Ein neues Leitbild erobert die Welt der Immobilien: das Bauen im Bestand. Statt Gebäude abzureißen und die Grundstücke neu zu bebauen, sollten bestehende Immobilien ertüchtigt und umgenutzt werden. Ein genauerer Blick zeigt: Einfach ist das nicht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.04.2023 von Christian Hunziker

Es fällt schwer, den Überblick über all die Organisationen und Fachleute zu behalten, die sich in den vergangenen Monaten dafür ausgesprochen haben, dem Bauen im Bestand mehr Gewicht zu geben und den Neubau kritisch zu bewerten. Eine "neue Umbaukultur" und einen "Paradigmenwechsel im Bausektor " verlangt beispielsweise die Bundesstiftung Baukultur, während der Bund Deutscher Architektinnen und Architekten in einem offenen Brief an Bundesbauministerin Klara Geywitz für ein Abrissmoratorium plädiert.

"Wir müssen vor allem den Umbau und die Umnutzung bestehender Gebäude stärker in den Fokus rücken", fordert Dirk Messner, Präsident des Umweltbundesamtes. Und die Fondsgesellschaft Union Investment hat in zwei Studien das Potential sogenannter Transformationsimmobilien untersuchen lassen - mit dem Ergebnis, dass die Umnutzung bestehender Gebäude sowohl für die Erreichung der Klimaziele als auch aus Investmentperspektive "ein gewinnbringender Lösungsansatz" sei.

Abriss soll möglichst vermieden werden

In diesen Äußerungen zeigt sich in der Tat der von der Bundesstiftung Baukultur erwähnte Paradigmenwechsel. Denn lange Zeit gaben Projektentwickler und Planer der Entwicklung neuer Immobilien den Vorzug. Nicht wenige Gebäude mussten schon wenige Jahrzehnte nach ihrer Erbauung Neubauten weichen, und noch immer sind manche Bauträger in Großstädten darauf spezialisiert, schlichte Mehrfamilienhäuser aus der Nachkriegszeit abzureißen und durch hochwertige Neubauten zu ersetzen.

Das aber könne nicht die Lösung sein, findet Sarah Dungs, Erste Vorsitzende des Verbands für Bauen im Bestand, der im Februar 2023 von Vertretern der Immobilienbranche gegründet worden ist. " Bauen im Bestand sollte zum Standard werden und Neubau zur Ausnahme", sagt Dungs, die auch Geschäftsführerin der auf die Revitalisierung von Bestandsbauten spezialisierten Greyfield Group in Essen ist. Die Umnutzung vorhandener Gebäude bietet nach ihren Worten die Möglichkeit, graue Emissionen zu vermeiden und die vorhandene Bausubstanz sinnvoll zu nutzen. Zudem, ergänzen die Befürworter dieses Ansatzes, lasse sich auf diese Weise das von der Bundesregierung ausgerufene Ziel erreichen, täglich nicht mehr als 30 Hektar neue Siedlungs- und Verkehrsflächen in Anspruch zu nehmen.

Auch dunkle Räume in tiefen Gebäuden können genutzt werden

Dabei mangelt es nicht an Immobilien, für die eine neue Nutzung benötigt wird. Besonders im Blickpunkt stehen nach den jüngsten Schließungsbeschlüssen von Galeria Karstadt Kaufhof leer stehende Kaufhäuser. Hier gibt es bereits viele Beispiele für eine erfolgreiche Nachnutzung. Die Greyfield Group beispielsweise setzte im ehemaligen Kaufhaus Tietz in Duisburg-Hamborn einen Schwerpunkt auf das Thema Gesundheit: Die ehemaligen Einzelhandelsflächen nutzen jetzt unter anderem die AOK Rheinland/Hamburg und eine Schule für Pflegekräfte.

Ein oft genanntes Argument gegen eine solche Nutzungsänderung lässt Greyfield-Geschäftsführerin Dungs nicht gelten: "Eine große Gebäudetiefe verhindert eine Nachnutzung nicht." Beim ehemaligen Kaufhaus Tietz gebe es zwar dunkle Räume; dort könnten aber untergeordnete Räume etwa für Archiv, Umkleiden und Toiletten untergebracht werden. Grundsätzlich liege die Herausforderung darin, "die Wünsche der Mieter und die Vorstellungen der Architekten mit der vorhandenen Bausubstanz zusammenzubringen".

