Schinkels Berliner Bauakademie stand für die Emanzipation der Zivilgesellschaft. Und sie erfüllte alle heutigen Ansprüche an ein Gebäude. Plädoyer für eine historische Rekonstruktion.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05.12.2022 von Peter Stephan

Seit der Wiedervereinigung besteht in Fachwelt, Politik und Gesellschaft ein breiter Konsens darüber, dass die Berliner Bauakademie, von 1832 bis 1836 nach Plänen Karl Friedrich Schinkels errichtet und zu DDR-Zeiten abgerissen, wiederaufgebaut werden soll. Die Gründe, die hierfür sprechen, sind vielfältig. Politisch ist die Bauakademie völlig unbelastet. Städtebaulich kann sie wieder zum entscheidenden Bindeglied zwischen Schloss, Zeughaus, Kommandantur und Friedrichswerderscher Kirche werden. Kunsthistorisch war sie Inkunabel und Vorbild der Moderne - auf dem Feld der Industriearchitektur ebenso wie für den frühen Hochhausbau in Chicago. Sie gehörte zum Kulturerbe der Menschheit, weshalb die Welt auch einen Anspruch auf ihre Wiedergewinnung hat. Und schließlich ist sie denkmalpflegerisch bestens dokumentiert, ihr Figurenschmuck hat sich sogar fast ganz erhalten. In jeder Hinsicht also ideale Voraussetzungen für eine glaubwürdige Rekonstruktion.

Dessen ungeachtet verfolgt die Bundesstiftung Bauakademie in ihrer Eigenschaft als Bauherrin ein entgegengesetztes Ziel. Sie favorisiert eine völlig neuartige "klimapositive" Modellarchitektur, die das Innovationspotential und die Nachhaltigkeit ökologischen Bauens demonstrieren soll. Vorsorglich hat Stiftungsdirektor Guido Spars die bisherige Zielvorgabe "So viel Schinkel wie möglich" durch eine neue ersetzt: "So bauen, wie Schinkel es heute täte".

Nun weiß kein Mensch, wie ein "Schinkel des 21. Jahrhunderts" bauen würde. Sehr wahrscheinlich wäre er mit seiner Überzeugung, dass gute Architektur nicht ohne Dekor auskommt und die Ästhetik Vorrang vor der Funktion hat, ein von der heutigen Architektenzunft gemiedener Außenseiter, der kaum eine Chance hätte, einen Wettbewerb zu gewinnen. Doch ist neben der Gestaltungsfrage noch etwas anderes entscheidend: Was genau hatte Schinkel mit seiner Bauakademie im Sinn? War es ihm wie der heutigen Bundesstiftung "nur" um die Entwicklung eines innovativen Musterbaus gegangen? Oder enthielt sein Konzept eine weiterführende Idee? Ließe diese sich durch eine Rekonstruktion erneut vergegenwärtigen? Und welchen Gewinn brächte das für unsere Gesellschaft?

Um die Antwort vorwegzunehmen: einen sehr großen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte Schinkel wesentlich dazu beigetragen, dass Berlin sich von einer königlichen Residenzstadt in eine bürgerliche Metropole verwandelte. Vor allem die Bauakademie wurde zum Sinnbild einer sich geistig und politisch emanzipierenden Zivilgesellschaft, die sich in der zweiten Jahrhunderthälfte auch durch liberale und soziale Unabhängigkeitsbewegungen auszeichnete. Insofern wäre sie inmitten der bundesdeutschen Hauptstadt ein wichtiger Symbolbau für freiheitlich-demokratische Identitätsstiftung und gesamtgesellschaftlichen Fortschritt. Auf soziokultureller Ebene würde der originale Schinkel noch nachhaltiger wirken als ein fiktiver Zeitgeist-Schinkel in ökologischer Hinsicht.

Doch der Reihe nach: Als Schinkel 1815 als Geheimer Oberbaurat begann, Berlin neu zu gestalten, war die Bildung der Zivilgesellschaft in vollem Gange. Der König hatte erkannt, dass das Bürgertum eine wichtige geistige und ökonomische Ressource darstellte, und dementsprechend nicht nur die gneisenauschen Militär-, sondern auch die stein-hardenbergschen Sozial- und die humboldtschen Bildungsreformen eingeleitet. Dieser Prozess spiegelte sich auch in Schinkels Staatsbauten wider. Sie sind fast durchweg als eine Interventionsarchitektur zu lesen, mit der das bis dahin monarchisch geprägte Umfeld des königlichen Schlosses neu codiert wurde.

