Mit dem Flughafen Tegel hat er früh Genialität bewiesen, mit dem Berliner Hauptbahnhof die Wiedervereinigung untermauert. Seine Gebäude atmen den Geist der Freiheit. Zum Tod des Architekten Meinhard von Gerkan
Welt am Sonntag vom 03.12.2022 von Dankwart Guratzsch

Irgendwie war er doch ein Hansdampf in allen Gassen der Architektur: Meinhard von Gerkan, der Balte und Hamburger, zusammen mit seinem Studienfreund Volkwin Marg einer der erfolgreichsten deutschen Architekten der Nachkriegszeit, Mitinhaber des größten Architekturbüros Deutschlands mit dem Kürzel GMP, Architekt auf vielen Kontinenten mit Großaufträgen in China, Trendsetter für viele Tendenzen des modernen Bauens , aber auch, und das zeigt die Vielseitigkeit dieses Architekten, Verteidiger des "Gesamtkunstwerkes Dresden", einer, der nicht nur baute , sondern Zeichen setzte.

Von Gerkan und Marg, sie waren vielleicht das ungewöhnlichste Architektengespann unseres Landes. Im Architekturbüro in Hamburg saßen sie im selben Raum an weit auseinandergerückten Schreibtischen. Seit der Gründung des Büros 1965 blieben sie zusammen, für Architektengemeinschaften ungewöhnlich, und zeichneten für jeden ihrer Architektenentwürfe gemeinsam verantwortlich. Und doch pflegte jeder von ihnen seinen eigenen "Stil". Mit vier Partnern und 200 Mitarbeitern in Hamburg, Berlin , Aachen, Braunschweig und Leipzig formten sie wesentlich das Bild Deutschlands nach dem Krieg, auch buchstäblich vom ersten Augenblick an das des wiedervereinigten Deutschlands. So wie Meinhard von Gerkan im Oktober 1990 den Anstoß zum ersten west-östlichen Architekturworkshop in Dresden gegeben hatte, schuf Volkwin Marg mit den gläsernen Hallen der Neuen Messe Leipzig das ikonische Bauwerk für ein Weiterbauen in neuem, gemeinsamem, gesamtdeutschem Geist.

Von Gerkan hat diesen Aufbruch zu einer Architektur der Einheit und des Neuanfangs auf bewegende Weise geschildert. Am 2. November 1989, sieben Tage vor dem Mauerfall, hatte er vor Architekten in Dresden gesprochen. "Ich bin tief bewegt und erschüttert wieder gen Westen gefahren. Ich hatte erleben müssen, wie unvorstellbar die Gegensätze im Bereich des Städtebaus und der Architektur innerhalb eines Volkes und eines Kulturkreises waren. Ich fuhr mit der Überzeugung von Dresden nach Hamburg zurück, dass wir Architekten im Westen unseren Kollegen 'drüben' einen Kulturaustausch schuldig sind, um ihnen, denen alles vorenthalten und die zu Handlangern einer diktatorisch gesteuerten Bauindustrie degradiert wurden, Mitteilung zu machen von der Vielzahl unserer Möglichkeiten ebenso wie von den Verführungen, Verirrungen und Fehlern."
Das Zitat zeigt den ganzen Gerkan, einen "denkenden" Künstler, für den es beim Bauen nie um die pure Pflichterfüllung ging, sondern der sich der Verantwortung für das Ganze, für den Geist des Bauwerks und der Umgebung, in die es gestellt wurde, bewusst war. Viele haben es ihm deshalb übel genommen, dass er zu den deutschen Architekten mit den meisten und größten Aufträgen im kommunistischen China gehörte. Er selbst hat es gerade vor dem Hintergrund der deutschen Erfahrungen entgegengesetzt gesehen. Architektur könne den Geist der Freiheit weitertragen, sie könne Bewusstsein wecken und das eiserne Regime autokratischer Staaten aufbrechen.