Zu gelingen scheint das auch beim ehemaligen Kaufhof in Worms, der 2020 den Betrieb einstellte. Während im einst als Verwaltungstrakt dienenden Gebäudeteil bereits seit Ende 2022 das Bürgerrathaus der Stadt seinen Sitz hat, will das Starnberger Unternehmen Ehret + Klein demnächst mit dem Umbau der ehemaligen Verkaufsflächen beginnen. Platz finden soll darin unter dem Projektnamen K32 eine Mischung aus Büros, Gastronomie, Einzelhandel und Bildungseinrichtungen. In einem neuen vierten Geschoss entstehen außerdem elf Wohnungen. "Auch wenn Abriss und Neubau oft kostengünstiger sind, entscheiden wir uns - wenn es die Bausubstanz wie in Worms zulässt - für eine Sanierung", sagt Marco Ulivieri, Projektleiter bei Ehret + Klein. "Auf diese Weise bauen wir ökologischer und tragen so ein Stück weit zur Klimaneutralität bei."

Abriss oder Bauen im Bestand - diese Frage stellt sich auch bei Wohnimmobilien. "Unter dem Aspekt der CO2-Einsparung ist es immer besser, ein Wohngebäude weiterzuentwickeln, als es abzureißen und durch einen Neubau zu ersetzen", sagt Marcus Kemmner, Leiter Investmentfonds bei der Wertgrund Immobilien AG. In einer Wohnanlage in Wedel hat Wertgrund deshalb die vorhandenen hundert Wohnungen durch zwanzig neue Dachgeschosswohnungen ergänzt; außerdem sind auf dem Grundstück siebzig Neubauwohnungen entstanden.

Neben dem Bemühen, dem Nachhaltigkeitsthema gerecht zu werden, spielen bei solchen Nachverdichtungsprojekten allerdings auch handfeste wirtschaftliche Gründe eine Rolle. Durch die gestiegenen Grundstückskosten sei die Nachverdichtung attraktiver geworden, erklärt Kemmner. Thomas Meyer, Vorstandsvorsitzender der Wertgrund Immobilien AG, weist zudem darauf hin, dass das Bauen im Bestand auch deshalb an Bedeutung gewinne, weil Neubau unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen zunehmend schwierig zu realisieren sei. Zudem lohne sich der Dachgeschossausbau, weil sich in den neuen Wohnungen höhere Mieten erzielen ließen als in den bestehenden Einheiten.

Aufstockung ist nicht immer günstiger als Neubau

Günstig ist die Schaffung von zusätzlichem Wohnraum unterm Dach allerdings nicht unbedingt. Die Kosten einer Aufstockung seien nur dann geringer als die eines Neubaus, wenn die Statik des Bestandsgebäudes nicht ertüchtigt werden müsse, sagt Meyer. Andernfalls kann es richtig teuer werden, wie die Erfahrungen der Howoge, eines landeseigenen Berliner Wohnungsunternehmens, zeigen: Bei einem Pilotprojekt, bei dem die Howoge Plattenbauten in Holzhybridbauweise aufstockte, überstiegen die Kosten diejenigen eines Neubaus deutlich.

Das gilt auch dann, wenn ein Gebäude eine neue Nutzung erhält. Umbau im Bestand sei immer teurer als Neubau, sagt jedenfalls Martin Koch, geschäftsführender Gesellschafter des Immobilienunternehmens Im Prinzip, das schon Kirchen, Kasernen und Fabrikhallen in Wohnhäuser verwandelt hat. Trotz der dabei gemachten positiven Erfahrungen lehnt Koch die pauschale Forderung ab, jeglichen Gebäudebestand zu erhalten. Als Beispiel nennt er Wohnsiedlungen aus den 1950er-Jahren mit großen Abstandsflächen. "In diesen Fällen ist der Baugrund ineffizient ausgenutzt", argumentiert Koch. "Da ist es nicht sinnvoll, diese Gebäude zu erhalten, wenn man auf dem Grundstück eigentlich viel mehr Wohnungen bauen könnte."

Doch auch Projektentwickler, die sich für die Weiterentwicklung des Bestands entscheiden, haben mit Hürden zu kämpfen, wie Jürgen Michael Schick vom Berliner Maklerhaus Michael Schick Immobilien beobachtet. Die Grundflächenzahl (GRZ) und die Geschossflächenzahl (GFZ) seien bei Bestandsbauten in der Regel ausgeschöpft, sodass die Behörden einer Überschreitung zustimmen müssten, sagt er. Und in Milieuschutzgebieten, von denen es in den Großstädten viele gibt, stehe der Dachgeschossausbau unter Genehmigungsvorbehalt, womit er "faktisch fast unmöglich" sei.

Schick fordert zudem "ein Umbaurecht, das mehr Flexibilität bei der Umnutzung von Nichtwohngebäuden bietet". Gewiss, es sei sinnvoll, durch Änderungen der Vorschriften das Bauen im Bestand zu erleichtern, erklärt dazu Sarah Dungs vom Verband für Bauen im Bestand. "Aber wir haben nicht die Zeit, auf die Anpassung der Normen zu warten. Wir müssen jetzt handeln, um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.

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