Heute erinnert nur noch wenig an das prachtvolle Villenquartier. Es bot Platz für die 500 schönsten Wohnhäuser Berlins.
Morgenpost online vom 15.05.2023

Berlin platzte aus allen Nähten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Seit Napoleons Soldaten verschwunden waren, boomte die Stadt, hatte sich die Bevölkerung verdreifacht. Vor allem für das Gewerbe, die frühe Industrie, wurde es eng. Wohin mit Mensch und Maschine? Schon begann die Besiedlung entlang der großen Chausseen jenseits der Tore, natürlich auch an der Potsdamer Chaussee in Richtung Schöneberg. Mietshäuser entstanden dort, aber auch Fabrikbesitzer hatten ein Auge auf die Gegend geworfen. Dies vor allem, weil der Landwehrkanal, in den 1840er-Jahren schiffbar ausgebaut, eine verlockende Wasserstraße für den Transport von schweren Gütern bot.

Tiergartenviertel: Ängste vor Gentrifizierung gab es keine

Es war Peter Josef Lenné , der das Kanal-Projekt konzipiert hatte. Längst war er aus seinen früheren Aufgaben als Garten- und Landschaftsarchitekt hinausgewachsen. König Friedrich Wilhelm IV. schätzte ihn so sehr, dass er ihn 1840 zum Leiter der gesamten Stadtplanung Berlins berief. Eigentlich hatte Lenné – die Berliner sprachen schon vom „Buddelpeter“ – den Kanal graben lassen zur Entlastung der Spree, auf der sich die Transportschiffe stauten, viele Stunden, oft Tage. Noch konnte die junge Eisenbahn hierbei wenig helfen. Auch zur Entwässerung des neuen Baugrunds sollte der Kanal beitragen. Dass er auch produzierendes Gewerbe westlich der alten Stadtmauer anlockte, wurde nun erst so richtig klar. Aber wollte man das? Was würde dies für das Gebiet südlich des Tiergartens bedeuten?

Ein Gutachten musste her, der König bestellte eines, natürlich bei seinem Mann für alle Planungen , Lenné. Und der schrieb 1853: „Die Vermehrung der Fabrikanlagen aber in der Umgebung des Thiergartens, und die unmittelbaren weiteren Folgen der Entwerthung und Verdrängung einer seiner wesentlichsten Zierden, der Villen an ihm entlang, ist ein Umstand, der den Intentionen des hochseligen und jetzigen Königs Majestät geradezu entgegenlaufen muß, da bei der Einrichtung des Thiergartens das Augenmerk nicht lediglich auf die Ausschmückung als Erholungsort, sondern ebenso auf Hervorrufung von Villen mit entsprechenden Vorgärten, ein Bedürfnis für einen Theil der bemittelten Bewohner der Hauptstadt (wie die Badeanstalten für die ärmere Volksklasse) gerichtet war.“

Befürchtungen vor „Gentrifizierung“ trieben Lenné und seinen König nicht um, und die Ärmeren sollten ja ihre Badeanstalten bekommen. Die 1848er-Unruhen waren passé. Und jetzt, da der schiffbare Landwehrgraben „vortheilhafte Gelegenheit zur Anlage von Fabriken jeder Art darbietet“, so schreibt Lenné, sei die „Wahrung jener allerhöchsten Absichten“ zugunsten der „Bemittelten“ in Gefahr, und deshalb „ist es an der Zeit, diesem Nachtheil ein für alle Mal vorzubeugen“.

Keine Schlote im Tiergarten! Es war eine der weitreichendsten Einflussnahmen des großen Gartenarchitekten auf das Stadtbild Berlins . Lenné und der König folgten mit dieser Richtungsentscheidung einem Muster, das in allen Großstädten Mittel-, Nord- und Westeuropas zu beobachten ist, in denen erheblich häufiger West- als Ostwetterlagen herrschen. Um die Stadtbewohner vor Schornsteinrauch zu schützen, werden die Fabriken möglichst im Osten angesiedelt, was die Grundstückspreise für Wohnhäuser im Westen in die Höhe treibt und die Milieus entsprechend sortiert. England, Mutterland der Industrie, hatte die Devise vorgegeben: West End reich, East End arm.

Eine für Berlin beispiellose Pracht entstand

Kein Zufall also, dass die heute bekanntesten Villenvororte Berlins weit im Westen liegen, Wannsee, Grunewald, Dahlem, „Jottwede“ also. Doch angefangen mit der Feine-Leute-Gegend hatte es damals, Mitte des 19. Jahrhunderts, woanders, mitten im – heutigen – Zentrum, zwischen der City Ost und der City West. Hier entstand eine für Berlin beispiellose Pracht, die allerdings – ebenso beispiellos für die Stadt – teils bereits vor dem Krieg, dann aber besonders in dessen Bombennächten nahezu spurlos verschwand. Nur einzelne Relikte, wie etwa das Stammhaus des Café Einstein in der Kurfürstenstraße, vermitteln eine Ahnung von ihr.

