Kein Vorbild für die Verkehrswende: Die Berliner Friedrichstraße ist ein Boulevard der geplatzten Planer-Träume.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.04.2023 von Hans Stimman

In der Berliner Landespolitik geht es derzeit um viel. Drei Themen beschäftigen die Stadt besonders, wie sich im Wahlkampf und in den Koalitionsverhandlungen von CDU und SPD gezeigt hat. Erstens, angefacht durch die verstörenden Bilder von den Silvesterkrawallen, die Frage nach der Sicherheit im öffentlichen Raum, zweitens das altbekannte Thema der "Lösung der Wohnungsfrage" in der aktuellen Variante, ob sie durch Enteignung privater Wohnungsbaukonzerne möglich sei, und drittens die Debatte, wie die Verkehrswende zu gestalten ist.

Für Anschaulichkeit war insbesondere in der Frage der Verkehrswende gesorgt. Zur Bühne der Debatte wurde von der bisherigen Verkehrssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) ein 370 Meter langes Teilstück der historisch bedeutsamen, mehr als drei Kilometer langen Friedrichstraße ausgewählt, das sie für Autos sperren ließ. Dieser Abschnitt war und ist allerdings vor allem symbolisch bedeutsam, denn seit mehr als 60 Jahren gibt es hier keinen Durchgangsverkehr. Seit dem Umbau des verkehrsreichen Belle-Alliance-Platzes zur Fußgängerzone - nunmehr unter dem Namen Mehringplatz - und dem Bau der Mauer war die barocke Achse der Friedrichstadt eine Sackgasse.

Der nunmehr zur Fußgängerzone umgewidmete Straßenabschnitt zwischen Französischer und Leipziger Straße mit der programmatischen U-Bahn-Station "Stadtmitte" war in den vergangenen Jahrzehnten insofern weiterhin bedeutsam, als sich hier zuerst in Ost- und später im wiedervereinigten Berlin politische Absichten konkretisierten. So sollte mit der 1981 begonnenen Planung für das "Haus der sowjetischen Wissenschaft und Kultur" (heute Russisches Haus) und dem auf der anderen Straßenseite geplanten Bau einer sich über drei Blöcke erstreckenden Friedrichstadtpassage das Areal zum fußgängerfreundlichen Zentrum der Hauptstadt der DDR ausgebaut werden.

Nach dem Fall der Mauer wurde diese Planung mit dem Bau einer im Untergeschoss angelegten Shoppingmall durch private Investoren aufgegriffen. Das ehrgeizige Projekt fällt heute weniger durch seine Architektur auf als vielmehr durch Leerstand. Ausgerechnet diesen Abschnitt der Friedrichstraße zur Fußgängerzone fröhlicher Konsumenten zu erklären, die vor dem Russischen Haus einen Espresso genießen sollen, zeugt einerseits von historisch-politischer Inkompetenz, gäbe andererseits aber eine wunderbare Bühne ab für einen politischen Dialog über verwehte Hoffnungen.

Auf dem weiteren Spaziergang in Richtung Mehringplatz sieht man sich erneut mit Bildern höchster Symbolkraft und mit geplatzten Träumen von einer attraktiven autofreien Stadtlandschaft konfrontiert. Nach der Überquerung der Leipziger Straße nähert man sich dem Checkpoint Charlie. Der während des Kalten Krieges für Ausländer reservierte Kontrollpunkt zwischen dem sowjetischen und amerikanischen Sektor Berlins ist bis heute einer der belebtesten touristischen Orte der Stadt. Der Checkpoint wurde Ende 1961 kurz nach dem Bau der Mauer zum Brennpunkt des Kalten Krieges, als Grenzposten der DDR Angehörige der US Army kontrollieren wollten. Hier standen sich auf beiden Seiten der Mauer sowjetische und amerikanische Panzer gegenüber.

62 Jahre später herrscht hier der ganz normale Wahnsinn des Berliner Touristenrummels. Die Straße ist durch Reisegruppen und fliegende Händler blockiert, die sich um die nachgebaute Checkpoint-Attrappe tummeln. Hier ist nach dem Abbruch der Mauer in über drei Jahrzehnten ohne entsprechende Anordnung der Verkehrsverwaltung eine sich selbst organisierende Fußgängerzone entstanden. Über deren Gestaltung und Bebauung wurde seit dem Fall der Mauer zuerst im CDU/SPD-Senat mit der Planung für ein American-Business-Center und zuletzt im rot-grün-roten Senat heftig gestritten.

