Spiegel vom 04.01.2023 von Lukas Kissel

Bürgermeister und Planerinnen träumen von der Stadt der kurzen Wege: Wenn Supermarkt, Kindergarten und Arbeitsplatz um die Ecke liegen, werde das Auto kaum noch benötigt. Doch viele Menschen streben nach etwas anderem.

Früher rangierten hier Güterzüge – in diesen Wochen ziehen nun die ersten Mieter in die neuen Wohnungen ein. 2000 Wohneinheiten entstehen in Mönchengladbach auf dem ehemaligen Güterbahnhof-Gelände, ein Areal von 14 Hektar.

»Während wir bisher einfach vom Bereich hinter dem Hauptbahnhof redeten, ist das jetzt eigentlich ein ganz neuer Stadtteil mit eigenem Charakter«, sagt Oberbürgermeister Felix Heinrichs. Und mit einem klangvollen Namen: die »Seestadt«. Mittelpunkt des Quartiers soll nämlich ein angelegter See werden.

Der Investor verkauft das neue Viertel unter dem Label der »15-Minuten-Stadt«: Alles Nötige soll im besten Fall fußläufig erreichbar sein, das Versprechen ist hohe urbane Lebensqualität direkt vor der Haustür.

Neu ist die Idee nicht, schon in den 1990er-Jahren diskutierten Stadtplanende das Konzept einer »Stadt der kurzen Wege«. Das Konzept der »15-Minuten-Stadt«, geprägt vom Urbanismusprofessor Carlos Moreno und am prominentesten angepackt von der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, meint praktisch dasselbe: Statt in der Vorstadt zu wohnen und dauernd in die Stadt fahren zu müssen, soll sich das Leben vielmehr im eigenen Quartier abspielen. Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Sporttreiben – all diese täglichen Bedürfnisse sollen innerhalb dieser 15 Minuten erreichbar sein. Dezentralität statt Zentralismus, Leben statt Pendeln.

Mit dem frischen Namen bekommt das Konzept seit einiger Zeit neuen Aufwind. Wien will bis 2040 zur »15-Minuten-Stadt« werden und baut dafür Radwege, ÖPNV und Sharing-Angebote aus; auch in einem jüngst beschlossenen Stadtentwicklungsplan in Berlin spielt die »Stadt der kurzen Wege« eine zentrale Rolle. Doch wie realistisch ist die 15-Minuten-Utopie – und was soll sie überhaupt bringen?

Metropolen sind bisher 90-Minuten-Städte

Sosehr sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat, wie sich Menschen fortbewegen, so gibt es doch erstaunliche Konstanten. Zwischen 70 und 80 Minuten ist das Durchschnittsindividuum täglich unterwegs und etwa drei Wege legt es dabei zurück, an beidem hat sich wenig geändert. Gleichzeitig erlaubt die bessere Infrastruktur, dass wir in dieser Zeit weiter kommen . Immer mehr Pkw sind unterwegs, aktuell gut 48,5 Millionen . So gibt es auch immer mehr motorisierten Individualverkehr – bis zum pandemiebedingten Einbruch stieg der Kraftrad- und Pkw-Verkehr um 28,5 Prozent gegenüber 1991 . Die Folgen: Staus, Lärm- und Schadstoffbelastung, CO 2 -Emissionen.

Die 15-Minuten-Stadt zielt darauf, dass wir stattdessen weniger unterwegs sind. Weil wir weniger unterwegs sein müssen. Das hieße nicht nur weniger Autos. Sondern auch mehr soziale Teilhabe für diejenigen, die kein Auto haben. Und alle würden Zeit für andere Dinge im Leben gewinnen.