In Deutschland sind es vor allem zwei große Verkehrsbauwerke, die mit seinem Namen verbunden sind: der Flughafen Berlin -Tegel und der neue Hauptbahnhof von Berlin . Das Sechseck von Tegel hat sich als geradezu genialer Verteiler von kürzestmöglichen Wegen in einem für die globalisierte Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts symbolischen Verkehrsknoten erwiesen. Jetzt, wo dieser Flughafen stillgelegt ist, lässt sich des Geniestreichs der beiden bei der Erbauung des Airports 1974 noch jungen Architekten nur mit Melancholie gedenken. Wie von Gerkan und Marg so frei waren, die Ideen ihrer Anfangszeit später in ganz andere Dimensionen weiter zu denken, lässt sich an dem gegen unendliche technische und administrative Änderungswünsche und Widerstände realisierten Großflughafen Berlin -Schönefeld ablesen.

Auch der neue Hauptbahnhof von Berlin ist zu einem ikonischen Verkehrsbauwerk des Teams geworden. Wie ganz anders als der nicht realisierte steinerne Koloss eines Albert Speer für einen solchen Zentralbahnhof der deutschen Hauptstadt stellt es sich dar! Auch wenn der damalige Bahnchef Mehdorn einige Hauptideen von Gerkans für den Bahnhof torpediert hat, hat hier die Idee des wiedervereinigten Deutschlands seine symbolische Ausformung gefunden. Wie sich die Züge aus allen Richtungen auf mehreren Etagen kreuzen, wie unter der lichten Glaskonstruktion Eisen- und Stadtbahnen aller Bautypen zusammentreffen, wie der Blick aus den obersten Etagen und Brücken bis hinunter in die Tiefen des Untergrundes reicht, wie die Menschenmassen über Treppen, Fahrstühle, vorbei an Geschäften und Restaurants verteilt werden, das ist ein gestalterisches und logistisches Kunststück. So unsäglich die spätere äußere Einrahmung dieses Bauwerks durch eine Architektur, die nicht den Namen verdient, auch ist - das Bauwerk selbst kann sie nicht ruinieren.

"Aus einem Tropfen geboren" nennt von Gerkan selbst sein "ikonischstes" Werk, das in seinen Planskizzen wie eine Stadtutopie des frühen Industriezeitalters erscheint: Luchao, die um einen künstlichen kreisrunden See strahlenförmig angeordnete chinesische Stadt. Ihr Grundriss gleicht einer Sonne. Fantasiezeichnungen zeigen weiße Segel, an baumbestandenen Uferpromenaden Cafés und Restaurants mit Hunderten Menschen, ein Liebespaar, das sich umarmt - eine unbeschwerte Gesellschaft, die von einer Freiheit träumt, die die Architektur verspricht, aber die die Wirklichkeit (noch) nicht zu bieten vermag. Die Stadt ist im Bau . Es ist der Traum eines Architekten, der immer über den Tag hinaus dachte, und doch nie die Bodenhaftung verlor.

So, wie sich von Gerkan 1989 dazu bekennen konnte, "dass das Gesamtkunstwerk Dresden entsprechend seiner historischen Bedeutung, mit Respekt gegenüber seiner einmalig schönen topografischen Situation und mit Rücksichtnahme gegenüber den Baudenkmälern und der gewachsenen Struktur wieder aufgebaut werden könnte", so zukunftszugewandt ist er in seinen eigenen Schöpfungen und Theorien gewesen. Dass freilich die Architektur unter ökologischen Anforderungen künftig eine "andere Qualität" gewinnen könnte, sah er skeptisch. Als es um den Bau des Umweltministeriums in Berlin ging und die Forderung im Raum stand, das Dach des Gebäudes aus "Demonstrationsgründen" mit Solarzellen auszustatten, rechnete der Realist Meinhard von Gerkan den Politikern vor: "Während ihrer gesamten Nutzungsdauer werden die Zellen nicht so viel Energie liefern, wie sie verbraucht haben, um hergestellt zu werden."
Jetzt ist von Gerkan, der " der bekannteste deutsche Architekt", gar "einer der einflussreichsten Architekten der Welt" genannt wurde, mit 87 Jahren in Hamburg verstorben.

Die Welt im Internet: www.welt.de