Der Senat hat das Areal 2015 zum Gebiet von außergewöhnlicher stadtpolitischer Bedeutung erklärt und damit den beteiligten Bezirken Mitte und Kreuzberg die Zuständigkeit entzogen. Seitdem verhandelt der Senat mit einem privaten Grundstückseigentümer über die Nutzung und Gestaltung des Areals, und zwar unter der Bedingung, dass dort ein städtisches Museum untergebracht wird, tausend Quadratmeter Bauland zur Anlage eines öffentlichen Platzes verwendet werden und außerdem denkmalgeschützte Brandwände erhalten bleiben. Geschehen ist seitdem nichts.

Immerhin hat der Senat im Jahr 2019 einen Bebauungsplan mit der Festsetzung eines "Startplatzes" und der Vorschrift zur Freihaltung von Brandwänden beschlossen, um damit die Spuren des Kalten Krieges zu erhalten. Die Gestaltung des "Startplatzes" soll in einem Wettbewerb ermittelt werden. Wie das Ergebnis aussehen könnte, zeigte der 2018 vom Investor und Senat ausgelobte Ideenwettbewerb, dessen Höhepunkt zweifelsohne der Vorschlag zum Bau eines Hochhauses auf Stelzen über die Kreuzung von Friedrich- und Zimmerstraße darstellte. Nach den Vorstellungen der Architekten könnte so der Verkehr weiter fließen und die verabredete Geschossflächenzahl eingehalten werden, auch die Brandwände blieben erhalten. Was wie Satire klingt, war in Berlin ernst gemeint.

So dürfte es nach dem jüngsten Versprechen aller Parteien, Neues zu wagen, eigentlich nicht weitergehen. Angesichts der Tatsache, dass der Checkpoint offiziell schon am 20. Juni 1990 aufgegeben wurde, steht der neue Senat nun vor der Herausforderung, mit der Berliner Praxis, die touristisch attraktive Anarchie einfach fortzusetzen, endlich zu brechen. Wer an die militärische Konfrontation von 1961 mit einem Gedenkort am ehemaligen Checkpoint Charlie erinnern will, sollte einen Wettbewerb unter Künstlern ausloben - nicht zur Bebauung , sondern zur Gestaltung sämtlicher unbebauter Flächen. Eine solche Vorgehensweise erfordert aber eine Aufhebung des 2019 von Rot-Grün-Rot beschlossenen B-Plans und die Überführung der Grundstücke in öffentliches Eigentum. Ausreichend Stoff also für einen Neuanfang.

Vom Checkpoint aus geht es die Friedrichstraße weiter in Richtung Mehringplatz und damit zur Besichtigung des Höhepunkts politischer Inszenierungen von Fußgängerzonen. Der nach 1732 zusammen mit dem Pariser und Leipziger Platz als Rondell entstandene Platz war bis zum Bau der Mauer der wichtigste Eingangsplatz Richtung Stadtzentrum. Als Belle-Alliance-Platz funktionierte er seit 1815 mit seinen drei auf den Platz zulaufenden Straßen als Ausgangs- und Endpunkt des Stadtzentrums.

Nach Kriegsende 1945 gab es zwar in der Friedrichstadt kaum ein unbeschädigtes Haus, aber die Vielfalt der Grundstücke und vor allem der markante Stadtgrundriss existierten weiter. In der durch die Siegermächte besetzten und in Sektoren aufgeteilten Stadt begann aber nicht, wie bis heute kolportiert, so etwas wie der Wiederaufbau der zerstörten Häuser, sondern es kam zu einer hektischen Suche nach der richtigen Form für eine "Stadt von morgen", in der möglichst nichts mehr an die historische Stadt erinnern sollte. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren wurde so die "mechanisch aufgelockerte" (Scharoun) Friedrichstadt zum Spielfeld kontroverser und utopischer Stadtvorstellungen, deren Radikalität zuerst in den Bauten der Stalinallee (Ost) und des Hansaviertels (West) konkret sichtbar wurde. Ausgeklammert blieb zunächst das Zentrum der Stadt, erst Ende 1957 wurde mit dem Hauptstadtwettbewerb die Suche nach einer Lösung auch für die Innenstadt begonnen.

Um sich die Radikalität der Suche nach der "Stadt von morgen" zu verdeutlichen, genügt ein Blick auf die Ereignisse des von der Bundesregierung und dem West- Berliner Senat durchgeführten städtebaulichen Ideenwettbewerbs. Die teilnehmenden Architekten, zu denen auch Le Corbusier und Scharoun gehörten, übertrafen sich in ihrer Radikalität der städtebaulichen Muster. Sie kannten war Fixpunkte, an die sie sich hielten, der überlieferte Stadtgrundriss gehörte aber nicht dazu. Stattdessen wurde ein Stadtautobahnnetz vorgeschlagen, dessen vier Tangenten den Autoverkehr aus der Innenstadt fernhalten sollten.

