„Kann Wegner Wirtschaft?“
Tagesspiegel vom 18.03.2023 von Alfons Frese

Herr Otto, ein in der Bauwirtschaft tätiger Unternehmer und Präsident des parteiübergreifenden Wirtschaftsclubs VBKI führt Koalitionsverhandlungen für die CDU. Ist das okay?

Otto: Wenn sich die Parteien Experten an den Verhandlungstisch holen, dann kann das nicht schaden. Bei Doppel- oder Eigeninteressen muss man selbstverständlich aufpassen, Lobbyisten sollten keinen Koalitionsvertrag aushandeln.

Herr Voigt, womit beschäftigt sich Ihr Ingenieurbüro?

Voigt: Wir sind auf Infrastruktur im Bereich Erneuerbarer Energien und Wasserwirtschaft fokussiert. Grundsätzlich haben unsere Projekte wenig zu tun mit der Arbeitsgruppe Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen, in der ich auf Einladung der CDU mitwirke. Ich sehe mich weder als Parteivertreter noch als Lobbyist, sondern ich möchte als Vertreter der Zivilgesellschaft dazu beitragen, dass mit Pragmatismus statt Ideologie regiert wird.

Welche Ziele hat die Arbeitsgruppe?

Voigt: Dinge im Vertrag festschreiben, die in dreieinhalb Jahren am Ende der Wahlperiode messbar und überprüfbar sind. Aber auch über die Legislatur hinaus schauen, ob es eine längerfristige Vision für die Stadt geben könnte. Politik funktioniert häufig nur in Wahlzyklen, deshalb ist es wichtig, politikferne Expertise einzubinden.

Otto: Die entscheidende Frage ist für mich, nach welchen Kriterien die Expertinnen und Experten ausgesucht wurden. In 13 Arbeitsgruppen ist nur eine Gewerkschafterin vertreten, und bei den wirtschaftsrelevanten Themen hätte ich mir mehr Beteiligung gewünscht.

Als Mitglied der Grünen müssen Sie das so sehen.

Otto: Als IG Metall haben wir uns um eine gute Beziehung zu allen Spitzenkandidaten bemüht, auch zu Kai Wegner. Wir haben als IG Metall angeboten, bei den Koalitionsverhandlungen als Experten zu beraten. Die industriepolitischen Herausforderungen werden immer größer, beispielsweise mit dem Fachkräftemangel.

Herr Voigt, wird Ihre AG einen Weg finden zu mehr bezahlbaren Wohnungen?

Voigt: Wenn wir nicht einen extrem schwierigen Haushalt und ein hoch verschuldetes Land Berlin hätten, dann wären Förderinstrumente für Menschen denkbar. Ich kann mir aber auch kaum vorstellen, dass wir die Wohnungsbauziele erreichen ohne zusätzliche öffentliche Mittel. Dabei geht es um Geld und um Verwaltungshandeln: die Beschleunigung von Bebauungsplanverfahren, die Einführung einer digitalen Bauakte und eines digitalen B-Plans. Das alles überragende Projekt ist die Verwaltungsreform. Vieles kommt nicht voran, weil die Aufgabenteilung zwischen Senat und Bezirken nicht geklärt ist.

Herr Otto, befürworten Sie wie Markus Voigt die Randbebauung des Tempelhofer Felds?

Otto: Das muss man in Erwägung ziehen. Der Streit um Tempelhof scheint mir sehr von Zuzüglern geprägt zu sein, die in den Innenstadtbezirken leben. Marzahn oder Köpenick haben ganz andere Probleme und teilweise eine katastrophale Infrastruktur. In Köpenick beispielsweise finden die Anwohner keine Parkplätze mehr, weil alles zugebaut wurde. Wir brauchen eine Antwort auf die Frage, die Hunderttausende umtreibt: Wie bleibt Miete bezahlbar?

Voigt: Das Thema Tempelhof ist emotional aufgeladen. Auch, weil immer wieder Behauptungen aufgestellt wurden und werden, die nicht zutreffen. Es geht um eine Randbebauung. Berlin wächst auf vier Millionen Einwohner zu, und wir müssen diese Stadt sozial zusammenhalten, dazu gehören Wohnungen. Der Krieg in der Ukraine hat die Rahmenbedingungen jedoch komplett verändert, der Zins für eine zehnjährige Immobilienfinanzierung ist heute viermal so hoch wie vor einem Jahr. Die Preise für Rohstoffe und Baumaterialien sind massiv gestiegen. Bei einem Durchschnittsprojekt mit einem Durchschnittsstandard brauchen sie inzwischen als Bauherr eine Nettomiete kalt von mindestens 16 Euro den Quadratmeter.

