In Berlin haben sich CDU und SPD auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Bei der Vorstellung des Papiers stand der Begriff „Augenhöhe“ im Vordergrund. Eine erste Analyse.
Berliner Zeitung vom 03.04.2023

Es sind Kleinigkeiten, Beobachtungen, Eindrücke, die von diesem Tag bleiben. Am Montagvormittag haben CDU und SPD zur Präsentation ihres Koalitionsvertrags das nagelneue Rahel-Hirsch-Center in der Charité gewählt, einen Ort für translationale Medizin. Grob gesagt geht es dabei um die Umsetzung von Forschungsergebnissen aus Medizin, Gesundheitswissenschaften und Gesundheitsversorgung. Aber auch ein Ort für Politik? Oder einer mit Hintersinn? Schließlich befindet sich der Eingang zur Notaufnahme gleich auf der anderen Seite des Charité-Bettenhauses.

Erfolg oder Notaufnahme? Manchmal lässt die Wortwahl erahnen, wo es langgehen könnte. Als sie also ihren 130-seitigen Koalitionsvertrag vorstellen, duzen sich Kai Wegner und Franziska Giffey. Zum ersten Mal in der Öffentlichkeit. Klar, Kai Wegner duzt auch etliche Grünen-Politiker – aber Franziska Giffey? Das blieb bis zuletzt offen.

Und Franziska Giffey? Ihre Abneigung gegen die bisherige Koalitionspartnerin Bettina Jarasch von den Grünen ist legendär – ebenso wie ihre Zuneigung zu den Linken Klaus Lederer oder Katja Kipping. Nun sagt Giffey nach links gewandt: „lieber Kai“. CDU-Generalsekretär Stefan Evers an ihrer rechten Seite, Chefverhandler und so etwas wie das Mastermind der Berliner CDU, bleibt „Herr Evers“.

Beide Partner erhalten je fünf Senatorenposten – obwohl die CDU haushoch gewonnen hat Doch was bedeutet das? Möglicherweise nicht viel mehr als die Ouvertüre zu einem Rollenspiel. Ganz oben, „auf Augenhöhe“, wird geduzt. So als solle gar nicht erst der Eindruck eines Koch-Kellnerinnen-Verhältnisses entstehen. Dazu passt, dass die CDU zwar den Regierenden Bürgermeister stellt, darüber hinaus aber beide je fünf Senatsverwaltungen führen dürfen. Das ist nicht selbstverständlich angesichts des CDU-Wahlsiegs.

Ob es klug ist, wird sich wohl bereits Ende des Monats erstmals deutlich zeigen. Dann wird man wissen, ob die SPD-Spitze ihre aufmüpfige Partei für den Gang als Juniorpartnerin in eine CDU-geführte Regierung gewinnen konnte. Immerhin wäre bei einer Fortführung von Rot-Grün-Rot weiterhin das Rote Rathaus drin gewesen.

Kai Wegner und Franziska Giffey – wird das zusammen gut gehen? Jetzt also Vize von Wegner. Wird das gut gehen? In der jetzt zu Ende gehenden Koalition ärgerten sich vor allem die Grünen über die omnipräsente Regierungschefin: Franziska Überall, die das Scheinwerferlicht sucht. Als sie sich dann öffentlich mit ihrer Stellvertreterin Jarasch über alles Mögliche stritt – vor allem natürlich über die Friedrichstraße –, war Feuer unterm Dach. Das alles führte dazu, dass es vom ersten bis zum letzten Tag von Rot-Grün-Rot nie das Bild eines Giffey-Senats gab. Es war immer nur ein Nebeneinander, selten ein Miteinander.

Doch was kommt jetzt? Ein Wegner-Senat? Ein Wegner-Giffey-Senat? Ein Giffey-Wegner-Senat?

Der Berliner Wahlsieger Kai Wegner verzichtet auf breitbeiniges Auftreten Die ersten Anzeichen sprechen für ein Miteinander. So verzichtet Wegner trotz seiner fast zehn Prozentpunkte Vorsprung auf breitbeiniges Auftreten. Erstens war wohl die Befürchtung groß, trotz Wahlsieg nicht Regierungschef zu werden, worauf der SPD-Spott des „einsamen Kai“ zielte. Zweitens begegnen sich da zwei, die in ihren Parteien und Milieus oft eher Außenseiter waren – und es bis zu einem gewissen Grad noch sind. Drittens sind es zwei, die wissen, wie es ist, zu verlieren.