Wichtig für die bis heute sichtbare Entwicklung im Bereich des Mehringplatzes war die Lage der Südtangente, die den südlichen Teil der Friedrichstadt von der übrigen Innenstadt abschnitt. Der Entwurf von Scharoun erhielt einen der zweiten Preise. Er war der einzige Architekt, der das Rondell des Mehringplatzes - wenn auch nur in der Form eines Ornaments - als Teil seiner Stadtlandschaft zitierte. Damit schuf er die Grundlage für die heutige Form und Funktion des Mehringplatzes als verkehrsberuhigten Innenhofs hinter einer bis zu zwanziggeschossigen Großsiedlungskulisse. Zu seinem Entwurf gehörte aber nicht nur das Zitat der zum Halleschen Tor geschlossenen Platzfigur, vielmehr wurde der gesamte Stadtgrundriss der Dorotheen- und der Friedrichstadt ausgelöscht. Die Friedrichstraße wurde dabei mit Unterbrechungen auf Höhe der Leipziger Straße und der Straße Unter den Linden zu einer den Fußgängern vorbehaltenen Parklandschaft. Die geplanten Wirtschafts-, Kultur- und Regierungsbauten sollten unterirdisch erschlossen werden.

Scharoun zeichnete also schon 1958 seine Utopie einer autofreien Innenstadt als grüner Stadtlandschaft, wie sie radikalen Grünen von heute wieder vorschwebt.

War der Hauptstadt- Berlin -Wettbewerb noch der Versuch einer utopischen Neuplanung der gesamten Innenstadt, konzentrierten sich nach dem Amtsantritt von Willy Brandt im Jahr 1957 und dem Bau der Mauer vier Jahre später die Planungen West- Berlins auf die Gestaltung der südlichen Friedrichstadt. Die heutige Form des Mehringplatzes mit seiner introvertierten doppelten Ringbebauung und einer im Vergleich zum historischen Platz verkleinerten Grünfläche ist das Ergebnis eines 1962 durchgeführten Gutachterverfahrens. Es galt dabei die Bedingung, das im West- Berliner Baunutzungs - und Flächennutzungsplan von 1965 vorgegebene Tangentennetz zu beachten. Dieses Netz war auf Gesamtberlin ausgerichtet (Süd-, Ost- und Westtangente), auch die neue Verkehrsführung der Wilhelm- und Luisenstraße war darauf ausgerichtet.

Als Ergebnis des Verfahrens wurde von der Senatsverwaltung der Entwurf von Scharoun als Grundlage für die Bebauung ausgewählt. Die Realisierung erfolgte als Projekt mit 1550 Wohneinheiten für die gewerkschaftseigene Neue Heimat und für den Immobilieninvestor Heinz Mosch durch Senatsbaudirektor Werner Düttmann. Hans Scharoun entwarf das Bürohochhaus für die AOK. 1976 wurde die Bebauung als Musterbeispiel für Städtebau - und Wohnungspolitik der regierenden SPD mit einem großen Fest eingeweiht.

1976 war allerdings auch das Jahr, in dem die Planung der Stadtautobahn für die Südtangente aufgegeben wurde. Die verkehrslärmschützende Hochhausbebauung und das zum Konzept gehörende Parkhaus blieben als Erinnerung an die Stadtlandschaftsutopie ebenso wie die auf die Stadtautobahnplanung ausgerichtete Straßenführung erhalten. Auf der ehemaligen Stadtautobahntrasse wurden der Theodor-Wolff-Park und eine Erschließungsstraße (Franz-Klühs-Straße) angelegt.

Der mehrfache Eigentümerwechsel hat die Gestaltung und verkehrliche Erschließung einschließlich der zum Halleschen Tor geschlossenen Torfigur genauso wenig verändert wie der Versuch der IBA von 1984/1987 zur Kritischen Rekonstruktion des Stadtgrundrisses. Folgenlos blieben auch ähnliche Senatsplanungen nach dem Fall der Mauer. Die seit 2021 ins Eigentum der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft gelangte Wohnanlage mit dem geschlossenen Hof und der teilweise aufgeständerten Bebauung ist ein Dokument der von Scharoun und Düttmann propagierten und vom West- Berliner Senat unterstützten Idee einer nur durch "Parkways" unterbrochenen Stadtlandschaft.

In dieser Form, sozusagen als Mutter der Fußgängerzonen und als Dokument gescheiterter Vorstellungen zum Leben in einer vergangenheitsfreien Stadtlandschaft, wurde der Mehringplatz 2011 zum Sanierungsgebiet und erhielt 2014 den Denkmalstatus. Danach wurde der Platz neu gestaltet und im Mai 2022 wieder eingeweiht. Zu besichtigen ist hier ein Abgesang auf den Stadtgrundriss und den Platz mit seinen Straßen als Eingang zum Zentrum einer Großstadt. Ein Trauerspiel.

Hans Stimmann war von 1991 bis 1996 und von 1999 bis 2006 Senatsbaudirektor in Berlin .

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