In der Debatte um die Bauakademie in Berlin werden überholte Positionen aufgewärmt. Die Rekonstruktion von Schinkels Bau wäre ein starkes Zeichen für die Zukunft.
FAZ vom 14.01.2023 von Uta Hassler und Christoph Rauhut

Karl Friedrich Schinkels 1832 bis 1836 errichtete Bauakademie war ein Versuchs- und Demonstrationsbau: frühes Manifest einer im 19. Jahrhundert neu zu gründenden Wissenschaft des Bauens und Konstruierens. Als Programmbau der Aufklärung in den technischen Wissenschaften ist er nur vergleichbar mit Heinrich Hübschs zeitgleich errichtetem Karlsruher Polytechnikum, jenes freilich dezidiert in der französisch geprägten polytechnischen Tradition. Schinkels Bau stand für "rationale" Konstruktion: Noch nicht der modernen Ingenieurstatik zugänglich, aber abgesichert durch Tradition und Vergleich, erwuchs aus der Rekombination regionaler Baumaterialien und durch Aneignung und Anpassung konstruktiver Prinzipien ein Gebäude, dessen Ambition und Eleganz überzeugte. Auch deshalb war Schinkels Bauakademie wirkmächtig als Start- und Lehrgebäude für eine neu etablierte Berliner Architektenausbildung, eine "allgemeine Bauschule ".

Der Bau verdeutlichte das neu gewonnene entwicklungsgeschichtliche Denken und illustrierte die Verknüpfung der Themen neuer Technik mit naturgeschichtlichen Bildprogrammen: "Architektur als Kunst", aber auch "Architektur als Wissenschaft und Technik". Der Architekt folgte dem Wunsch nach Tageslicht mit großen Fensteröffnungen und demonstrierte die Möglichkeiten der Überwölbung von Sälen durch flach gekrümmte Kappen auf Stützen. Die Verwendung von Backstein und Terrakotta erlaubte einen Gliederbau, der filigrane Details in eine monumentale Großform zwang.

Die Geschichtskonstruktion der Moderne hat die Bauakademie vor allem als Referenzbau für das neue Ideal eines geometrischen Kubus verstanden. Auch die späte DDR hatte bereits überlegt, die Bauakademie nur in der Außenform zu zeigen - im Innern "modern". Die aktuelle Debatte über eine Wiedererrichtung des in der DDR-Zeit verlorenen Baus konzentriert sich nun wieder nicht auf das Verstehen des großartigen Erbes früher Bauwissenschaft , sondern wiederholt längst geschichtlich gewordene Diskurslinien einer Ideologie aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie schaut wieder nur auf die verlorene Außenform - und möchte die Partitur des verlorenen Schinkelbaus heutigem Fortschrittsverständnis anpassen, sie "modernisieren".

Zu fragen ist deshalb, ob für die Demonstration gegenwärtiger Fortschrittshoffnung die verlorene Bauakademie als Muster dienen darf - und warum eine so spät begonnene Debatte über das Für und Wider einer Rekonstruktion des Schinkelbaus sich in überholte Positionen verirrt.

Um mit der zweiten Frage zu beginnen, muss man sich die spezifisch deutsche Erinnerungsdebatte vergegenwärtigen. Vor sechs Jahren gab Aleida Assmann in einem kleinen Band über das neue Unbehagen an unserer Erinnerungskultur einen bemerkenswerten Hinweis zu "blinden Flecken" der deutschen Debatte, die um Vergangenheit kreist, zugleich aber interpretierend, ordnend und urteilend eingreift. Assmann diskutiert unter anderem das Konzept einer "Befriedungspraxis" durch Vermeiden von Erinnerung, "kommunikatives Beschweigen", als Rahmenbedingung eines erwünschten Neubeginns. Sie erklärt mit Bezug auf Hermann Lübbe, in der direkten Nachkriegszeit sei das Vergessen nicht automatisch mit "Verdrängen" gleichgesetzt worden, sondern, im Rahmen des damals allgemein verbindlichen Fortschritts- und Modernisierungsdenkens, "mit Erneuerung und einer Öffnung zugunsten der Zukunft".

Die Denkmaldebatte des 20. Jahrhunderts zeigt vergleichbare Denkmuster: Bemühen um korrekte Überlieferung, zugleich aber auch Interpretation der Überlieferung aufgrund neu gewonnener Maßstäbe. Populäre Stimmen haben auch im konservatorischen Diskurs mit moralisch unterlegten Argumenten für die Verteidigung der Moderne als eines "inhärent fälschungssicheren", überzeitlich orientierten "guten" Neubeginns nach Jahren der Verirrung während des Dritten Reichs argumentiert. Nur wenige Konservatoren verwiesen auf den Umstand, dass eine stetige Veränderung der gebauten Umwelt unausweichlich stattfinde, eine absichtsvolle Korrektur der Geschichte also nicht sinnvoll sei, zumal Uminterpretation durch erneute Aneignung ohnehin geschehe; und dass auch die Wiederholungen historischer Vorbilder und Vorlagen immer datierbar bleiben. Alle Bauten sind Zeugnisse ihrer jeweiligen ( Bau -)Zeit - wie auch die Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses zeigt.

