Morgenpost vom 26.03.2023 von Julian Würzer

Mit einem Zettel fängt es an. Hans Kollhoff legt seine Hand an den goldenen Griff der Drehtür, schiebt sie an und tritt in das Gebäude am Potsdamer Platz, das er vor vielen Jahren entworfen hat. Hinter der Glasscheibe im Foyer bietet sich ein stummes Schauspiel. Auf der einen Seite der Stararchitekt, mit einer Zeitung und einem Tablet unter dem Arm, mit der anderen Hand wild gestikulierend. Ihm gegenüber eine Empfangsdame.

Nach Minuten richtet Kollhoff seinen Zeigefinger auf das Papier im Fenster: „Brookfield“ steht dort in dicken schwarzen Lettern . Die untere Hälfte lässt erahnen, das Blatt hängt schon länger dort – mit Tesafilm festgeklebt. Einige Sekunden starren beide auf den Zettel. Dann hebt Kollhoff zum Abschied seine Hand. Wahrscheinlich hat er sich darüber beschwert, wie schrecklich das aussieht. Dem Ort nicht angemessen. Zu provinziell. Lieblos.

Mit einem genugtuenden Lächeln sagt Kollhoff: „Die Dame war sehr freundlich.“ Aber mit Zetteln fange es an. Dann komme irgendwann der erste Verkauf, dann der zweite. Eines Tages der dritte. „Am Ende geht es nur noch um die Grundstücke.“ Es klingt hart, für nette Worte ist Kollhoff nicht bekannt.

Der Potsdamer Platz erlebte Berlin mit all seinen Facetten. In der Weimarer Republik galt er als Inbegriff der Goldenen Zwanziger. Er war nicht nur innerstädtisch an das Tiergartenviertel, die Top-Adresse für Künstler und Galeristen, angebunden. Der Potsdamer Platz war einer der größten Verkehrsknoten Europas. Züge liefen in dem Fernbahnhof ein, Menschen mit Koffern stiegen aus, strömten über den Platz. Alte Bilder zeigen die Menschen inmitten von Doppeldeckerbussen, die auf der Straße mit Autos und Straßenbahn kreuzen. Am 15. Dezember 1924 ordnete die erste Ampel Deutschlands das Chaos auf dem Platz. Rundherum zierten Leuchtreklamen die Gebäude und das Erscheinungsbild des pulsierenden Herzens Berlins . Im Haus Vaterland, das im Erdgeschoß das Café Piccadilly beherbergte, vergnügten sich Besucher, ebenso wie im Weinhaus Huth, das heute noch als einer der letzten Bauten der damaligen Zeit steht. „Es klingt, als ob die Großstadt stöhnt, weil irgendwer sie schilt. Die Häuser funkeln. Die U-Bahn dröhnt“, beschrieb Erich Kästner 1929 den Potsdamer Platz in „Besuch vom Lande“.

Von Glanz und Leben liest man nicht mehr viel, im Gegenteil. Große deutsche Tageszeitungen arbeiten sich seit Jahren an dem Platz ab. Von leblos und seelenlos ist die Rede. In einem Gastbeitrag des französischen Chansonniers Christophe Bourdoiseau in der „Süddeutschen Zeitung“ heißt es, der Potsdamer Platz habe seinen ursprünglichen Charakter als Amüsierviertel nie wieder gefunden . Ein Feuilletonist der „FAZ“ bescheinigte dem Platz erst neulich eine traurige „Wahrheit“. Er sei nicht mehr als eine Straßenkreuzung mitten in Berlin . Nicht einmal bei der Berlinale sei es so voll, dass es eng werde.

Doch in diesen Tagen herrscht Aufbruchsstimmung. Im Sony Center laufen Umbauarbeiten, die Komödie am Kurfürstendamm zieht vorübergehend hierher, in den Potsdamer Platz Arkaden hat erst kürzlich der größte Food-Tempel Europas eröffnet. Den Platz noch als leblos zu bezeichnen, zeugt zumindest von wenig Ortskenntnis. Erlebt das künstliche Herz Berlins eine Renaissance?