Wegners Weg ins Rote Rathaus verlief nicht schnurgerade. Anderthalb Jahrzehnte wirkte er weitgehend unbemerkt im Bundestag, zwischenzeitlich bereicherte er das Beauftragtenwesen um einen „Beauftragten für große Städte“ seiner Fraktion. Aus dieser Zeit drang wenig bis nichts aus der Reichstagskuppel ins nur wenige Kilometer entfernte Abgeordnetenhaus oder ins nicht viel weiter entfernte Rote Rathaus.

Dennoch versuchte er, eine große Nummer in der notorisch zerstrittenen Berliner CDU zu werden. Von seiner Homebase Spandau aus spann Wegner ein Netz, wurde zum Generalsekretär. Aber wer kennt schon einen, der noch nie Staatssekretär, Senator oder gar Minister war?

Doch der Ärger in der Berliner CDU über die zaudernde Landesvorsitzende Monika Grütters wurde immer ärger. Da trat Wegner hervor und putschte die bürgerliche Grütters beiseite. Es war das Jahr 2020. Der Plan war klar: Wegner wollte Regierender Bürgermeister werden. Würde er das Zeug dazu haben? In seinen frühen Jahren unterstützte er Rechtsausleger Heinrich Lummer. Wegner galt als piefig, ja spießig. Der Tagesspiegel nannte seinen Putsch einen Sieg des Kleingärtnertums.

Wegner und Giffey haben viel gemeinsam – auch die Abneigung durch ihre Gegner Als Kleingärtnerin, die sich vor allem den Wählerschichten in den Außenbezirken widmen mochte, präsentierte sich auch Giffey im 21er-Wahlkampf. Ihre Partei betrachtete das mal mit Schmunzeln, mal mit Entsetzen. Dass Partei- und Fraktionschef Raed Saleh ihr Gartenwerkzeug in die Hand drückte, war für viele ein Moment zum Fremdschämen. Etwas mehr großstädtische Ambition hätte es schon sein mögen. Die Innenstadt komplett den Grünen und Linken zu überlassen, machte viele fassungslos.

Spätestens ab diesem Moment fremdelten viele Berliner Sozialdemokraten mit ihrer Spitzenfrau. Als Neuköllner Bürgermeisterin war die gebürtige Brandenburgerin noch ihre einzige Option auf eine Nachfolge des grauen Michael Müller. Man war sogar bereit, ihr Engagement fürs Bauen und Autofahren hinzunehmen oder zu ignorieren.

Am Ende wurde die aus so vielen Gründen außergewöhnliche 2021er-Wahl für Giffey ein Desaster. Weil ihr Ergebnis so schlecht war, musste sie Chefin einer Koalition werden, die sie nie wollte.

Giffeys 21er-Ergebnis hat übrigens eine Parallele zu Wegner. Auch für die Berliner CDU und ihren Spitzenkandidaten endete der Urnengang in einer Niederlage. Hauptgrund war der Bundestrend. Da in Berlin am selben Tag gewählt wurde, hatte die hauptstädtische CDU keine Chance gegen den Trend.

Wegners Zeit als Baupolitiker im Bundestag hat ihm in Berlin bisher eher geschadet als genützt Das war ganz praktisch für Kai Wegner, blieb dadurch doch sein eigenes Wirken im Bundestag im Nebulösen. Wegner war am Ende baupolitischer Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion. Das fiel in die Zeit, in der CDU und CSU Sturm liefen gegen den Mietendeckel, den Rot-Grün-Rot in Berlin ersonnen hatte, um Mieter vor Mieterhöhungen und Verdrängung zu schützen. Die Union ging nach Karlsruhe, wo das Gesetz gekippt wurde. Begründung des Bundesverfassungsgerichts: Das Land Berlin ist unzuständig. Da Mietrecht Bundesrecht sei, müsse es auf Bundesebene geregelt werden. Wurde es aber nicht.

