht, sich nur die Friedrichstraße anzusehen. Die Seitenstraßen und die Leipziger Straße scheinen niemanden zu interessieren. Man muss das als Netz verstehen und sich Gedanken machen, wie man in diesen barocken Stadtgrundriss Grün integriert. Und Gestaltungsvorschläge entwickeln, mit Anrainern abstimmen. Es ist mir unverständlich, wie man so stark in die Funktionalität der Straße eingreifen konnte ohne die doch immer so hoch gehaltene Partizipation.

Autoverkehr allein wird die Straße nicht retten.

Und Fahrradverkehr allein auch nicht. Man hat 70 Jahre dem Auto den Vorrang gegeben, jetzt darf man nicht den Fehler machen, dasselbe mit dem Fahrrad zu produzieren und sich dann zu wundern, wenn es Unfälle mit Fußgängern gibt. Der Vorrang eines Verkehrsträgers gegenüber allen anderen ist im Zentrum grundsätzlich falsch.

Inwiefern ist es auch ein Problem, dass die Friedrichstraße als Sackgasse, am Mehringplatz endet? Würde es der Straße helfen, wenn man das ändert?

Ich bin ganz sicher. Der Mehringplatz ist eines der markantesten städtebaulichen Probleme, die wir in Berlin haben. Der Platz war komplett zerstört, da lag kein Stein mehr auf dem anderen. Dann haben Hans Scharoun und Werner Düttmann ein Konzept entwickelt, das ich „Experiment am offenen Herzen“ nennen würde. Es war aus heutiger Sicht verantwortungslos: Sie haben den Platzraum zur Rückseite erklärt und auf der „falschen“ Seite eine Straße versucht, nämlich zwischen den beiden Wohnringen. Diese Zone wird aber als Straße nicht ernst genommen, und die zentrale Grundfläche neigt zur Verslumung wie alle Parks, die Rückseiten sind. Wenn es kein Vorne und kein Hinten gibt, keinen Unterschied zwischen Öffentlich und Privat, dann funktioniert eine Stadt nicht. Wobei „Privat“ hier nicht „Privateigentum“ bedeutet, sondern sich auf das menschliche Verhalten im Raum bezieht. Selbst das örtliche Quartiersmanagement schreibt, dass es sich beim Mehringplatz um einen städtebaulichen Missstand handelt. Dem würde ich voll zustimmen. Ein fehlgeschlagenes Experiment.

Also was tun? Der Platz ist ja gerade erst nach quälend langer Neugestaltung wiedereröffnet worden.

Das wird nichts nützen. Ich glaube, der Mehringplatz ist in seiner heutigen Form ein hoffnungsloser Fall. Der Denkmalschutz schützt hier einen hochproblematischen städtebaulichen Missstand. Das muss man diskutieren sowie auch Abriss und Neubau erwägen.

Das Gespräch führte Udo Badelt. Tobias Nöfer , geboren 1967, hat in Aachen Architektur studiert und ist seit 1998 als freischaffender Architekt in Berlin tätig. Seit 2019 Vorsitzender des Architekten- und Ingenieurvereins

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