1987 wurde mitten im Ostteil Berlins das Nikolaiviertel im Geist der DDR neu erschaffen. Ergebnis: eine schaurige Kulisse.
Morgenpost online vom 15.05.2023

Die Geister der Architekturkritik und der Architekturhistoriker schieden sich in ihrer Beurteilung des wiederaufgebauten Nikolaiviertels in Ost- Berlin. Als sich dessen Gestalt in den frühen 1980er-Jahren abzeichnete, war von „Schwanengesang der DDR-Architektur“ die Rede, von einer „Mischung aus Las Vegas und Weihnachtsmarkt“, „Disneyland“, aber auch von einem „detailgetreuen“ Abbild des alten, ausgebombten Kiezes, „liebevoll rekonstruiert“, „schnuckelig“.

Das Nikolaiviertel , benannt nach seiner gotischen Kirche, dem ältesten Sakralbau in der Innenstadt , war nicht irgendein Kiez. Zwischen Spree und Rotem Rathaus gelegen befand sich genau dort die Keimzelle, aus der vor knapp 800 Jahren die heutige Viermillionenstadt in den märkischen Sand und Sumpf hineinwuchs. Rechtzeitig zum 750. Geburtstag der Stadt, 1987 in Ost und West gefeiert, sollte dieser dafür so symbolträchtige Stadtkern im alten Glanz erstrahlen – so war es jedenfalls gedacht.

Günter Stahn hatte 1979 den städtebaulichen Wettbewerb für den Wiederaufbau gewonnen, als „Chefarchitekt“ der Stadt (im Westen hieß das Senatsbaudirektor). Er war sich der Würde der Aufgabe bewusst. Als der „Spiegel“ 1986 mit ihm sprach, sagte er: „Steine muss man mit Verantwortungsgefühl anfassen.“ Etwas später allerdings hieß es, „die Platte ist nun mal der Stein unserer Zeit“. Und so sollte das Ganze in einer „ baukünstlerisch beherrschten“ industriellen Bauweise entstehen. Stein auf Stein, Sinnbild traditionellen Bauhandwerks , bedeutete hier also Platte auf Platte. Man kannte nichts anders mehr. Ergebnis: eine Mittelalter-Kulisse aus Sichtbeton-Fertigteilen. Es fehlten nur noch Butzenscheiben in den Platten-Öffnungen, wohl mangels Devisen.

Der „Spiegel“ fragte bei Stahn damals nicht groß nach. Es schickte sich nicht, nicht vor dem großen Stadt-Geburtstag, vor dem die West- Berliner Politik unter Richard von Weizsäcker auf den Ost- Berliner Magistrat zugehen wollte, und die Medien nicht mit kultureller Besserwisserei in die Gesamtberliner Suppe spucken wollten. Dabei hätte es von Anfang an Grund genug für fundamentale Distanz gegeben, ja, auch für jene Häme, die dem damaligen Spiegel so eigen war. Direkte, auch scharfe Kritik kam in den Jahren nach der Fertigstellung eher aus dem Osten selbst, in einer Zeit, als dort sowieso immer mehr Bürger den Mund aufmachten.

Wenn die Rekonstruktionen Reminiszenzen an irgendwas Altes bieten, so sind es lediglich die äußeren Umrisse. Im Grunde beschränkt es sich auf die Giebelbauweise, die Treppengiebel. Und die Arkaden, die Laubengänge. Beides allerdings gab es nicht im alten ausgebombten Viertel, das auch alles andere als einheitliche Fassaden oder Traufhöhen aufwies. Mehr als eine symbolische, grobschlächtige Anlehnung ganz allgemein an ein Allerwelts-„Damals“ ist bei der Auferstehung aus Ruinen nicht herausgekommen. Kulissen eben, aus „Platte“, aus Beton. Die Fenster, das Äußere stets stark bestimmend, waren preiswert im Design von DDR-Eigenheimen. Doch bis heute hält sich die Kritik in Grenzen. Architekturhistoriker und der Denkmalschutz hegen andere Präferenzen.

Die ursprüngliche, spätmittelalterliche Siedlung an der Stelle war eng angelehnt an die Mühlendammbrücke , die spätestens ab dem 13. Jahrhundert zwei Städte miteinander verband: Das westliche Cölln auf der Spreeinsel sowie das östliche Berlin , das heutige Nikolaiviertel am Hauptarm des Flusses gegenüberliegend. Wann dort der erste Grundstein gelegt wurde, weiß niemand. Noch im 13. Jahrhundert wich die alte Nikolaikirche einer größeren Hallenkirche.

Als dann die Doppelstadt in der Neuzeit sich immer mehr ausdehnte, zu einer der bedeutendsten europäischen Hauptstädte avancierte, blieb im Zentrum an diesem Ort kein mittelalterlicher Stein auf dem anderen. Geschäftsgebäude kamen auf, wie das zuletzt sechsstöckige Kaufhaus Nathan Israel (gegründet 1815), das älteste und größte Berlins an der Kreuzung Rathaus- und Spandauer Straße. Auch andere repräsentative Paläste aus dem 18. Jahrhundert wie das Ephraim-Palais oder das Knoblauch-Haus beherrschten da längst das Bild des alten Zentrums, wobei viele ältere Gebäude in jämmerlichem Zustand waren, Baufälligkeit allerorten. Am Ende, vor den Bombennächten, war es eine Mischung von Häusern aus vielen Epochen zwischen Barock und Gründerzeit, in unterschiedlichster Stabilität, Pracht und Größe, fast alle traufseitig zur Straße ausgerichtet. Eine Dominanz der Giebel wie heute angedeutet, eher ja von süddeutsch-katholischer Provenienz, gab es nicht.