Wegner hat sich als sozialpolitisches Gewissen der Berliner CDU neu erfunden Doch was machte eigentlich der Bau - oder besser Mietenpolitiker Wegner in dieser Zeit? Der 50-Jährige stammt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen im Spandauer Ortsteil Hakenfelde, die Mutter war Verkäuferin, der Vater Eisenflechter auf dem Bau . Eines Tages musste die Familie umziehen, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten konnte. Er wisse, was diese Unsicherheit für die Betroffenen bedeute, die Angst vor dem sozialen Abstieg, sagte Wegner einmal im Gespräch mit der Berliner Zeitung.

Kritiker sagen, Wegner habe nichts getan gegen die Gier der Immobilienkonzerne, er habe alles geschehen lassen. Wegner wehrt sich, sagt, er habe versucht, das Schlimmste zu verhindern. Das glauben ihm nicht alle.

Selbst Berliner SPD-Chef Saleh staunt, was „mit dieser CDU“ möglich ist Und doch war es Wegner, der seine Partei im vorigen Herbst auf einen 180-Grad-Schwenk in der Mietenpolitik verpflichtete: funktionierender Mietenschutz, eine schärfer gestellte Mietpreisbremse, eine Ombudsstelle im Senat, bei der Verstöße gemeldet werden können. Vieles davon steht jetzt im Koalitionsvertrag. So viel, dass SPD-Mann Saleh während der Koalitionsverhandlungen immer wieder darauf hinwies, was alles „mit dieser CDU“ möglich sei.

Selbst die Vornamen-Kampagne im CDU-Wahlkampf nahm die SPD hin. Sie hört Wegner zu, wenn er sagt, dass der Wahlkampf am Wahlabend zu Ende gegangen sei. Jetzt gehe es darum, das Beste für die Stadt zu erreichen. Sagen beide Seiten. So steht es auch im Titel ihres Vertrages.

Der Sieg der Berliner CDU war vor allem ein Protest gegen den rot-grün-roten Senat Wegner erinnert noch einmal an das Wahlergebnis, wenn er sagt, dass viele Berliner kein Vertrauen mehr in Politik hätten. Er weiß, dass ein Teil der 28,2 Prozent für seine CDU Proteststimmen gegen die als chaotisch empfundene Vorgänger-Regierung waren. Er sei guten Mutes, dass man „durch gute gemeinsame Arbeit, Lösungen finden und umsetzen“ könne. Es gebe ein „gemeinsames Politikverständnis“ als Fundament. Es sei gut gewesen, dass man ganz am Ende 90 Minuten lang „auf persönlicher Ebene“ geredet habe.

Von der SPD gab es keinen Widerspruch. Raed Saleh lobte den Ansatz einer „Stadt für alle“. „Das war uns Sozialdemokraten wichtig“, sagte er, „und es war auch euch sehr wichtig“, sagte er mit Blick auf die Koalitionspartner in spe. Insbesondere das Kapitel „Vielfalt“, in dem nicht nur ein Queerbeauftragter angekündigt wird, sondern auch besonderes Augenmerk auf die Bekämpfung von Muslimfeindlichkeit gelegt wird, gehe über alles hinaus, worauf man sich mit Grünen und Linken geeinigt habe, so Saleh.

Giffey ergänzte, sie wolle „nicht noch einmal unnötig den Begriff der Augenhöhe bemühen“ – um es mit dem Halbsatz „aber es ist so“ dann doch zu tun.

CDU-Mann Wegner würde auch auf einem Grünen-Parteitag Beifall erhalten Dabei geht es um mehr. Als Wegner Berlins Vielfalt als „bunt, international, weltoffen“ beschrieb und die Stadt eine Heimstatt für jeden, „egal, woher er kommt, was er glaubt, wen er liebt“ nannte, hätte er dafür auch auf einem Grünen-Parteitag Applaus bekommen. Wenn er auch noch gegendert hätte.

Dazu hat er, wenn er will, jetzt dreieinhalb Jahre Zeit. Dann wird sich die Frage nach Schwarz-Grün vielleicht erneut stellen – und sei es, weil sich beide dadurch eine weitere Option erarbeiten würden.

Einen Anfang, so lesen es viele, hat die CDU mit diesem Koalitionsvertrag gemacht.

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