Todesstreifen und Brache: Der Potsdamer Platz vor dem Mauerfall

Als Kollhoff den Potsdamer Platz zum ersten Mal mit eigenen Augen sah, hätte er sicherlich mit einem Ja geantwortet. Damals trennte die Mauer Deutschland, sie trennte Berlin, und sie trennte den Potsdamer Platz. Dort, wo heute der Bahntower mit 103 Metern neben dem Kollhoff-Tower mit ebenfalls 103 Metern über die Stadt ragt, war Niemandsland, eine Brache. Der Todesstreifen nahm Auswüchse von mehreren Hundert Metern an. Unter der Erde fuhr die U-Bahn durch einen Geisterbahnhof. Grenzsoldaten patrouillierten, Zugänge in den Untergrund waren zugeschweißt oder vermauert. „Er war mit seiner Leere und seiner Trostlosigkeit ein faszinierender Ort“, so Kollhoff. Zu dieser Zeit kannten Architekten vor allem eines: sozialen Wohnungsbau. Schlafzimmer nach Norm. Länge 3,2 Meter, Platz für ein Ehebett, rechts und links Nachttische und gegenüber ein Kleiderschrank. „Das war die architektonische Welt vor der Wende“, erzählt Kollhoff. Dann kam der 9. November 1989. Und es ergaben sich auf einmal Chancen für Architekten und Stadtplaner. Was macht man mit dem Leipziger Platz, dem Potsdamer Platz und der Friedrichstraße ?

Es gab Menschen, die den historischen Moment erkannten. Sony und Daimler-Benz kauften Teile des Areals. Edzard Reuter, ehemaliger Daimler-Chef und Sohn des früheren Berliner Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter, soll damals gesagt haben: „Hier müssen wir was Tolles machen.“ Reuter sowie andere Investoren träumten – manche gar von Hochhäusern wie in New York. Sie wollten ein sichtbares Zeichen an die Welt senden, das förmlich schreit: Schaut, was wir in Deutschland und in Berlin können.

Doch sie machten ihre Rechnung ohne die Berliner. Gerhard Hoya, Architekt und Bauingenieur, erinnert sich noch gut an diese Zeit Anfang der 1990er-Jahre, als der Berliner Senat den Ideenwettbewerb für den Potsdamer Platz auslotete. „Viele wollten keine höheren Gebäude als die Traufhöhe von 22 Metern“, sagt er. Am Ende gewann ein Entwurf der Münchner Architekten Heinz Hilmer und Christoph Sattler. Er sah einen Kompromiss von 35 Metern vor. Daimler-Benz nannte das enttäuschend. Es war die Rede von „irgendwo zwischen Berlin und Posemuckel“.

Daimler-Benz und auch Sony richteten aber auch selbst städtebauliche Wettbewerbe aus. Am Ende gewann für das Daimler-Areal, das unter anderen das Haus Huth umfasst, der Stararchitekt Renzo Piano. Er orientierte sich an der Höhe, aber zum Platz hin wurden die Gebäude größer. Eine Akzentuierung. „Aus Wüste wird Metropolis“ titelte damals die Zeitung „taz“.

„Piano war ein liberaler Mensch, er fragte uns, mit welchem Material wir bauen wollen“, erinnert sich Architekt Kollhoff. Doch unter den Architekten sei keine Einigkeit herzustellen gewesen, der eine wollte Glas, der andere Steine. Da schlug der Chef selbst Backstein vor. Kollhoff zeigt auf sein Gebäude: „Das war meine Interpretation.“ Er schwenkt seinen Arm auf den Tower. Für Renzo Piano waren es Terrakottaplatten.

Fragt man den Architekten heute, ob der Potsdamer Platz ein seelenloser Ort sei, antwortet Kollhoff: „Man muss hier nichts retten.“ Es gebe andere Orte, wo das nötig sei, etwa die Friedrichstraße. „Der Potsdamer Platz ist, bei aller Kritik, die man anbringen kann, lebendig. Er hat einen großen Atem und ist ein großstädtischer Ort. Er ist nicht piefig. Er ist heute nicht mehr möglich.“ Bei einem Spaziergang um seinen Turm erinnert Kollhoff aber zwischenzeitlich an die wohl bekannteste Szene aus dem Film „Himmel über Berlin “ (1987), die auf dem brachliegenden Potsdamer Platz entstanden ist. Der Erzähler Homer schlurft im Film schwerfällig an einem Stock über das Land . „Das kann er nicht sein“, sagt er immer wieder. Er findet das Tabakgeschäft nicht mehr, vermisst die Straßenbahn, die Omnibusse. „Aber ich gebe so lange nicht auf, bis ich den Potsdamer Platz gefunden habe.“ Erschöpft schlurft Homer dann weiter zu einem Sessel und lässt sich nieder.