Das kann kaum jemand zahlen.

Voigt: Ja. Und ich weiß nicht, wie wir aus dem Dilemma ohne eine zusätzliche staatliche Förderung rauskommen können. Das sind die Herausforderungen, vor denen die Stadt steht. Und das packen wir nur gemeinsam, zum Beispiel mit der Fortsetzung des Bündnis für Wohnen. Der Mietendeckel dagegen wurde eingeführt, ohne sich mit Fachleuten und Juristen vernünftig beraten zu haben. Das meine ich mit ideologiegetriebener Politik, die uns nicht weiterbringt.

Otto: Ich werbe für eine pragmatische, lösungsorientierte Politik. Die ist möglich in einer progressiven, linken Stadt – das ist Berlin ja auch noch nach der Wiederholungswahl und den 28 Prozent für die CDU. Beim sozialen Wohnungsbau müssen wir einen anderen Anspruch haben als andere Städte – im Übrigen auch für die Arbeitskräfte, die wir brauchen. Wohnen ist Daseinsvorsorge, deshalb kriegen wir das ohne staatliches Engagement nicht hin. Der Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ hat macht deshalb auch seine Berechtigung.

Gilt das ebenso für den Klimaentscheid am 26. März?

Otto: Klimaneutralität wollen wir mit größtmöglicher Geschwindigkeit und gleichzeitig mit Bedacht erreichen. Man darf bei Volksentscheiden nicht übertreiben, indem unrealistische Erwartungen geweckt werden. Es ist zum Beispiel unmöglich, 2030 nur noch elektrische Autos durch die Stadt fahren zu lassen.

Herr Voigt, bekommen wir Schwung in die Energiewende, zumal in die Wärmewende, wenn das Land Berlin die Fernwärme und die Mehrheit an der Gasag übernimmt?

Voigt: Im Sinne der Daseinsvorsorge kann man das diskutieren. Es gibt landeseigene Unternehmen im Bereich der Daseinsvorsorge, und eine Zusammenfassung von relevanten energiewirtschaftlichen Betrieben oder Leistungen kann Synergien bringen. Ich würde das also nicht von vornherein ablehnen, aber mit der Fernwärme und der Gasag muss dann auch Schluss sein. Die Diskussion über die Vergesellschaftung von Wohnungskonzernen beschädigt Vertrauen ebenso wie die Haltung, der Staat könne willkürlich diese oder jene Aufgabe übernehmen. Ohne private Investoren kommen wir nicht voran.

Otto: Das halte ich für Unsinn. Es gibt keinen Vertrauensschaden. Die Leute kommen weiter in die Stadt und die Investoren auch; Berlin wird wachsen. Gleichzeitig verschärft sich der Fachkräftemangel. Die vom alten Senat beschlossene Ausbildungsumlage ist unverzichtbar. Wir werden den neuen Senat diesmal anders begleiten. Bei der letzten Koalition haben wir den Fehler gemacht, den Senat in den ersten zehn Monaten überhaupt nicht zu kritisieren. Das passiert uns dieses Mal nicht.

Das klingt nach großem Misstrauen gegenüber Schwarz-Rot.

Otto: Mit Kai Wegner kann ich mich gut und verbindlich austauschen. Die Frage ist aber, ob wir einen Konsens finden bei wichtigen Themen, dazu gehört neben der Ausbildungsumlage auch die Tariftreue bei öffentlichen Aufträgen und eine aktive Industriepolitik.

Versteht Wegner Wirtschaft?

Otto: Ja. Und er ist engagiert. Als wir den Konflikt bei Mercedes in Marienfelde hatten und die Zukunft des Werks auf der Kippe stand, da war Kai Wegner einer der ersten Politiker, der sich nach dem Stand der Dinge erkundigt hat und Zustimmung zusagte.