So diente die Neue Wache mit ihrer griechischen Tempelfront nicht nur als Wachlokal, sondern auch als Ehrenmal für die gefallenen Soldaten. Wie der Figurenschmuck der nahe gelegenen, gleichfalls von Schinkel entworfenen Schlossbrücke sollte die Opferbereitschaft der Bürger in den Befreiungskriegen angemessen gewürdigt werden. Damit war eine Antithese zum barocken Zeughaus formuliert, dessen Ikonographie einzig den fürstlichen Landesherrn als Beschützer des Staates feierte.

Eine weitere Widerrede formulierte das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Im Unterschied zu seinem viel niedrigeren Vorgängerbau trat es selbstbewusst zwischen den Deutschen und den Französischen Dom. Mit seiner platzbeherrschenden Tempelfront, die es als ein Heiligtum der Musen auswies, repräsentierte es eine bürgerliche Theaterkultur, die im Geiste Lessings und Schillers den Anspruch erhob, wie die Kirche als moralische Erziehungsanstalt zu wirken. Ein drittes Spannungsfeld eröffnete Schinkel zwischen dem Alten Museum am Lustgarten und dem barocken Schloss. Nachdem die Bürger maßgeblich zum Sieg über Napoleon beigetragen hatten, waren die in den Louvre entführten preußischen Kunstschätze an die Spree zurückgekehrt, jedoch nicht mehr in die Residenz der Hohenzollern, sondern in ein öffentlich zugängliches Museum , das einen weiteren Beitrag zur Bildung des Volkes leisten sollte. Das Bildungsbürgertum war zum geistigen Eigentümer der staatlichen Kunstsammlungen geworden. Um diesen Paradigmenwechsel sinnfällig zu machen, gestaltete Schinkel die Fassade in Anlehnung an die Agora-Architektur des klassischen Athens als eine offene Säulenhalle. Der Lustgarten, einst Parkanlage des Schlosses und dann Exerzierplatz, wurde zu einem auf das Museum ausgerichteten Bürgerforum. Im Innern beschwor die zentrale, dem Pantheon in Rom nachempfundene Rotunde ein buchstäblich pantheistisches Weltbild. Hatte im Treppenhaus des Schlosses der olympische Götterhimmel in seiner hierarchischen Gliederung den barocken Hofstaat verkörpert, so stand Schinkels Himmelskuppel für einen alle Wesen umfassenden Kosmos. Ein wahrhaft kosmopolitisches Weltbürgertum begann, Kunst als Teil eines universalen Menschheitserbes zu begreifen.

Ihren krönenden Schlusspunkt fand Schinkels Auseinandersetzung mit dem Schloss im Gebäude der Bauakademie . Der Lehrbetrieb war nach dem Vorbild der Pariser École polytechnique revolutioniert worden. Technische und ökonomische Disziplinen wie Baukonstruktion , Mechanik und Ingenieurswesen ergänzten die traditionellen Fächer der Gestaltung, der Geschichte und der Theorie. Funktionalität und Ökonomie wurden zu wesentlichen Bestandteilen des Entwurfs, was zeichenhaft für die gerade stattfindende Industrialisierung der Gesellschaft war.

Diese innovativen Lehrinhalte veranschaulichte Schinkel durch eine nicht minder innovative Architektur. Ein Kubus mit vier gleichen, modular aufgebauten Fassaden umschloss rasterförmig angeordnete Stützen, die eine flexible Raumeinteilung ermöglichten. Die Fassaden waren aus Ziegeln gemauert, die Fensterrahmungen bestanden aus standardisierten Terrakottaprofilen. Dank der Nutzung heimischer Baustoffe und der seriellen Vorfabrikation erwies sich diese Bauweise als höchst ökonomisch und nachhaltig. Zugleich verstand Schinkel es, diesen reinen Funktionsbau ästhetisch zu gestalten. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Bauten , allen voran dem Schloss, fanden klassische Würdeformeln keine Verwendung. Die Gliederung ergab sich ganz aus der Konstruktion, der Materialität und der Gestaltung der Details. Dekorative Pilaster wurden durch tragende Strebepfeiler, skulpturale Fenstergiebel durch wohlgefügte Entlastungsbögen ersetzt. Das Fugenbild und die unterschiedlichen Farben der Ziegel avancierten zum eigentlichen Ornament.