Kollhoff lässt sich nicht nieder. Während er über den Platz läuft, beklagt er den Leerstand, die E-Scooter, eine Bank vor einer Burgerkette, den Eingangsbogen an der Varian-Fry-Straße, ein Plakat zum Klimaentscheid, das schief hängt, den Zettel „Brookfield“ und den Schriftzug der Mall of Berlin am Leipziger Platz. „Das ist so provinziell“, sagt er. Aber der Potsdamer Platz sei ein Ort, wo Berlin genau das nicht mehr sei.

Täglich strömen rund 100.000 Menschen in die Büros und Restaurants am Potsdamer Platz. An der rekonstruierten Verkehrsuhr vor dem S-Bahn-Eingang sammeln sich Schulklassen oder Gruppen von Touristen ähnlich wie auf der anderen Seite der Kreuzung an dem mit Kaugummi bestückten Teil der Berliner Mauer.

Nach 18 Uhr wird die Gegend in Mitte leblos

Nach 18 Uhr leert sich die Gegend, dann wird der Platz leblos. „Spätabends ist nicht mehr viel los“, konstatierte eine Berliner Stadtplanerin schon vor vielen Jahren. Anders sieht das Inan Sas (50). Seit 20 Jahren arbeitet der Gastronom im Restaurant Corroboree im Sony Center, neben dem Lindenbräu. Auf der Speisekarte stehen Rumpsteak, vegane Gerichte, Kängurufleisch oder Alligator. Anfang des Jahres platzte eine Leitung im Gebäude, Wasserschaden. Seitdem ist das Restaurant geschlossen. Sas nutzt die Zeit zum Renovieren.

Er sagt zwar, „der Ausgehfaktor ist nicht mehr so gegeben“. Das war vor mehr als zehn Jahren noch anders, als etwa der Nobel-Club Felix im Hotel Adlon bis zum Potsdamer Platz ausstrahlte oder im Billy Wilder’s im Sony Center Cocktails ausgeschenkt wurden. Doch nach wie vor habe er viele Gäste, die umliegende Kinos besuchten oder zu einer Abendveranstaltung in der Stadt seien. Auch Anwohner im Sony Center besuchen laut Sas sein Restaurant gern. Und dann gibt es noch die Angestellten, die in den Läden und Unternehmen am Sony Center arbeiten. „Es sind diese vielen Menschen, die dem Standort eine Seele geben“, sagt er.

Ein Tag im Jahr 2023 am Potsdamer Platz: Es regnet so heftig – als würden Eimer über den Köpfen ausgeschüttet. Vor dem Eingang zur Spielhalle Berlin neben den Potsdamer Platz Arkaden rauchen junge Menschen dicht an dicht Zigaretten. Die Spielhalle im zweiten Stock verspricht, altbekannte Spiele mit Neuem zu vermischen. So kann man etwa Pac-Man auf einer Riesenleinwand spielen oder mit einer Joystick-Kanone „Angry Birds“.

Am Ende können Gäste sich ihre Gewinne auszahlen lassen – in Form von Plüschtieren oder Bügeleisen. Mithalten mit jenen in Südkorea können sie nicht. Dennoch scheint das Angebot einen Zeitgeist getroffen zu haben. Der Abend erinnert an ein Fitnessstudio – um 18 Uhr. Keine Station, an der Besucher nicht anstehen. Es ist ein Ort, an dem sich nicht nur Touristen sammeln, sondern auch Berliner . Also doch ein Stück urbanes Leben.

