Von Tegel über den Hauptbahnhof bis zum BER: Zum Tod des großen Architekten Meinhard von Gerkan
Morgenpost vom 02.12.2022 - BM/dpa

Es war im Sommer 2020, als der Flughafen BER nach nicht mehr zählbaren Verschiebungen endlich vor seiner Eröffnung stand. Es gab einen Termin für Architekturkritiker, um das Gebäude zu präsentieren – in Begleitung des großen Architekten Meinhard von Gerkan, der im Rollstuhl an der Führung teilnahm. Kurz bevor die Gruppe die Haupthalle erreichte, holte von Gerkan zur Rede aus.

Er habe sich gefragt, was man in einem solchen Moment sagen könne und „nicht absoluter Mumpitz sei“, erklärte er und begann dann einen Text vorzulesen, den er 1997, als der BER nur ein Planspiel war, in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ veröffentlicht hatte. Was folgte, hörte sich an wie eine Mischform aus Vision und Bilanz der vergangenen 23 Jahre. „In der fortschrittlichsten Verkehrstechnik , dem Fliegen“, las der Architekt, „bilden die Orte des Abfliegens und des Ankommens – die Flughäfen – eine Achillesferse: Hier werden aus Kapazitätsengpässen Verspätungen, hier stößt die Vernetzung mit dem Bodenverkehr auf logistische und städtebauliche Probleme. Kontrollen sollen für Sicherheit sorgen, Dienstleistungen die Kunden verwöhnen und gleichzeitig ihren Geldbeutel anzapfen. Die daraus resultierenden Bedingungen unterliegen einem permanenten und rasanten Wandel, sodass Flughäfen keinen Zustand, sondern einen immer sich verändernden Prozess darstellen. Nichts ist konstant.“

Wer hätte das besser wissen können als Meinhard von Gerkan selbst? Gleich mit seinem ersten Bauprojekt landete er einen Welterfolg: Mit Anfang 30 bekam er den Zuschlag für den Flughafen Tegel, der bei vielen bis heute Kultstatus genießt als „Flughafen der kurzen Wege“. Zusammen mit seinem Partner Volkwin Marg realisierte er Bauwerke in aller Welt – darunter das Nationalmuseum in Peking, Fußballstadien in Südafrika und Brasilien und eine Millionenstadt nahe Shanghai.

„Ich wurde Architekt aus Leidenschaft und bin es seitdem immer geblieben“, betonte der Mann mit der Brille und dem vollen weißen Haar in seinem Buch „Black Box BER“ (Quadriga Verlag, 2013), in dem er gnadenlos abrechnete. Dass er, der einzigartige Bauwerke in aller Welt errichtete, nach der geplatzten Eröffnung des Hauptstadtflughafens fristlos vor die Tür gesetzt wurde, traf ihn schwer. Gerkan, der wegen seines Perfektionismus und seiner temperamentvollen Art nicht immer als einfach galt, sprach von Willkür und Demütigung.

Am 3. Januar 1935 im lettischen Riga geboren, war seine Kindheit geprägt von den Katastrophen des Zweiten Weltkriegs: Der Vater kam 1942 als Soldat an der Ostfront ums Leben, die Mutter starb kurz nach der Flucht von Posen nach Niedersachsen.

Der Junge wuchs in Pflegefamilien auf, seit 1949 in einer Hamburger Pfarrerfamilie. Er besuchte mehrere Schulen, machte schließlich 1955 sein Abitur an einem Abendgymnasium. Zunächst studierte er Jura und Physik in Hamburg, entschied sich dann für ein Architekturstudium in Berlin . Hier lernt er auch seinen späteren Partner Volkwin Marg kennen; zusammen gingen beide an die TU Braunschweig.

Nach dem Diplom gründeten die beiden in Hamburg ihr bis heute weltweit renommiertes Büro gmp (Gerkan, Marg und Partner). Es folgt eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Heute arbeiten weltweit mehr als 400 Beschäftigte für das Büro, das Hunderte erste Preise in Wettbewerbsverfahren gewonnen und mehr als 370 Bauten fertiggestellt hat. Darunter sind die Neue Messe Leipzig mit ihrer gewaltigen gläsernen Tonne über dem Mitteltrakt, die Flughäfen in Hamburg und Stuttgart, der Berliner Hauptbahnhof, der Umbau des Berliner Olympiastadions sowie Bauwerke in Asien, Südafrika und Brasilien.

„Wir versuchen jede Entwurfsaufgabe auf möglichst wenige Kernfragen zu verdichten, um darauf die selbstverständliche Antwort zu finden“, beschrieb Gerkan das Konzept. Fachleute bescheinigen dem Büro, sich von den zu engen Konventionen moderner Architektur befreit und die eigenen Entwürfe, basierend auf den bevorzugten Materialien Stahl und Glas, stärker in Bezug zum historischen Umfeld gebracht zu haben.

Sein langjähriger Partner Marg würdigte seinen Mitstreiter am Donnerstag auch für seinen offenen Blick in die Zukunft: „Ich bin stolz darauf, was Meinhard und ich gemeinsam mit unseren Partnern und Mitarbeitenden in mehr als einem halben Jahrhundert geschaffen haben. Auf unsere Bauten , die in Deutschland und weltweit anerkannt und gewürdigt werden“, so Marg laut Mitteilung. „Wir haben zusammen stets für gute Architektur gekämpft, sehr oft gewonnen und manchmal auch verloren. Meinhards unternehmerischer Mut und weitsichtiger Blick nach vorn stellten die Weichen für die Zukunft unseres Büros.“

In seiner Antrittsvorlesung 1974 an der Braunschweiger Hochschule forderte Gerkan, die Arbeit der Architekten müsse „darauf gerichtet sein, Architektur dem Denk- und Handlungsraum von Konsumware zu entreißen und ihr die Wertstelle von Kulturgut zu geben“.Legendär der Prozess um den Berliner Hauptbahnhof. Schon die Eröffnungsfeier hatte Gerkan boykottiert, weil der damalige Bahnchef Hartmut Mehdorn eigenmächtig die Gleisüberdachung verkürzt hatte und zudem im Untergeschoss die geplante filigrane Gewölbedecke strich – zugunsten einer simplen Flachkonstruktion. Im Prozess kommen Gerkan die Tränen, er gewinnt in erster Instanz, später gibt es einen Vergleich. Mit seiner Klage gegen die „mutwillige, nicht abgestimmte Verschandelung“ schuf Gerkan 2006 einen spektakulären Präzedenzfall des Architekten-Urheberrechts. Am vergangenen Mittwoch ist Meinhard von Gerkan, wie sein Büro unter Berufung auf die Familie mitteilte, im Alter von 87 Jahren in Hamburg gestorben.

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