Überraschend ist daher die Langlebigkeit der Echoräume der Nachkriegssemantik zur Verteidigung der Moderne und ihrer Denkmuster. Bereits die Nachkriegsdebatte hatte ja ältere Konkurrenzreflexe wiederholt: Schon Debatten des beginnenden 20. Jahrhunderts richteten sich gegen ältere Netzwerke, gegen den Akademismus des 19. Jahrhunderts, gegen Wissenschaftlichkeitsansprüche der Polytechniker und neuer Bauschulen sowie gegen den opulenten Formenreichtum der Gründerzeit. Zum Kampf gegen das Ornament trat schon damals die Ablehnung des "Prinzips Rekonstruktion", ein Leitbild, das über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg Geltung beanspruchte.

Obwohl sich in der Theoriedebatte das Tabu der Rekonstruktion hielt, kennen wir Beispiele von Wiederholungen verlorener Konstruktionen und vielfältige Neuinterpretationen historischer Bauten . Ritualisierte Reue und Glaube an das bessere Neue wurden aber bald zum Stereotyp. Auch die Bauwirtschaft fördert Kurzfristprodukte. Nicht nur die Neubauten, sondern auch die neuerdings Praxis gewordenen Nachbesserungen an den in die Jahre gekommenen Rekonstruktionen der Wiederaufbauzeit folgen unterdessen den Prinzipien der Moderne : Baukonstruktionen werden verbessert, Technikausstattungen in immer kürzeren Abständen ersetzt. Auch das immer von Neuem optimierte Geschichtszeugnis folgt also bereits einem eigenen Rhythmus von Intervention und Veränderung: ein Weg in die Kurzlebigkeit - verbunden mit entsprechenden Folgekosten - auch der vormals langfristig gedachten Konstruktionen.

Was könnte ein erneuerter "Musterbau Bauakademie " heute dennoch bewirken? Anknüpfend an ihre historische Bedeutung könnte die "neue" Bauakademie zum Demonstrationsobjekt für eine experimentelle Wiederholung des verlorenen Baus und seiner Details werden - auch als Evokation des verlorenen Ideals einer Erneuerung des Bauwesens und als Schritt zurück in die Langlebigkeit der Konstruktionen selbst. Ein zukunftsoffenes Vorhaben, nicht nur als materiell-stoffliche Übung, sondern auch der Überprüfung von Theorie und Praxis.

Wir lesen freilich, die 1836 errichtete und 1962 abgerissene Bauakademie solle als "klimagerechter Neu- und Ersatzbau" wiedererstehen. Nicht der verlorene Schinkel- Bau soll wiederholt werden, sondern eine Neuinterpretation, ein "optimiertes Geschichtszitat" entstehen. Reflexe früherer Debatten scheinen nochmals verspätet im 21. Jahrhundert auf - der Rückfall in die Denkmuster des 20. Jahrhunderts findet offenbar angesichts der Klimakrise seine Rechtfertigung. Andreas Kilb hat in der F.A.Z. vom 20. Oktober 2022 den "Lobbyismus im ökologischen Kostüm" als Scheindebatte demaskiert: Man verlangt nach Klimaschutz und möchte ständische Interessen verfolgt sehen. Offenbar will man den Schinkelbau und seine Stellung in der Geschichte nicht verstehen. Die Bauakademie war im 19. Jahrhundert ein Manifest - für rationale Baukonstruktion , neue Materialwissenschaft, Verknüpfung von Theorie und Praxis. Sie führte Künste, Handwerk und Wissenschaft zusammen, sie begründet und illustriert die aufgeklärte Bauwissenschaft .

Sollten wir also nicht viel intensiver als bisher über Schinkel, seinen Bau (und dessen Rang in der Baugeschichte ), dessen (vermutlich noch gar nicht verstandenen) Bauprozess , die unterschiedlichen Positionen der Bauforschung am verlorenen Gebäude und die Bauwissenschaft mit ihren Möglichkeiten und Theorien diskutieren? Müssten nicht die denkbare Genauigkeit einer konstruktiven Wiederholung bei einem bauarchäologischen Demonstrationsvorhaben Thema sein? Warum sollte man einen nur kubaturgleichen Bau - ob mit oder ohne historisch anmutende Fassaden - überhaupt neu errichten?

In einem Beitrag über die postkoloniale Debatte hat Egon Flaig jüngst (F.A.Z. vom 11. Oktober) einen wichtigen Aspekt zu den Blickverzerrungen auf das 19. Jahrhundert genannt. Flaig verweist auf Maßstäbe, "die wir nicht hätten, wenn die vergangenen Epochen sie nicht historisch geschaffen hätten, nämlich als Erbe für uns". Die Verteidigung der Moderne darf man also künftig gerne Konservatoren überlassen - sie werden sich weiterhin mit großer Sorgfalt und Fürsorge um die vergänglichen Kultobjekte bemühen. Für die Architekten steht freilich eine andere Aufgabe an - sie müssten das Bauen in eine neue Zeit hinein entwickeln, eine Zeit, in der die Artefakte wieder haltbar, die Systeme reparaturfähig und potentiell langfristig sein können. Das Wissen der Aufbruchszeit der Schinkel-Ära kann hierfür als Pate dienen: Damals dachte man an Dauer, an Materialkenntnis, an eine Neuerfindung und Erneuerung konstruktiver Theorien. Auch hierfür könnte die Bauakademie als Versuchs-(Rekonstruktions-) bau in Zukunft stehen.

Uta Hassler war bis 2015 Leiterin des Instituts für Denkmalpflege und Bauforschung der ETH Zürich. Christoph Rauhut ist amtierender Landeskonservator von Berlin .

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