Die Leere oder Kälte, die Berliner am Potsdamer Platz empfinden, hat einen Grund – sie diskutierten damals zwar mit, waren hier seit der Neubebauung in den 1990er-Jahren aber nie heimisch. Es gibt Wohnungen etwa im Sony Center – laut Sas sogar Mieter, die seit Jahren dort wohnen –, doch leisten können sich das nur wohlhabende Menschen. 63 Quadratmeter für 2550 Euro warm oder 132 Quadratmeter zum Kaufpreis von mehr als 1,4 Millionen Euro werden derzeit angeboten.

„Am Potsdamer Platz ist das Wohnen zu kurz gekommen“, sagt Kollhoff. Aber der Leerstand in den Büros sei hier eine Chance. Man könnte sie umbauen, gleichzeitig die Brache im Westen des Platzes mit Neubauten auffüllen, so der Architekt. Es könnte so etwas wie das neue Tiergartenviertel entstehen. Prägnant, eine erste Adresse in Berlin.

Spielhalle, Foodhub , Komödie am Kurfürstendamm – wie wertvoll den Berlinern der Potsdamer Platz ist, zeigt der Umbau der Alten Potsdamer Straße, die am Kollhoff-Tower vorbeiführt. Mehr Bäume sollen gepflanzt werden, Autos sind künftig tabu, nur noch Fußgänger und Radfahrer sind willkommen. Kollhoff tritt an den hölzernen Bauzaun heran und blickt durch einen Spalt. „Ich glaube, hier wird eine Fahrradrennstrecke gebaut“, sagt er schmunzelnd, aber mit gewisser Ernsthaftigkeit.

Wozu solche Experimente führen können, ist nur wenige Hundert Meter entfernt zu beobachten: an der Friedrichstraße , dem Symbol grüner Verkehrspolitik . Die Straße, die die Grünen-Spitzenkandidatin und Verkehrssenatorin Bettina Jarasch noch kurz vor der Wiederholungswahl für den Autoverkehr sperren ließ und die seitdem halb verlassen zwischen Potsdamer Platz und Unter den Linden liegt. „So geht weder Städtebau noch Verkehrsplanung “, sagt Kollhoff.

Die Friedrichstraße sei nie eine Shoppingmeile gewesen, sondern eine Vergnügungsstraße. Darin müsse die Politik die Geschäftsinhaber und Anlieger unterstützen. „Man muss davon wegkommen, in Shoppingcenter-Kategorien zu denken“, sagt er. Über die Jahre würden dann auch die Mieten sinken, so der Architekt. Und es könnten sich hochwertigere Restaurants an der Friedrichstraße ansiedeln. „Dazu braucht es aber wohl noch ein oder zwei Krisen.“

Kollhoff ist mittlerweile 76 Jahre alt. Noch fährt er von Italien nach Berlin oder in die Niederlande, er entwirft und zeichnet. Seine Ideen werden auf der halben Welt realisiert. Dennoch gewinnt man bei dem gemeinsamen Rundgang den Eindruck, er fürchtet um sein Erbe – um den Kollhoff-Tower auf dem Potsdamer Platz.

Der Zettel hängt noch immer dort. Seit der Eröffnung wurde das Areal zweimal verkauft. Was heute Brookfield ist, war zuerst Daimler, dann die schwedische SEB-Bank . Kollhoff sagt mit wehmütiger Stimme, bei Daimler habe er gewusst, mit wem er sprechen konnte. „Nun weiß ich nicht einmal, ob es einen Herrn Brookfield gibt oder mal gegeben hat.“

Einen Herrn Brookfield gab es nie. Das Unternehmen entstand vor mehr als 100 Jahren in Kanada. Mittlerweile operiert es weltweit. In dem Portfolio stehen 700 Gebäude – Hochhäuser, Logistikzentren und Shoppingmalls. Die bekanntesten sind sicherlich das New York Times Building und der Kollhoff-Tower. Mit ihnen macht das Unternehmen teilweise Milliardengeschäfte. „Ich hoffe, sie ruinieren es nicht dabei.“

Es klingt, als ob die Großstadt stöhnt, weil irgendwer sie schilt. Die Häuser funkeln. Die U-Bahn dröhnt.

Erich Kästner  über den Potsdamer Platz 1929

Nun weiß ich nicht einmal, ob es einen Herr Brookfield gibt oder gegeben hat.

Hans Kollhoff, Architekt des Kollhoff-Towers am Potsdamer Platz