Das klingt nach Utopie. Andererseits scheint es, als sei diese in Großstädten schon Gegenwart. Ein Datenprojekt auf der Website 15-minuten-stadt.de überführt die Theorie in ein Onlinetool, es analysiert, wo es die Menschen wie weit bis zum nächsten Bahnhof, zum Supermarkt, zur Arztpraxis haben. Je nachdem, wie nah diese Anlaufstellen an einem Ort gelegen sind, ergibt sich daraus ein Gesamtwert – den Höchstwert von 6 erreichen Orte, an denen Angebote für Mobilität, Nahversorgung, Freizeit, Gesundheit, Bildung und Naherholung zu Fuß oder mit dem Rad erreichbar sind. Bestimmte Punkte in Berlin -Prenzlauer Berg erreichen etwa den Wert 5,9 von 6, während die Karte im Umkreis der brandenburgischen Kreisstadt Prenzlau rot anzeigt.

Auf den ersten Blick scheint die 15-Minuten-Stadt in den Großstädten längst Alltag, die Metropolen sind auf der Karte großflächig grün eingefärbt. Auf den zweiten Blick ist die Realität aber auch in großen Städten weit von der Utopie entfernt. Denn tatsächlich bewegen sich die Menschen gerade in den Metropolen am längsten fort. Laut der Langzeitstudie »Mobilität in Deutschland« sind die Menschen dort im Durchschnitt 91 Minuten pro Tag unterwegs – mehr als eine Viertelstunde länger als in Kleinstädten und Dörfern auf dem Land. Praktisch sind Großstädte keine 15-Minuten-, sondern Anderthalb-Stunden-Städte.

»Jeder Bebauungsplan, jeder Flächennutzungsplan ist eine Weichenstellung dafür, wie sich die Menschen künftig in diesem Gebiet fortbewegen.«

»Das hängt damit zusammen, dass die Metropolen Arbeitsplatzschwerpunkte sind und sich dort aufgrund der Stadtgröße dann doch lange Arbeitswege einstellen«, sagt Carsten Gertz, Professor für Verkehrsplanung an der TU Hamburg. So gerät die Theorie an ihre Grenzen, wenn etwa Partner zusammenwohnen, deren Arbeitsstellen in unterschiedlichen Richtungen liegen.

Oder wenn man einen Freund besucht, der am anderen Ende der Stadt wohnt. Oder wo man vielleicht ein Schwimmbad vor der Haustür hat, was im Sinne des Konzepts eine »nahegelegene Freizeiteinrichtung« wäre, aber man eigentlich lieber Fußball spielt. Es ist auch diese »Ausdifferenzierung der Freizeitbeschäftigungen«, wie Verkehrsplaner Gertz es nennt, die dafür sorgen, dass man tatsächlich doch länger unterwegs ist – und sich auf Straßen Autos stauen.

»Man darf dieses 15-Minuten-Konzept nicht so stoppuhrmäßig begreifen, dass alle Wege nun in dieser Zeit zu absolvieren sind«, sagt Gertz. Die Botschaft sei vielmehr, wie wichtig solche Siedlungsvoraussetzungen seien – »weil sie so langfristig wirken. Jeder Bebauungsplan , jeder Flächennutzungsplan ist eine Weichenstellung dafür, wie sich die Menschen künftig in diesem Gebiet fortbewegen.«

Alle mal zusammenrücken

Für Kommunen bedeutet das: Stadtteile benötigen eine stärker durchmischte Nutzung, die saubere Trennung von Arbeits- und Wohngebieten ist überholt. Innenstädte müssen verdichtet werden, statt auf der grünen Wiese das nächste Neubaugebiet aus dem Boden zu stampfen. Dafür ließen sich bisherige Gebäude aufstocken, Dachgeschosse ausbauen oder bisherige Brachflachen umwandeln.

All das passiert. Auch die Supermarktketten hätten inzwischen begriffen, dass der Standardbau mit Parkplatz irgendwo im Gewerbegebiet nicht der richtige Ansatz sei, sagt Gertz. »Sondern dass man Supermärkte auch in Wohnungsgebäuden integrieren kann.«

Über die »Stadt der kurzen Wege« sind sich Städteplaner heute weitgehend einig, Stadtverwaltungen setzten diese Ideen längst um. Trotzdem gab es die gegenläufigen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte – mehr Verkehr, mehr Autos, mehr Stau. Für Gertz ist das kein Zeichen, dass das Konzept gescheitert ist: »Wahrscheinlich wären diese Entwicklungen noch krasser ausgefallen, hätten wir diese Nachverdichtung in der Stadtplanung nicht gehabt.«

