Berliner laut Studie deutlich autofreundlicher als andere Europäer
Tagesspiegel vom 14.01.2023 von Julius Betschka

Die Berliner sehen den Verzicht auf Autos und den Rückbau entsprechender Infrastruktur besonders kritisch. Nur 30 Prozent wollen, dass die Innenstadt autofrei wird. 60 Prozent sind dafür, weiter Straßen auszubauen, weil das Auto in der Stadt unverzichtbar sei. Zugleich sind nur 37 Prozent der Menschen dafür, dass weitere Radspuren zulasten von Autofahrstreifen gebaut werden. Ähnlich hoch ist mit 40 Prozent die Zahl derer, die glauben, dass Autos zu viel Platz eingeräumt wird. Das ergab eine repräsentative Umfrage der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, die im Dezember 2022 vom Sinus-Institut in Berlin , Madrid und Sofia durchgeführt wurde. Die Ergebnisse liegen dem Tagesspiegel exklusiv vor.

Mehr Auto-Skepsis in Madrid und Sofia

Bemerkenswert ist, dass die Menschen in der spanischen Hauptstadt Madrid und der bulgarischen Hauptstadt Sofia deutlich autoskeptischer als in Berlin eingestellt sind. In Sofia wollen 72 Prozent der Befragten eine autofreie Innenstadt, in Madrid 52 Prozent. In beiden Metropolen sind jeweils mehr als 50 Prozent der Menschen für den Radwegeausbau zulasten des Autoverkehrs.

Ein Teil der Erklärung dafür könnte sich in der Antwort auf eine andere Frage finden: In Berlin halten 47 Prozent der Befragten einen weiteren Ausbau sicherer Radwege nicht für wichtig. In Madrid und Sofia sind dagegen jeweils rund 80 Prozent dafür. Das könnte auch an vielen schon in Berlin vorhandenen Radwegen liegen. Der Ausbau von Radwegen ist in der Stadt deutlich weiter als ihn Madrid und Sofia.
Laut Dirk Assmann, bei der Naumann-Stiftung Themenmanager für Innovationsräume und Urbanisierung, haben die Ergebnisse der Studie die Macher gerade im Bereich der Mobilität „sehr überrascht“. Assmann sagt: „Die Menschen in Berlin sind viel autofreundlicher als in Madrid und Sofia.“ Die Interpretation von Assmann: „Ich würde das nicht als Skepsis gegen die Verkehrswende interpretieren, sondern so, dass die Verkehrswende nur mit dem Auto funktionieren kann.“ Das Auto gehöre offenbar zur Lebensrealität der Menschen. „Es wird ja zurzeit wahnsinnig viel getan, um Autos klimafreundlicher zu machen“, sagt Assmann.

Die genauen Hintergründe für die Zahlen gibt die Umfrage aber noch nicht her. Das gibt auch Assmann zu, weitere Untersuchungen sollen folgen. Auch die unterschiedlichen Voraussetzungen im Städtebau könnten die Zahlen teils erklären: „ Berlin hat keinen einen Stadtkern, den man leicht autofrei machen könnte. Man ist einfach mehr auf das Auto angewiesen.“

Ob die Verkehrswende in Berlin aber schon weiter vorangeschritten ist und deshalb weniger Änderungswünsche bestehen oder die Menschen per se mehr am Auto hängen, müssen wohl weitere Untersuchungen zeigen. Erste Hinweise darauf gibt die Frage nach den wichtigsten Problemen in den Städten: In Sofia nennen 77 Prozent die Verkehrssituation als sehr wichtige Herausforderung. In Berlin sind es 53 Prozent, in Madrid nur 43 Prozent.

Als größte Herausforderung wird in Berlin die Wohnungsnot gesehen. 78 Prozent sehen dies als sehr wichtiges Problem. Danach folgen Kriminalität (65 Prozent), die Verkehrssituation, die Qualität der Bildungseinrichtungen (47 Prozent) und eine altmodische Verwaltung (45 Prozent). Spannend ist: Die Berliner stimmen am ehesten der Aussage zu, dass „die Verantwortlichen mit den Problemen nicht fertig werden“. 22 Prozent der Befragten sehen dies als drängendstes Problem. In Madrid und Sofia sind es jeweils acht Prozent.

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