Friedrichsvorstadt hieß das Areal zwischen dem Tiergarten im Norden und dem Landwehrkanal im Süden, das 1841 aus der Charlottenburger Gemarkung heraus in die aufstrebende Stadt eingemeindet wurde. Die Berliner hatten da bereits Besitz von der Gegend ergriffen. Das einstige Ackerland wandelte sich, als die Städter das Land für ihre Freizeit entdeckten. Hinaus ging es ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem nach Westen. Das Rokoko-Zeitalter ließ den Adel exotische Accessoires und Fernweh entdecken, der gemeine, wohlsituierte Berliner kam wenigstens bis „in’t Jrüne“, den Tiergarten.

Tiergartenviertel: Die Vorliebe für den eigenen Garten kam auf

Später, als in der Biedermeierzeit das Familienleben entdeckt wurde, kamen die ersten Gartenwirtschaften für den gemeinsamen Ausflug auf, beim Hofjäger, am Albrechtshof. Gemüsebauern begannen, Sommerwohnungen zu vermieten. Das veranlasste die Begüterten, und es wurden immer mehr, ein Grundstück zu erstehen und sich selbst eine zu bauen . Das Umland lockte zur Stadtflucht. Ab der Eingemeindung der Friedrichsvorstadt merkte das Großbürgertum: Die Innenstadt war von der Tiergartenstraße in wenigen Minuten zu erreichen, warum also nicht ganzjährig dort wohnen? Die Vorliebe für den eigenen Garten kam auf. In früheren Jahrzehnten hatte das herrschende Motto noch gelautet: Je zentraler der Wohnort, desto höher das Ansehen. Das war vorbei.

Es setzte eine bis dahin unbekannte Bodenspekulation ein, und wohl dem, der nun über „Insiderwissen“ verfügte darüber, wo neue Baugenehmigungen erteilt würden. Wie etwa der preußische Handelsminister, der sich am Landwehrkanal ein Filetgrundstück sichern und eine der ersten jener Prachtvillen bauen ließ – heute eine der wenigen, die noch stehen. Oder der Architekt Friedrich Hitzig , der für den Magistrat die Bebauungspläne ausarbeitete, dabei selbst mit Grundstücken handelte und auf eigene Rechnung baute . Allein in den 1860er-Jahren verhundertfachte sich der Quadratrutenpreis.

Miethäuser von einmaliger Großzügigkeit wurden gebaut

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren nach und nach alle Straßen des südlichen Tiergarten – auch über den Landwehrkanal hinaus – mit den 500 prächtigsten Wohnhäusern der ganzen Stadt vollgestellt, großenteils Villen, aber auch Mietshäuser von beispielloser Großzügigkeit. Um die Mitte des Jahrhunderts noch im Neoklassizismus, vielfach von Hitzig errichtet, später dann Neorenaissance, wie etwa am Südrand des Viertels die Villa mit dem heutigen Café Einstein , die sich der Kreuzberger Nähmaschinen-Fabrikant Gustav Roßmann bauen ließ. Der italienische Baumeister Andrea Palladio aus dem 16. Jahrhundert und seine Villen in Vicenza waren bei allen Entwürfen im Gespräch.

Die Grundrisse waren eher schlossartig angelegt. Flure gab es kaum, „jedoch wurde darauf geachtet, dass ein ungestörter Zugang für die Dienerschaft von den Wirtschaftsräumen zu den Repräsentationsräumen und dem Eingang bestand“, weiß Hartwig Schmidt in seinem voluminösen Buch „Das Tiergartenviertel. Baugeschichte eines Berliner Villenviertels“ zu berichten – wie es ja heute auch jeder im Café Einstein nachvollziehen kann. „Die Verbindung zum Garten schufen weite Fensteröffnungen, Erker, Altane, Loggien und Freisitze, doch war ein direkter, ebenerdiger Zugang zum Garten nicht mehr möglich wegen der meist sehr hohen Souterrains.“

Am Ende kamen die Botschaften ins Tiergartenviertel

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte das Ausland die Region, lernte ihre Abgeschiedenheit vom städtischen Trubel zu schätzen, machte aus ihr das „Botschaftsviertel“ . Die ersten waren die Chinesen, die 1878 in die Villa von der Heydt einzogen.

Es fällt heute, da von all dem so gut wie nichts mehr steht, schwer, sich diesen Luxus vorzustellen. Demjenigen zumal, der sich noch an die über weite Strecken leere Wüste westlich des Potsdamer Platzes vor der Wende erinnert, mit verbreitetem Straßenstrich. Die spätere Bebauung mit den Kästen der heutigen Botschaften macht die Erinnerung nicht leichter. Schon die Nazis begannen nach 1938 mit der Zerstörung, um Platz für Albert Speers „Germania“-Pläne zu schaffen, abgesehen davon, dass sie alle Villen in jüdischem Besitz „arisierten“. Im zweiten Weltkrieg dann, der Führerbunker war nicht weit, auch hatten sich NS-Behörden im Tiergarten breit gemacht, ließen die Bombenangriffe so gut wie keinen Stein mehr auf dem anderen.

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