Wenn so die 15-Minuten-Stadt praktisch aussieht – ein dichtes Wohngebiet mit Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten, mit wenig Autoverkehr und guter ÖPNV-Anbindung – dann wäre es nicht nur Marketing, den neuen Stadtteil in Mönchengladbach so zu nennen. Die »Seestadt« liegt nah am Hauptbahnhof, damit ist der ÖPNV direkt in der Nähe. Der Stadtteil ist als Mischquartier gedacht, neben den Wohnungen entstehen also auch 2000 Büroarbeitsplätze und mit dem See gleich ein Naherholungsgebiet. Und ein Mobilitätskonzept soll dafür sorgen, dass Autos und Motorräder draußen bleiben. »Autos dürfen nur in der Tiefgarage parken, damit eben nicht der private Pkw ständig in der Straße steht«, sagt der Oberbürgermeister Felix Heinrichs. Für die rund 2000 Wohnungen sind laut Investor etwa 1400 Garagenstellplätze eingeplant – also 0,7 Stellplätze pro Wohneinheit.

Ist die Frage, wie das aufgeht. Denn für eine konsequente Abkehr vom Individualverkehr braucht es auch Sharing-Alternativen. Doch in Städten, die keine Metropolen sind, auch in kleineren Großstädten wie Mönchengladbach, sind diese noch nicht etabliert. »Wir merken, dass Carsharing hier noch nicht die nötige Nachfrage hat, damit das für Anbieter funktionieren würde«, sagt Heinrichs.

Und die »Seestadt« ist auch nur das Aushängeschild der Stadt. Neue Siedlungsflächen in den Randbereichen gibt es trotzdem. »Die Einfamilienhäuser dort werden uns quasi aus den Händen gerissen«, beobachtet Heinrichs. Ein Symptom der jüngsten Suburbanisierungswelle.

Der Trend geht in die andere Richtung

Dieser Trend ist womöglich stärker als die Idee von der verdichteten 15-Minuten-Stadt, spätestens seit Corona: In die Vorstadt oder aufs Land zu ziehen, ist mit Homeoffice gut möglich. Der ausgereizte Wohnungsmarkt und horrende Mieten in den Städten machen das oft unausweichlich. Nicht zuletzt wird es immer schwerer, in den guten Lagen noch Flächen zur Nachverdichtung zu finden. »Heute besteht ein großes Risiko, dass sich die Erfolge der Vergangenheit umkehren«, sagt Gertz.

Damit die Wege trotzdem nicht wieder länger werden, bräuchte es noch viel mehr. Wenn etwa Unternehmen in ein Gebiet ziehen, dann könnten sie sich dort mit den Wohnungsbaugesellschaften zusammentun, um ihren Mitarbeitenden nahe gelegenen Wohnraum anzubieten. Noch mehr Verdichtung wäre möglich, wenn Senioren in kleinere Häuser oder Wohnungen ziehen, nachdem die Kinder aus dem Haus sind – wenn sie denn etwas finden oder überhaupt umziehen wollen. Und schließlich könne es eine »Stadt der kurzen Wege« nicht ohne eine »Stadt der geringen Geschwindigkeiten« geben, meint Gertz: Denn wenn man in 15 Minuten weiter kommt, werden die Wege wieder länger. Praktisch hieße das mehr Tempo 30 in den Städten .

Das zeigt, was das Dilemma des 15-Minuten-Konzepts ist: Es lässt sich nicht einfach verordnen. Wie gut es funktioniert, das hängt von vielen Einzelentscheidungen ab, von Händlern, von Unternehmen, von Stadtverwaltungen, vom Gesetzgeber. Und von Einzelpersonen. »Insofern lassen sich nur die Bedingungen schaffen, damit Menschen mit kurzen Wegen im Alltag klarkommen«, sagt Gertz. »Ob sie dann tatsächlich das Auto stehen lassen, das steht auf einem anderen Blatt.«

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