Die Rekonstruktion des Nikolaiviertels, so wie sie jetzt dasteht, hätte mithin überall im erweiterten Mitteleuropa stattfinden können. Mit „Alt- Berlin “ hat sie nichts zu tun. Sehr wohl aber mit der DDR und ihrer Architektur, insbesondere in ihren letzten Jahren. Und das ist es, was die Architekturkritik veranlasste, so schonend oder lobend mit ihr umzugehen. Sie stand für eine Art Zeitenwende, manche sagen: hin zur „Postmoderne der DDR“.

Nach dem Untergang im Krieg wollte die Ost- Berliner Stadtplanung das Areal auch noch buchstäblich versenken, in ein Hafenbecken verwandeln, als Heimat für die Ausflugsdampfer der „Weißen Flotte“. Dies gleich neben dem geplanten Regierungshochhaus, einem Wolkenkratzer im Zuckerbäckerstil. Aus beidem wurde nichts. Man konzentrierte sich lieber auf den Wohnungsbau auf der grünen Wiese, sprengte in der Innenstadt alles in die Luft, erst das Schloss, dann die letzten noch stehenden Häuser im Nikolaiviertel und seinen Nachbarkiezen. Bis weit in die 1970er-Jahre herrschte danach im alten Stadtzentrum gähnende Leere, von Horizont zu Horizont. Auf dem Marx-Engels-Forum und angrenzenden Asphaltwüsten hätten alle Bataillone der Volksarmee aufmarschieren können – bis 1976 der Palast der Republik in der Mitte stand und neue Valuta-Hotels hinterm Dom in der Karl-Liebknecht-Straße entstanden.

Nikolaiviertel: 800 Wohnungen für 2000 Menschen

Erst gegen ihr Ende hin wurde auch in der DDR die Abwendung von Kahlschlagsanierung und allzu anonymen Wohnkästen salonfähig, diese Wende konnte sich im Osten allerdings nur bedingt durchsetzen. Auch, weil es keine Architektur mehr gab, wie auf einem Berliner „Fachkongress“ im April 1990 die meisten Redner konstatierten. „Die Bürger halten uns doch gar nicht für existent“, klagte dort ein Architekt. Nur noch eine Maschinerie gab es, bis auf wenige repräsentative Bauten nur noch Hochhaus-Fertigware von der Stange, deren Abkürzungen jedes Kind von Kap Arkona bis Zittau jedes Kind kannte. Jetzt aber, zu Beginn der 1980er-Jahre, fand wieder individueller Hausbau statt, erstmal im Nikolaiviertel. 800 Wohnungen für 2000 Menschen.

„Das Nikolaiviertel zeigt, was versucht worden ist“, meint Christoph Rauhut, Architekturhistoriker und Landeskonservator von Berlin , es sei deshalb „denkmalpflegerisch ein Glücksfall“. Er sagte dies bei einer fast zweistündigen, kompetent besetzten Podiumsdiskussion mit Filmeinspielungen über das Nikolaiviertel in der Urania 2021, bei Youtube im Netz anzuschauen. „Aus der Perspektive einer halbwegs abstrakten Architekturgeschichte ist das ein ganz herausragendes Projekt“, steuerte der Fachkritiker Nikolaus Bernau bei, „schnuckelig, wie man sich so’ne Altstadt eben vorstellt seit dem 19. Jahrhundert“. Florian Urban, Professor für Architekturgeschichte in Glasgow“ sieht darin ein „authentisches Denkmal der 80er-Jahre in der DDR“. Immerhin, Christine Edmaier, 2021 Präsidentin der Architektenkammer Berlin , die in den 80er Jahren an der Hochschule der Künste studierte, konnte sich erinnern: „Wir fanden es damals, als es gebaut wurde, unbeholfen und kitschig“, will dies heute aber nicht mehr gelten lassen.

Ganz wurde bei der Veranstaltung nicht klar, ob man das Viertel wegen seiner dokumentarischen Authentizität oder wegen seiner Ästhetik schätzt. Das Nikolaiviertel bleibt in der Architekturkritik positiv besetzt, jedenfalls in der westlich sozialisierten Fachwelt. Mit jener „Mischung aus Las Vegas und Weihnachtsmarkt“ wurde an dem Abend der frühere Ost- Berliner Architekturkritiker Bruno Flierl zitiert.

Ein Gang durch das Nikolaiviertel mit seinen Kneipen und Läden, heute hauptsächlich von Touristen getätigt, entbehrt durchaus nicht einer gewissen Heimeligkeit. Allerdings nicht wegen, sondern eher trotz seiner Architektur. Man sollte seine Blicke nicht allzu weit über die Erdgeschosse erheben.

Die Berliner Morgenpost im Internet: www.morgenpost.de