Voigt: Kai Wegner gehört zu den am meisten unterschätzten Politikern der Stadt, was sich auch in den Sondierungsgesprächen gezeigt hat, die mit großem diplomatischen Geschick geführt wurden. Er arbeitet sich intensiv in jedes Thema ein und ist in allen Bevölkerungsschichten gut verdrahtet.

Warum sind Sie nicht Mitglied der CDU?

Voigt: Das passt nicht mit meinem Ehrenamt zusammen. Grundsätzlich bin ich liberal und bemühe mich als VBKI-Präsident um ein gutes Verhältnis zu allen demokratischen Parteien.

Otto: Ich teile die Einschätzung, dass Kai Wegner unterschätzt wird. Aber ob es die bestmögliche Koalition für das progressive Berlin ist? Warten wir es ab. Der SPD geht es eben nicht um die Stadt, sondern um Posten und Macht, zumindest wirkt es so. Über schwarz-grün wurde in meinen Augen nicht ausreichend diskutiert.

Mit weiteren ideologisch geprägten Auseinandersetzungen um die Friedrichstraße und die A100?

Voigt: Die Friedrichstraße ist nun wirklich kein entscheidendes Thema, und es sieht im Übrigen fürchterlich aus, was dort im gesamten Umfeld an Schildern aufgestellt wurde.

Otto: Bettina Jarasch hat für ein integriertes Verkehrskonzept geworben. Dazu gehören ein einigermaßen sicherer Radverkehr und eine Straßeninfrastruktur, die auch der Wirtschaft den nötigen Raum gibt. Als IG Metall-Chef ist klar, dass wir nicht allein von Digitalwirtschaft leben, sondern wir brauchen produzierendes Gewerbe und Handwerk: Ich möchte, dass in dieser Stadt auch zukünftig Autos und Motorräder gebaut werden. Dafür müssen wir prüfen, welche Logistik hierfür erforderlich ist.

Welche Verwaltung ist die wichtigste im neuen Senat?

Voigt: Finanzen.

Otto: Für mich ist entscheidend, ob der Regierende Bürgermeister die wichtigsten Themen nach vorne setzt. Wirtschaft und Industrie müssen in Berlin wieder Chefsache werden, wie das unter Michael Müller der Fall war.

Das Gespräch moderierte Alfons Frese.

Markus Voigt, der Präsident des VBKI (links) und Jan Otto, Erster Bevollmächtigter der IG Metall in Berlin , vor dem Gespräch mit dem Tagesspiegel.

Jan Otto argumentiert, Berlin müsse beim sozialen Wohnungsbau einen besonderen Anspruch haben.

Jan Otto von der IG Metall (links) und Markus Voigt vom VBKI trafen sich diese Woche im Ludwig Erhard Haus in Charlottenburg.

Markus Voigt meint, Kai Wegner gehöre „zu den am meisten unterschätzten Politikern der Stadt“.

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Jan Otto
Jan Otto, 42 Jahre, hatte zunächst eine Ausbildung zum Lokführer bei der Deutschen Bahn begonnen. Seine Gewerkschaftskarriere begann er bei der Eisenbahnergewerkschaft EVG. Seit September 2020 ist Otto der Erste Bevollmächtigte und Geschäftsführer der IG Metall Berlin. Die Industriegewerkschaft gilt mit 2,26 Millionen Mitgliedern bundesweit als die größte freie Gewerkschaft der Welt. In Berlin vertritt sie fast 35.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Otto ist Parteimitglied bei den Grünen.

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Markus Voigt
Markus Voigt, 56, ist Inhaber eines Bauingenieurbüros Voigt Ingenieure und seit zwölf Jahren Präsident des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI). In dieser Rolle gilt er als eine der einflussreichsten Stimmen der lokalen Wirtschaft in Berlin und Brandenburg. Der VBKI, gegründet 1879, zählt 2300 Mitglieder, das sind in der Regel Inhaber oder Mitglieder der Geschäftsführungen. In Ausschüssen und Arbeitskreisen erarbeiten sie Konzepte und Positionen. Der VBKI kanalisiert auch das bürgerschaftliche und soziale Engagement der Mitglieder und richtet traditionell den „Ball der Wirtschaft“ aus, die größte gesellschaftliche Veranstaltung dieser Art in Berlin, diesmal am 20. Mai. Voigt besitzt kein Parteibuch, berät in den Koalitionsverhandlungen aber die CDU.

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