Hinzu kamen figürliche Reliefs, die als Ausfachungen auf nicht tragende Wandpartien beschränkt blieben. Die meisten thematisierten die verschiedenen Gewerke, wobei die dargestellten Handwerker und Bauleute in ihrer idealen Nacktheit dem Schönheitsideal griechischer Heroen angeglichen waren. Hatte Schinkel bisher die soldatischen und die geistigen Tugenden der Bürger gewürdigt, so nobilitierte er nunmehr die körperliche Arbeit und das technische Können eines bislang gering geschätzten Standes. In diesem Sinne waren die drei Denkmale auf dem Platz vor der Akademie auch nicht Königen oder Generalen gewidmet, sondern dem Agrarwissenschaftler Albrecht Daniel Thaer, dem Ingenieur Peter Beuth und Schinkel selbst.

Der Ansatz, das Schloss mit einer bürgerlichen Interventionsarchitektur einzuhegen, wurde nach Schinkels Tod fortgesetzt: etwa durch den Bau des Roten Rathauses, das wie die Bauakademie in serieller Ziegelbauweise errichtet wurde und dessen Turm die Kuppel des Schlosses deutlich überragt, oder mit dem Neptunbrunnen. Mit Letzterem nahm der Magistrat den Platz unmittelbar vor dem Schloss symbolisch in Besitz - und zwar genau an jener Stelle, wo Berlin und Preußen ihren gedanklichen Mittelpunkt hatten. Hier kreuzten sich die beiden Magistralen von Alt- Berlin und Cölln, hier lag der Nullpunkt der preußischen Meilenzählung. Allerdings hatte der Meergott dem Schloss (und damit dem Kaiser) den Rücken zugewandt. Gelassen blickte er über die Breite Straße zum Cöllner Rathaus, die hinter ihm aufragende Architektur mit ihren Riesensäulen als Staffage nutzend. Nicht zuletzt wirkten die ihn umgebenden Personifikationen preußischer Flüsse recht unprätentiös: Reinhold Begas hatte sie mit den Gesichtszügen und Attributen einfacher Landarbeiterinnen dargestellt.

Ein wesentlicher Grundzug, ja Vorzug dieser Stadtbaukunst war, dass das Schloss trotz aller inhaltlichen Abgrenzungsbemühen in seinem außerordentlichen künstlerischen Rang gewürdigt wurde. Schinkel setzte sich sogar nachdrücklich dafür ein, es künftigen Generationen zu erhalten, und machte es zum selbstverständlichen Bezugspunkt seiner Stadtplanung; die zum Schloss formulierten Antithesen waren dialektischer Natur: klar, aber nicht konfrontativ, innovativ, aber auch integrativ. Von diesem dialogischen Prinzip wichen erst die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts ab. Die Nationalsozialisten verwandelten den Lustgarten in einen Aufmarschplatz und degradierten die Kolonnaden des Alten Museums zur Kulisse geschichtsvergessener Selbstinszenierungen. In den Entwürfen für die 250 Meter hohe "Halle des Volkes" pervertierte Albert Speer die kosmische Symbolik von Schinkels Kuppel gar zum Sinnbild für Hitlers Weltherrschaftsphantasien.

Die DDR wiederum sprengte das Schloss und demontierte den Neptunbrunnen. Die schon im Wiederaufbau befindliche Bauakademie ließ sie abtragen, um Platz für ihr Außenministerium zu schaffen. Zugleich fügte sie dem Stadtraum weitere antimonarchische, aber auch antibürgerliche Monumente hinzu: das Staatsratsgebäude, das Marx-Engels-Forums sowie die Marx und Liebknecht gewidmeten Bronzereliefs am Neuen Marstall.

Seit der Wiedervereinigung und der Teilrekonstruktion des Schlosses stellt sich die Frage nach der Neugestaltung dieses Umfelds. Wie können die einzelnen Bauten wieder in ein dialogisches Verhältnis zueinander treten? Und wie kann dieser Dialog Berlins Rolle als Bundeshauptstadt und die Anliegen einer modernen Gesellschaft angemessen artikulieren? Was soll in diesem Zusammenhang mit dem historischen Standort der Bauakademie geschehen? Kann eine Neuinterpretation "im Geiste Schinkels" dasselbe leisten wie der echte Schinkel? Würde sie sich ebenso gut in das historische Ortsbild einfügen? Besäße sie dieselbe Aussagekraft wie der Altbau mit seiner besonderen Ästhetik und Ikonographie?

Auf alle Fälle wäre die städtebauliche , stilgeschichtliche und gesellschaftliche Entwicklung, die einst von der Neuen Wache zur alten Bauakademie führte, nicht mehr erkennbar. Sie war das entscheidende letzte Glied einer historischen Kette. Nur durch ihre Wiederherstellung kann der von Schinkel initiierte Dialog wiederbelebt werden.

Dies schließt die Hinzufügung neuer Stimmen keinesfalls aus. 1848 tobte auf der Breiten Straße und der Brüderstraße, also unmittelbar in Sichtweite des Schlosses, unter der schwarz-rot-goldenen Trikolore der Barrikadenkampf der demokratischen Revolution, die zu diesem Zeitpunkt weite Teile Europas erfasst hatte. Hätte sie Erfolg gehabt, wäre der gesellschaftliche Emanzipationsprozess des deutschen Bürgertums von einer allgemeinen Demokratisierung gekrönt worden. Indes schlugen Soldaten den Aufstand blutig nieder. Tags darauf bahrten die Berliner ihre 300 Toten vor dem Schloss auf. König Friedrich Wilhelm IV. sah sich genötigt, Trauerbeflaggung anzuordnen und den Gefallenen mit abgenommenem Hut seine Reverenz zu erweisen.
Bisher erinnert in Berlin kein Denkmal an dieses wichtige Ereignis - obwohl das Vermächtnis von 1848 sowohl für die Weimarer Republik als auch für die Bundesrepublik identitätsstiftend war. Im kommenden Jahr wird sich die Revolution zum 175. Male jähren. Ist es da nicht ein Gebot der Stunde, gerade auf dem Schlossplatz einen entsprechenden Gedenkort einzurichten, zusätzlich zum Einheitsdenkmal, das gerade auf der Schlossfreiheit entsteht?
Nicht zuletzt ergäbe sich ein Bezug zu Schinkels Akademiegebäude. Nur zwei Monate nach der Niederschlagung der Revolution forderten Professoren und Studenten die Rückbenennung von "Allgemeiner Bauschule " in " Bauakademie " Die Wiedergewinnung eines quasiuniversitären Status sollte mehr akademische Freiheiten gegenüber der staatlichen Bürokratie garantieren. Der durch die Revolution verunsicherte König willigte ein. Fortan verkörperte die Bauakademie nicht nur den technischen Fortschritt, sondern auch das Streben nach geistiger Unabhängigkeit gegen politische und weltanschauliche Bevormundung.

Ein städtebaulicher Bogen, der von der Neuen Wache bis zum neuen Einheitsdenkmal reicht und in dem die Bauakademie zusammen mit einem Denkmal für die Bewegung von 1848 ein gedankliches Bindeglied darstellt, ist sogar in der Lage, die Monumente der DDR einzubeziehen. Bekanntlich verfasste Karl Marx sein Kommunistisches Manifest unter dem unmittelbaren Eindruck der 48er-Revolution. Und kulturgeschichtlich hat Schinkels Materialästhetik im Vorfeld der Industrialisierung auch etwas mit dem dialektischen Materialismus von Marx und Engels zu tun, ebenso wie seine ästhetische Nobilitierung körperlicher Arbeit mit der gesellschaftlichen Aufwertung der Arbeiterschaft zusammenhängt.
Innerhalb eines solchen Kontextes könnten die Freiheitskämpfe des Sozialismus gedanklich mit denen des Liberalismus verbunden werden - losgelöst aus dem Kontext der SED-Propaganda und integriert in ein gesamtdeutsches Narrativ. Ein solches Narrativ, das städtebaulich wie geistig über Stilformen, Epochen und Ideologien hinweg integrierend wirkt, braucht unsere Gesellschaft mehr denn je. Eine ökologische Standards berücksichtigende, zugleich aber auch authentische Rekonstruktion von Schinkels Bauakademie kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Schließlich sollte uns nicht nur das meteorologische, sondern auch das geistige und das soziale Klima ein Anliegen sein.

Peter Stephan lehrt Architektur und Kunstgeschichte an der Fachhochschule Potsdam.

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